Der iranische Freund der Freundin wird nun, nach zwei Jahren in der Asylbewerberunterkunft, einer verhinderten Abschiebung und endlosem zähen Ringen mitsamt eingeschalteter und privat gezahlter Anwältin vorerst in Deutschland bleiben dürfen und voraussichtlich eine Ausbildung beginnen. Ich will an der Stelle noch mal erwähnen, dass der Mann aufgrund der Teilnahme an politischen Demonstrationen im Iran akut gefährdet ist, daneben ein abgeschlossenes Studium, Berufserfahrung in Deutschland und Sprachkenntnisse auf C1 Niveau hat. Dass Unternehmen immer wieder bei den zuständigen Instanzen angefragt haben: Was müssen wir tun, damit er bleiben kann?

Menschen, die Anrecht auf Schutz, aber keine Freunde haben, die das Stundenäquivalent eines Teilzeitjobs investieren, um ihr Bleiberecht durchzusetzen, haben in diesem System keine guten Karten.

Anfang der Woche wippt der lila Sommerflieder schwer an den grünen Zweigen, ich schneide ein paar davon in die Vase, wo er seinen dunklen süßen Duft verströmt, auch nachts, wenn ich kurz wach werde. Es wird warm, es ist schwül, in der Institution stehen die Fenster auf Durchzug, die Jalousien sind runter gelassen, in den Besprechungen wird gefächert, alle verfügbaren Ventilatoren wurden aus dem Schrank gezerrt und befinden sich im Einsatz. Die Hitze, die Abwesenheit von frischer Luft, ein großes Thema hier in der Abteilung. Ein Thema, das fast zu Streitigkeiten führt, falls jemand vergessen sollte, rechtzeitig (!) zu verdunkeln. Was viel heißt in diesem Reich der Besonnenheit, wo so gut wie nie jemand eskaliert und allen ein lösungsorientiertes Miteinander wichtig ist. Auch mich macht die Wärme müde, ich kann die Müdigkeit aber irgendwie annehmen.

Kurz vor Feierabend eine so oder ähnlich in vermutlich jedem Bürokomplex dieser Welt täglich durchgespielte Performance: PC runterfahren, einpacken, verabschieden, Tasse in die Küche stellen, gehen, kurz darauf wiederkommen und auf das verwunderte Aufschauen der Kolleg*innen antworten mit:

Jacke vergessen.
Schirm.
Laptop da gelassen.
Handy.
Schlüssel!

Triumph, wenn es einem aufgefallen ist, ehe man das Gebäude verlassen hat, Anerkennungssieg, vor dem Einsteigen in die U-Bahn, Niederlage, wenn schon zu Hause gewesen.

An einem losen und sonnigen Freitag sitze ich mit zwei Freundinnen an einem Tischchen auf der Donnersbergerstraße, trinke Kaffee, freue mich am Zusammensein und wittere so vor mich hin. Ich hab jetzt eine neue Falte auf der Stirn, die nicht mehr weg geht. Auch nicht, wenn ich entspanne, auch nicht mit Massagen. Älter werden in guter Gesellschaft an einem Freitag bei 26 Grad. Was will man mehr. Später schlendere ich durch das ehemalige Zuhause-Viertel. Fast zwanzig Jahre hab ich hier gewohnt. WG, erste Wohnung, zweite Wohnung, immer Altbau, immer mittendrin, Frühling, Sommer, Herbst, Winter zwischen diesen Häuserzügen. Die noch bezahlbaren Genossenschaftsblöcke in Nachbarschaft zu den nicht zerbombten Villen, Hortensien in Gärten hinter schmiedeeisernen Toren, Hubschrauber, Sirenen, der irre Verkehr, die ruhige Ateliersiedlung, Außengastronomie in allen Preisklassen und Lautstärken, der Melonenmann und in der Nacht rot glühende Neonbuchstaben auf dem Dach des Krankenhauses: Schwesternschule.

Schwestern, Brüder, Freunde, Schule. Genau so ist es. Lernen wie Verbindung geht. Jeden Tag.

Später nehme ich an einer Fortbildung teil. An den U-Bahnstationen entlang der Leopoldstraße steigen an dem Abend viele erhitzte, halb verweinte, angetrunkene Zuschauer des Viertelfinales zu. Bei manchen der jungen Frauen frage ich mich, ob sie bereits operiert sind oder in Tutorials gelernt haben, Lippen voluminöser, Nasen dünner zu schminken, Konturen zu legen, eine Skulptur. Die Mädchen, die im Gang eng an meine Kollegin und mich gepresst stehen, erkundigen sich bei uns nach einer Bar in der Gegend. Die Kollegin gibt bereitwillig Auskunft, rät davon ab am Odeonsplatz auszusteigen und schickt sie weiter Richtung Schellingstraße. Eines der Mädchen bedankt sich höflich, macht Konversation, duzt und siezt uns abwechselnd, berichtet davon, lieber Stiefel als Highheels zu tragen, obwohl hohe Schuhe besser passen würden zum Kleid und deutet dabei auf ihr langes pinkes Kleid.

An der nächsten Haltestelle verabschiedet sich der Trupp. Ich empfinde Zärtlichkeit. Oder etwas, das ich empfinde, wenn ich ein Herde Fohlen gesehen hätte. Fohlen, die sich fein angezogen haben. Der Geruch des dm - Erdbeerparfüms hängt noch eine Weile im Waggon nach.

Eine Woche darauf sitze ich im Auto und fahre Landstraße, vorbei an alten Höfen, alten Gasthäusern, in Rottenbuch sehe ich die schönste Blühwiese dieses Sommers, Mohn in 4 Farben, Kornblumen und weißflockiges Mädesüß. Die Hügel auf und ab Richtung Füssen - romantisch felsige Bergzacken, das Versprechen des Königs, seine Schlösser - ich hüte mich und fahre nicht näher ran. Ab einem gewissen Näherungsgrad ist es in Füssen vorbei mit der Romantik und es geht nur noch um den Verkauf von Wurst. Auf den Höhen und in den Tälern des Allgäus dagegen ist es still. Und nass, wie jeden Tag in diesem Sommer. Es dampft und feuchtet warm aus dem Waldboden, konstant aufsteigender Dampf, in dem Vogelstimmen sprechen. Ich halte an, steige aus und schaue in Moos, Farn und Nadelbäume.

Zwei Stunden später, ich habe ein Zimmer in den Bergen bezogen und mich auf dem Festivalgelände umgeschaut, stehe ich unter einer Gruppe junger Birken, Licht fällt durch das Blattwerk und zittert auf den Gesichtern der anderen. Es ist mild, es regnet nicht, man schaut sich verwundert an und um: stehen wir hier wirklich unter Birken im Abendlicht? Später in der Nacht in einem überdachten Raum bastelt die Frau am DJ Pult in den Elektroteppich die Ode an die Freude hinein, Beethoven, allerdings reduziert auf eine simple Soundspur, ohne Text und ohne Anspruch.

alle Menschen werden Brüder

Ich bin so weich, wund und schorf von dem, was in den letzten Wochen in den Nachrichten, in mir und meinem Umfeld gelaufen ist, dass ich mich nicht schäme zu der Melodie dieser uralten Hoffnung hemmungslos zu heulen

seid umschlungen Millionen,
diesen Kuss der ganzen Welt

Eine Weile später liege ich am Boden und lausche einem Track, der aus nichts anderem besteht als dem Takt eines schlagenden Herzens. Ich schaue rüber zu Stella an meiner linken und dem syrischen Freund an meiner rechten Seite. Weiter hinten liegt der Techniker bei den Kabeln, dazwischen Menschen, deren Namen ich nicht kenne. Ich mag den Mix aus Anonymität und Sicherheit an diesem Ort. Es ist nicht leicht ihn zu erschaffen und ich bin den Veranstaltern dankbar für ihr Werk.

Was noch passiert: Im Laufe des Festivals breche ich mir einen kleinen Knochen im Fuß. Einen Teil der Zeit verbringe ich daher auf einem Mattenstapel am Rand sitzend und schaue anderen Leuten beim Bewegen zu. Währenddessen beschäftige ich mich mit Ängsten, die mir solche Bauchschmerzen machen, dass ich sie nicht einmal auf Deutsch denken kann. Ich denke sie auf Englisch – nur so kann ich sie an mich ran lassen – mit dem Abstand einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist.

Do I fall out of love, when I’m no longer strong?
When I’m not healthy?

Ich hatte ein paar Tage vorher die Ahnung, dass es an der Zeit sein könnte, diese Angst demnächst zu konfrontieren. Es ist eine, in meinem Fall, überlebensgroß aufgeblähte Angst. Sie schaltet sich häufig und hinterrücks in meine Gedanken und Handlungen und verhindert das weitere Ankommen in der Realität. In der Schwäche, Einsamkeit, Ohnmacht ein nicht wegzulösender Teil sind. Eingebettet in den ganzen guten Rest. Ich habe jetzt die Gelegenheit, mich auf dem relativ harmlosen Level einer zeitweisen Einschränkung meiner Beweglichkeit damit auseinandersetzen. Ich kann ja sagen dazu. Gefallen muss es mir nicht.

Was an dem Abend und am folgenden Morgen auf dem Mattenstapel passiert, erschließt mir jedenfalls eine für mich neue Situation. Während ich dort sitze und befürchte, dass meine Einschränkung geradewegs in die totale Kontaktlosigkeit führen wird, kommen verschiedene Personen vorbei, legen sich zu mir oder pausieren an meiner Seite. Man sieht meinem Fuß die Verletzung nicht an, deshalb sprechen wir nicht über Krankheiten und Unfälle, sondern verbringen einfach Zeit zusammen, unterhalten uns, legen den Arm umeinander oder schauen in die Menge der tanzenden Menschen.

Anderen beim Tanzen zuzusehen, ist nicht so gut, wie es selbst zu tun. Dennoch ist das Sitzen in dieser Atmosphäre mit Blick auf die Leute eine aufregende und zugleich tröstende Erfahrung. Ein großer Kanon spontan entstehender Choreographien, schillernd und roh. Die Parallelität so vieler verschiedener inkarnierter Gefühle, die mit den Gefühlen anderer in Austausch und Begegnung gehen. Etwas, das es so nie wieder geben wird und nur für den Moment auf dieser Welt existiert.