Ich treffe einen Bekannten, den ich seit etwa einem halben Jahr kenne. Wir trinken Tee mit Milch in kleinen Kannen in einem Lokal, das ich häufig aufsuche wegen der zuvorkommenden Kellner, freundlichen Begrüßung, dem gedimmten Licht und der, eigentlich unpassend zum restlichen Sound, über die Anlage zu hörenden Lieder von Sting, regelmäßig ein oder zwei pro Besuch.
Ich hatte erwartet, dass wir uns streiten, zumindest hart diskutieren, wir stehen in einer fachlichen Frage weit auseinander und haben es noch nicht aufgegeben, uns an dieser Frage abzuarbeiten. Der Austausch funktioniert dennoch gut und soweit ohne persönliche Verluste, weil wir etwa alle 20 Minuten zurückkommen zu einem Moment von Wertschätzung und Höflichkeit, ein bisschen Blödsinn reden, lachen und gestärkt in die nächste Runde gehen. Ich lerne von ihm und er von mir, zähneknirschend. Heute aber diskutieren wir nicht. Der Bekannte erzählt von sich. Mir dämmert langsam, während er es tut, dass er die letzten sechs Monate dafür gebraucht hat. Das Kreisen mit mir um den beruflichen Kontext, seine Positionierung und meine Reaktion, Schwächen und Aussichten unterschiedlicher Verfahren. Dass er damit vielleicht auch meine Zuverlässigkeit getestet hat, mein Gewicht. Ob ich umgehen kann mit dieser Erzählung.
Kurz darauf wird es sonnig, der erste warme Morgen in drei Wochen. Ich kann ohne hochgezogene Schultern auf dem Feld stehen, die Erde riechen, Grashalme, überhaupt etwas anderes riechen als Schnee. Zwei Tage wate ich durch den Luxus, niemanden zu sehen, nicht zu sprechen, ich suppe in meine Gedanken hinein, in noch Ungeklärtes und nicht zu Ende Gefühltes. Die Tage gehen wortarm dahin, was gut ist, denn Worte werden kommen, viele, bereits ab Mittwoch und ich möchte lieber bleiben, wo ich mich nicht herausreden kann. Nachts treffe ich auf Stella. Ihre schwarzen Haare, die zwei weißen Strähnen, Männer, die mit ihr tanzen wollen. Später liegen wir am Boden, ihr Kopf auf meinem Bein, ein gemeinsamer Freund kommt dazu. Über die holzvertäfelte Decke schwappt Licht in langsamer Verwandlung, in Wellen verlaufendes Blau zu Rot. Einmal sagt der Freund etwas über seine Tochter und bekommt wässrige Augen, ich lege meinen Arm um seine Schulter, um den grauen Kapuzenpullover. Eine Stunde lehnen wir so aneinander, eine Trinität der Vertrautheit.
Der Januar in der Institution verläuft ereignislos, fast irritierend, ohne Meetingmarathon und deadlines. Einmal liegen meine Finger mehrere Minuten auf der Tastatur ohne Bewegung, ein andermal schaue ich dem Sonnenuntergang durchs Fenster zu. Kollegen ziehen vom dritten in den vierten Stock, ich ziehe vom rechten Flügel des Korridors in den linken, Bücher wandern über meinen Tisch, ich lese in keine hinein. Am Wochenende will ich backen. Für das Frischkäse-Frosting informiere ich mich bei der 24-jährigen Assistentin der Geschäftsleitung. Sie sagt, natürlich weiß ich, wie das perfekte Frosting geht. Ich war schon immer eine alte Frau und lebe, seit ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, in einer vollausgestatteten Küche. Dann zählt sie vier Zubereitungsvarianten für Frischkäse-Frosting auf und empfiehlt mir die mit wenig Butter. In jeder Mittagspause hoffe ich, die Assistentin im Pausenraum anzutreffen, damit ich neben ihr sitzen und mich an den Geschichten aus ihrem unaufgeregten Leben beruhigen kann. Ich glaube, sie wäre eine gute Mutter für verhaltensauffällige Kinder. Ich glaube, dass Menschen mit Bluthochdruck in ihrer Gegenwart genesen können.
Am Wochenende dann die Feier, für die ich gebacken habe. Freunde und Freundschaften, die so alt werden, dass die Kerzen nicht mehr auf den Kuchen passen. Ich wüsste nicht, was aus mir werden sollte, wenn ich nicht regelmäßig zwischen diesen Menschen stehen und in ihre Gesichter schauen würde. Die Playlist in der Kneipe besteht zur Hälfte aus Musik, die ich auch privat höre, beim S-Bahnfahren, Arbeiten, Herumlaufen. Das Inventar ist so dermaßen hässlich, dass ich mich sofort jung und in mit Wischtechnik gestrichene Jugendzentren der 90‘er Jahre versetzt fühle. Ich weiß nicht, ob es nur daran lag, aber ich habe jedenfalls lange nicht mehr so laut, infantil und inbrünstig Geburtstagslieder gesungen, mit Klatschen, Powackeln und allem Drum und Dran. Danke du hässliche Kneipe, danke Playlist, danke euch.
In der Nacht Schnee. Am Morgen biegen sich die Zweige der Sträucher unter der Last bis zum Boden. Ich gehe zum Hof mit den Ziegen, die Äpfel und Karotten menschlicher Nähe vorziehen, sich aber dazu bequemen, wenn es kein Essen gibt, etwas Gestreicheltwerden entgegen zu nehmen. Ich mag den talg-fettigen Film auf meinen Fingern hinterher.
Die Wolken in der Dämmerung ziehen wie große, alte Tiere, eine gigantische Herde, einander schiebend und überholend, in die Nacht. Im Süden geht eine messerscharf geschnittene Mondsichel unter, eine Handbreit darüber Venus, als hingen die beiden zusammen; ein Schriftzug.
Zwei Tage liege ich mit Halsschmerzen im Bett und habe Glück oder doch genug Vitamin C konsumiert, es verläuft jedenfalls glimpflich und ist bald vorbei. Es folgt ein tauender, milder 6. Januar. Auf den Pfaden ums Feld fließt der Schnee zu Rinnsalen, Bächen und temporären Teichen zusammen; ein Delta des Auflösens und Schmelzens.
Als ich später vor dem Haus stehe, um Holz herein zu holen, ziehen gerade die Heiligen Drei Könige vorbei. Sie kommen heran, segnen mich mit verschiedenen Versen und halten dabei die ganze Zeit Blickkontakt. Alle vier Kinder schauen mich über mehrere Minuten hinweg unentwegt an. Es sind vier, ich weiß nicht warum. Eines hält den Stab mit Pappstern oben drauf, eines schwenkt das Gefäß mit Weihrauch, eines hat eingerissene Mundwinkel und eines hat sich eine interessante Frisur gemacht. Alle tragen eine Art Brokatvorhangstoff und darunter mit Kordeln zusammengehaltenes weißes Leinen. Als der Moment gekommen ist, die Buchstaben auf die Tür zu schreiben, bringe ich einen Stuhl aus der Küche, damit das Kind mit der Kreide in der Hand raufklettern und nach oben reichen kann. Das Kind sagt: Aber ich hab doch Straßenschuhe an. Das macht nichts, erwidere ich und stütze es, bis der Schriftzug an die Tür gemalt ist. Dann segne ich die Kinder zurück und wir verabschieden uns.
Als sie weg sind denke ich eine Stunde lang darüber nach, wie wahrscheinlich es ist, dass sich im Jahr 2025 vier Kinder als Wahrsager und astrologische Gelehrte verkleiden, eine Legende nachspielend um die Häuser ziehen, dabei Gebete sprechen und eine unsichtbare Macht auf mich herunter schwören. Anstatt zu Haus an der Playstation zu sitzen. Noch unwahrscheinlicher, dass sie das mit ausgesprochen sozialen Fertigkeiten und zwischenmenschlicher Reife tun.
Dann denke ich weiter und frage mich, was die Kinder an diesem Ritus motiviert? Was sie dabei fühlen? Fühlen sie etwas wie Würde oder Bedeutung oder eine glitzernde Halloween/Faschings-ähnliche Lust minus den Zucker? Oder befriedigt es eine tiefe kindliche Spiritualität, Teil zu sein eines Zusammenhangs, ein Partikel im aufgeladenen Raum, ein Signal, eine Sendung, die älter ist, als Eltern und Großeltern und alle Toten auf dem Friedhof? Und falls sie nichts von all dem empfinden und doch lieber zu Hause an der Playstation sitzen würden, bemerken sie dann trotzdem, dass ich und vielleicht auch andere sie empfangen, als wären sie eine Sendung, ein Brief, Mondsichel und Venus, das kosmische Zeichen, ein Kontaktangebot?
Am zweiten Morgen nach Weihnachten bin ich endlich ausgeschlafen genug, um vormittags aufzustehen, mich anzuziehen und rauszugehen in dieses umfassende Weiß; blendend und von allen Seiten gleichzeitig. Das Weiß der Berge, das Weiß der ausgeleuchteten Wolkendecke, das Weiß des kristallinen Bodens, die ineinander übergehenden Lagen von Licht. Darin bin ich auf weiter Fläche der einzig dunkle Punkt in meiner Jacke.
Ich treffe ein paar Leute aus der Zenschule, wir spielen Brettspiele, es könnte harmloser nicht sein. Ich konkurriere gern, wenn es um nichts Wesentliches geht. Ich mag die Schnelligkeit, das Synapsenfeuer, Kooperation, Kräftemessen, zu verlieren und knapp zu gewinnen. Die Küche ist eng und eignet sich, um in der Pause einen anwesenden Mittelschullehrer nach Details aus seinem Berufsalltag zu fragen. Er spricht mit Respekt und Interesse von seiner Klasse, hält den Kontakt zu den Familien aufrecht und sagt regelmäßig jedem Kind was es gut macht und besser machen kann. Ich frage ihn, ob er schon mal ausgebrannt ist. Einmal, antwortet er, da war er vier Monate krank, seitdem passt er mehr auf sich auf. Manchmal wird er wütend. Dann macht er am nächsten Tag einen Stuhlkreis und sagt: Gestern war ich wütend auf euch. War ich dabei ungerecht? Hab ich euch verletzt?
Mehrmals geht in dieser Woche zwischen den Jahren die Sonne glutrot auf und unter, mehrmals stehe ich in einer klirrend kalten Nacht unter dem schwarzen Himmel. Die Anordnung der Gestirne oben, der alte massive Boden unten, die in mir stattfindende und sich verkörpernde Zeit. Nach einer Woche Nichtstun stellt sich eine untergründige Ruhe ein. Ich kann fühlen, was in mir aufsteigt, eine Welle macht, brandet und verebbt. An Silvester habe ich nichts vor. Ich plane, die Nacht mit einer Tüte Chips und Science Fiction im Bett zu verbringen. Doch dann meldet sich Stella und wir treffen uns in einem beheizten Zelt im Park, wo eine talentierte Frau auflegt, zu deren Musik wir fünf Stunden tanzen, allein, zu zweit und mit allen, die sich dazugesellen. Es ist so einfach auf diese kopflose Art Menschen kennenzulernen, etwas zu teilen, sich mit ihnen zu verbünden für eine Nacht. Hinterher sitze ich an einer der Feuerschalen vor dem Zelt. Ein Mädchen legt immer wieder Holzscheite nach, die Flammen hoch und heiß.
Der 1. Januar ist sonnig, beim Spazieren bleibe ich vor einer Scheunenwand sitzen und schäle mich aus alle Schichten, bis ich nur noch das hauchdünne T-Shirt trage. Von der Luft gewärmt und gehalten zu werden, eine solare Umarmung
In dieser Nacht tanzt der syrische Freund in der Mitte der Halle, in der Mitte der Mitte aller anwesenden Menschen, mit nacktem Oberkörper, schreiend, lachend. Die anderen springen ihn an, die anderen schreien mit ihm, immer wieder hängt ihm jemand am Hals. Später am Ausgang sage ich, geh nicht, du bist wichtig für die community hier, wir lieben dich, du hast zwei Heimat, eine alte, eine neue.
Er sagt, dass er nicht zurück will, aber seine Eltern, Familie, die werden vielleicht gehen, ob er dann bleibt, ist ungewiss. Und ich denke, auch als er sein T-Shirt schon wieder trägt und hinten bei der Technik Kabel aufrollt, dass er überlebt hat, davon gekommen, seine Haut heil ist, nicht den Tätern in die Hände gefallen. Eine Rettung, die nicht passiert ist, sondern gemacht, entschieden wurde, ganz konkret von einer Kanzlerin, deren Partei ich nie gewählt habe und die uns doch diesen Edelstein an Mitmensch beschert hat.
In der Institution ist das Jahresende ein Sprint mit unterbesetzter Belegschaft, ich weiß trotz zügiger Arbeitsweise morgens oft nicht, wie das gehen soll, vor 19 Uhr fertig zu werden. Dennoch und gerade deswegen schiebe ich um 11 Uhr am Mittwoch einen Wagen mit Teeservice in mein Büro, die Assistentin aus der Geschäftsleitung kommt runter und ein paar andere dazu. Wir starten die Blindverkostung verschiedener Sorten Chaitee. In den Küchen auf den fünf Etagen der Institution kursieren diverse Teebeutel von dm, Alnatura und Produkte anderer Hersteller. Ich hatte am Morgen die Überzeugung geäußert, dass nur die Teekannen-Marke trinkbar, der Rest Plörre ist. Wir testen in kleinen Tassen und verteilen Noten. Häufige Bemerkung der Probanden:
schmeckt nach nix
zu viel Zimt
zu gesund, igitt
Die einzig einstimmig für gut bis sehr gut befundene Sorte ist die von Teekanne. Kleine Genugtuung des Rechthabens. Zum Abschluss brühen wir einen losen, von Kollegen aus Indien mitgebrachten, Assamtee mit Milch auf und stehen schlürfend an die Regale gelehnt, als hätten wir die Zeit.
Zwei Tage spiele ich mit dem Gedanken, zwischen den Jahren Reißaus zu nehmen, mich Freunden in Prag anzuschließen, in einer Kathedrale zu dem Sound eines DJs zu feiern, keinen Plan zu haben, der Gruppendynamik zu folgen wie ein Schaf. Dann fällt mir ein, dass die kommenden zwei Wochen vielleicht die einzigen für lange Zeit sein werden, in denen ich terminlos über die Felder streifen, den Füchsen im Schnee zusehen kann und sage Prag ab.
An meinem ersten freien Tag schlafe ich knapp zwölf Stunden, mache einen Spaziergang, esse und schlafe gleich wieder ein. Auch in der Folgenacht schlafe ich sehr lang, ohne Infekt, ohne krank, es ist einfach Winter und zu viel Arbeit gewesen.
Am anderen Morgen sehe ich drei, große, rote Füchse in ihrem, um diese Jahreszeit, dichten Pelz. Über ihnen der weite blaugraue Himmel, unter ihnen Frost, angeblich soll es an Weihnachten noch mal einen halben Meter schneien. Ich hole Zweige aus dem Wald. Im November wurden Fichten gefällt, an der Kreuzung liegen Reste, aus denen ich einen Türkranz binde.
Dann treffe ich einen neuen Freund, einen vor wenigen Wochen aus San Francisco her gezogenen Mann, dessen Hund gerade gestorben ist. Auf meine Frage, warum er die USA verlassen hat, antwortet er, aus Angst vor Trump und weil die Tanzszene hier inklusiver ist und weil die Deutschen so schön langsam leben.
Das beschäftigt mich lange. Weil ich ja denke, dass nur Menschen südlich der Alpen schön langsam leben. Und ich mir gar nicht ausmalen will, wie furchtbar es woanders sein muss, wenn man München als erholsam langsam empfindet.
Eine Freundin macht Seifen mit fairtrade gehandelter Sheabutter und bringt die Seifen in einem schweren Koffer in die Stadt. Es ist einer der für mich wichtigen Dezemberhöhepunkte, wenn diese Lieferung eintrifft und es danach wochenlang im Badezimmer nach Rosmarin, Ginkgo und Bergamotte riecht.
Ich besuche einen Menschen auf der Akutstation einer Einrichtung, wappne mich, erinnere mich an das, was ich schon gesehen habe und bin doch wieder von Wucht und Realität dieser Orte ziemlich mitgenommen.
Die, wie in einem absichtlich schlecht ausgeleuchteten Filmset, grau wirkenden Flure, bedrückenden Möbel und Panzerglasfenster im Aufenthaltsraum. Das konstante Klappern der Schlüsselbunde des auf- und zuschließenden Personals, Durchsuchen der Taschen und unter Beobachtung miteinander sprechen Müssen neben dem Fehlen jeglicher stofflicher Wärme. Eine ausdrücklich auf das Verhindern von Verletzung und Flucht hin gestaltete Umgebung. Die uns begleitende Pflegerin in den eineinhalb Stunden immerhin verhält sich taktvoll, was mich erleichtert. Auf dem kurzen Spaziergang über das Gelände wechsele ich ein paar Worte mit ihr und weiß hinterher, dass zumindest eine emotional ansprechbare Person hier arbeitet, vielleicht sogar mehrere.
Die Fahrt davor und danach über die Autobahn wird begleitet vom Rattern eines lose werdenden Blechs am Unterboden des Wagens, eventuell auch eines sich anbahnenden größeren Defekts. Ich kann mich jetzt nicht damit beschäftigen, sollte es aber bald. Bis dahin höre ich zu, wie etwas kaputt geht.
Später am Abend treffe ich in einem fast leeren Hotel ein. Der dicke Teppich in den Gängen schluckt Geräusche, auch meine Schritte, die darin einsinken, mich in eine leicht sedierte Verfassung befördern und nivellieren, was ich mitbringe; das ist jetzt alles ein bisschen egal. Ich dusche heiß und lang und schlafe bald ein.
Am nächsten Morgen eine dünn besetzte Frühstückslounge. Leise bedeutungslose Musik, während ich um eine für mich frühe Zeit Kaffee trinke. Eine schwarz gekleidete Bedienung, die freundlich und wortarm Geschirr wegträgt, kommt zwei Mal vorbei. Ich mag sie für ihre rücksichtsvolle Bewegung, als sie sich über den Tisch und halb über meine Schulter beugen muss. Angenehm, diese Leere heute, sage ich zu ihr. Finde ich auch, sagt sie.
In der Institution starte ich in die Einarbeitung zweier neuer Mitarbeiter. Das stundenlange Erklären und Reden zapft viel ab von meinem pro Tag zur Verfügung stehenden Kontingent an Energie, worüber ich mich hinwegtröste mit der Aussicht auf echte Entlastung in zwei Arbeitsfeldern irgendwann in den kommenden 6 Monaten. Abends gehen wir indisch essen, ich verliere eine Wette, eine zweite teaminterne Wette läuft noch, wofür am Montag ein Kollege mit Maßband von uns vermessen wird.
Montagabend sitze ich in der Zenschule zwei Stunden auf dem Kissen und schaue zur Wand. Die erste Stunde finde ich es toll, dann wird mir langweilig, dann halte ich dieses Herum-Meditieren für eine bescheuerte, elitäre und todesverherrlichende Veranstaltung, kurz darauf fällt mir eine Anekdote aus dem Freundeskreis ein, ich unterdrücke einen Lachanfall, beruhige mich wieder, höre einer anderen Person bei einem zehnminütigen Hustenanfall zu, es folgt der Gong, ich stehe auf, verneige mich, singe ein Gelübde und gehe nach Hause.
Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich da tue.
Manchmal ist die Reihenfolge auch umgekehrt. Es fängt langweilig und nervig an, wird besser, entpuppt sich, nimmt Fahrt auf, bis ich zwischen diesen Menschen und meiner Ewigkeit sitze, wie in einem weit aufgespannten Zelt und alles gleichzeitig spüren und betasten kann.
Vor Kurzem bin ich mit einem Kind durch einen ungewöhnlich warmen spätherbstlichen Tag zurück zum Zuhause des Kindes gelaufen. Wir haben Laternenlieder gesungen. Eines der Lieder endet mit einem langezogenen Hu. Als ich mit meinem Mund das u formte und neben meinem Ton den Ton des Kindes hörte, wurde mir klar, dass es ab jetzt immer einen Ort in mir geben wird, in dem dieses Kind und ich an einem Tag im Herbst durch die warme Luft nach Hause gehen und gemeinsam singen.
Die Arbeit in der Praxis macht in diesem Winter besonders Spaß. Das liegt auch am Abschluss der Renovierungsarbeiten und den in allen Lampen eingedrehten warmgelben Leuchtmitteln, an der kleinen eleganten Teeküche und den bequemen Sesseln in den Besprechungszimmern. Weil ich mir die Praxis mit anderen Kolleginnen teile, liegen Entscheidungen zu Einrichtungsdetails manchmal lange in der Klärungsschleife.
Das oben erwähnte Kind malt/schreibt mir einen Brief und schickt ihn in die Praxis. Die Kolleginnen lehnen den Brief gut sichtbar an die hölzerne Eule auf dem Schreibtisch, damit ich ihn gleich sehe, wenn ich reinkomme.
In der ersten Dezemberwoche lässt langsam die Raserei des Novembers nach, mein Nacken wird wieder weich und die Termine schmelzen zu einem Pensum, bei dem ich mich als tatkräftig empfinden kann, ohne zu eilen. Ich mag diesen Zustand. Ich mag ihn sehr.
An einem der ersten sonnigen Novembertage vor etwa zwei Wochen ist eine Schar Wildgänse laut rufend in Formation über mein Haus in Richtung der Bergkette gezogen. Gestern Abend sah ich in einem Video einen Mann vor seinem Steinhaus in den norditalienischen Alpen inne halten und vorbei ziehenden Wildgänsen nachsehen. Ich konnte nicht anders, als zu wünschen, es handele sich um die gleiche Vogelgruppe.
Dann folgen Tage in denen viele Verbindungen ausfallen, Baustellen auf drei Strecken, die verbleibenden Züge und S-Bahnen sehr voll. Eine Woche auch, in der andere Fahrgäste meine herunter fallenden Handschuhe aufheben, freundlich nicken, während sie sich vorbei quetschen müssen und nicht deutschsprachigen Personen die kryptischen Hinweisschilder erklärt werden. In den ebenfalls übervollen Restaurants der Stadt, wo ohne Reservierung auch unter der Woche nichts mehr geht, nimmt ein Kellner meine Kollegen aus Berlin und mich bei der Hand und zieht uns durch die Menge bis hinten ins Lokal, um doch noch einen Tisch klar zu machen. Später am Tresen des Vereinsheims in der Occamstraße ein seliges Bier ohne Alkohol - wenn der Alltag so stimulierend ist, dass keine Substanz mehr oben drauf passt.
Wir gehen rein ins nächste Dickicht. Die Trainerin mit dem Nato-Hintergrund ist wieder da. Eine Frau, die mit Geiselnehmern verhandelt und während des Balkankrieges bei einem Einsatz für Flüchtende mit offener Bauchwunde übers Feld rannte. Ich traue charismatischen Leuten prinzipiell erst mal nicht. Dass sie bei manchen der jüngeren Teilnehmer Bewunderung auslöst, macht es nicht besser. Ich kann dennoch von ihr lernen und mich dabei gegen sie stemmen. Für diese Reibung und dass sie ein Gegenüber ist für meine Stärke, respektiere ich sie wiederum sehr.
Am vierten Tag des Training gehen wir abends tanzen. Rutschen von der Durchleuchtung in die Dunkelheit, vom grellen Licht der Präzision in den schwarzen Fluss. In der Halle kann ich Stella lange nirgends finden. Ich weiß nicht, ob sie kommt, wir sprechen uns nicht vorher ab. Mit dem Nichtwissen und Nichthaben in die Nacht zu gehen ist genauso wichtig, wie nach einer Stunde oder länger in einer halben Drehung zwischen den anderen ihren Rücken zu entdecken oder an einem bestimmten Bewegungsmuster in der Menge zu erkennen, dass sie es ist. Dass sie da ist. In den Tagen danach dann oft eine haptische, fast skulpturale Erinnerung an Stella. An sie oder an eines der namenlosen Gesichter, die ich in der Halle manchmal lange ansehe und die zurücksehen ohne Scheu. Warum ist das in diesem wortlosen Raum so einfach und überall sonst so schwer?
Als ich Montag aus der Zenschule trete riecht es nach Schnee. In den Tagen danach liegt morgens Raureif auf den Mooren, das Gras knistert, der thrill einer frierenden Landschaft. Der Mond ist noch nicht untergegangen, er streift die obere Kante der Fichten und seine weiße Haut ist groß und nah. Auf der Anhöhe der Frost bedeckten Wiese wird eine Herde Pferde von der aufgehenden Sonne angeleuchtet, der sichtbare Atem der Tiere im Gegenlicht. Am Wochenende darauf folgen mehrere Stürme, Minusgrade und ein Morgen in komplett weißem Winterkleid. Ich gebe zu, der erste Spaziergang durch knietiefen Schnee ist schön, lediglich die 70-80 weiteren, strengen mich sehr an. Der Winter in Bayern nahe den Bergen - das schleift wie Schmirgelpapier.
Gewiss ist jetzt auch: der kleine, schielende, wilde Kater Schiagli hatte einen Hirntumor. Die Catlady des Dorfes hat es bestätigt. Nachdem er immer kränker wurde, hat sie ihn zum Arzt gebracht und einschläfern lassen. Ich bin sehr traurig. Schiagli hat mich geprägt, obwohl er nie direkten Kontakt zugelassen hat. Es ist wichtig, dass es diese Wesen gibt; die langsamen, schiefen, kranken. Und es ist wichtig, dass es eine Catlady gibt, die einen im Blick behält und handelt, wenn es nicht mehr anders geht.
Die andere Nachbarin, die zwei Jahre lang das Asylverfahren begleitet hat, berichtet von dem nun glücklich in Ausbildung und bald auch eigener Wohnung untergebrachten iranischen Freund, seinem neuen Umfeld, in dem ihn alle schätzen, wie wir es von Anfang an wussten und geglaubt haben. Dieses vorläufige gute Ende ist, das behaupte ich, ganz und gar auf dem Mist der sich zwei Jahre kümmernden Nachbarin gewachsen. Sie hat den Preis gezahlt, sie allein. Mehrere Stunden pro Woche neben ihrem Job am Telefon gehangen, in überfüllten Zügen zur tschechischen Grenze gestanden, in der lauten Unterkunft Informationen zusammengetragen und Beistand geleistet, über Gesetzestexten gesessen, Geld gesammelt, vor Gericht ausgesagt, mit Arbeitnehmern verhandelt und erweiterte Sprachkenntnisse vermittelt.
Parallel dazu hat eine andere Freundin ein Jahr lang eine schwerfällige Behörde und selbstgefällige Einrichtungsleitungen beackert, um zwei kleine Jungs in ihre Familie aufnehmen zu dürfen, die aufgrund neurologischer Einschränkung und Alter als schwer vermittelbar galten. Heute Morgen kam das Foto der Freundin mit den Jungs in ihrem Haus.
Man kann nur am Boden liegen und heulen, dass es so viel Gutes in den Menschen gibt.
Während manche Menschen sich nach dem Untergang ihrer Rechte und Freiheit sehnen und nichts besseres zu tun haben, als ihn herbeizuwählen, gibt es auch noch das: Liebe, Liebe, Liebe.
Entlang des Bahnsteigs werden die ersten Hagebutten reif. Beim Warten auf die S-Bahn pflücke ich eine Handvoll, öffne die Schale und esse das Mark. Eine Woche lang nebelt es über den Mooren, Füchse halten sich darin auf, Schafe, Rehe; grau in grau. Wenn die Sonne rauskommt, liegen die Kühe auf der Weide und blinzeln ins Licht. Sie sind jung und müde vom Verdauen.
Aus Göttingen und Wien treffen Kolleg*innen für eine Fortbildung ein. Am Abend gehen wir auf die Alte Utting, es ist noch warm genug um draußen zu stehen und Bier zu trinken, erst später wechseln wir in den Innenraum des Schiffs und sitzen unter den gelben Lampen. Einmal noch pflügen wir mehrere Tage gemeinsam durch die Materie, beobachten Gruppenprozesse, unsere Rolle darin und welche Taten und Worte in welche Richtung führen. Dann verabschieden wir uns voneinander unter dem karmesinroten Laubdach der Bäume an dem kleinen Stadtsee, es wird dunkel und kalt, aber wir können nicht aufhören zu erzählen und uns zu begleiten, bis zur Ampel, bis zur Kreuzung, bis zum Gleis, wissend, dass wir uns in dieser Konstellation nicht wiedersehen.
Es folgt Arbeit in der Institution und Arbeit in der Praxis. In meinem Umfeld eskaliert eine seit Langem prekäre Situation, die eine minderjährige Person einschließt, auf die nächste Eskalationsstufe. Zwei Tage rennen meine Gedanken im Kreis und ich muss mich festhalten an allem, was ich kann und gelernt habe, um nicht reflexhaft zu reagieren. Ab dem dritten Tag wird mir klar, wie ich handeln will. Ich bespreche mich mit zwei Vertrauten und gehe die Schritte, einen nach dem anderen. Zu meiner Überraschung und entgegen der sonstigen Entwicklung sind manche der Beteiligten zur Kooperation bereit. Und ich verorte mich neu in einem tragfähigen Gewebe aus Menschen, die mich halten und beschützen, während ich andere halte und beschütze.
Die Gärten hier im Dorf sind ein großes Thema im Herbst. Alle Nachbarn, egal wo man sie trifft, fragen danach, berichten davon. Wie viel Arbeit die zu beschneidenden Obstbäume machen, an welcher Schuppenwand noch Platz für das zu trocknende Holz ist, wo das meterhohe Schnittgut der Sträucher bloß hin soll, wer öfter als fünf Mal mit dem beladenen Anhänger beim Wertstoffhof war, welche Motorsäge etwas taugt, ob die Leiter stabil steht, wer aufgibt und nur noch wachsen lässt. Ich mag die Jahreszeitengespräche. Es ist ein verbaler Kalender, an dem alle teilhaben. In Kürze geht es wieder um Raureif und Eis.
Der kleine schielende Kater (Schiagli) scheint verstorben zu sein. Über vier Wochen hat ihn niemand gesehen. Er war eine der verwilderten Katzen der Umgebung, die zwei Mal täglich an der Futterstation von der Catlady des Dorfes versorgt werden. Schiagli wurde von vielen Bewohnern des Viertels geliebt, hat sich aber auf niemanden eingelassen. Er schlief oft in der Sonne mit dem Gesicht zur Hauswand oder im Schafstall beim Hof gegenüber. Er war befreundet mit anderen Katzen, die immer an seiner Seite waren und hat sich so gut wie nicht bewegt. Als ich einmal mit meinem gebrochenen Fuß an Schiagli vorbei gehumpelt bin, hat er mich lange und eindringlich angeschaut.
Samstagnacht liege ich nach dem Tanzen mit Stella auf einer Decke und fühle den Herbst durch mich durchziehen. Es ist nicht so schlimm, wie es schon mal war. Es hilft, die heranrollende Kälte mit anderen gleichzeitig zu erleben. Es hilft, Kürbisse zu essen, deren Farbe ich nicht mag, und Maronen zu rösten, deren Farbe ich sehr liebe. Morgen gehe ich zu dem kleinen Fest einer Freundin, das sie jährlich ausrichtet, um mit uns an einem Tisch zu sitzen, der Erde zu danken, dem Wachstum, der Freundschaft.
Mehr passiert nicht. Es ist November und weiterhin neblig.
In den Tagen der Ankommens treffe ich eine Freundin in dem Séparée eines Lokals, das ich früher aus nachbarschaftlichen Gründen häufig aufsuchte. Während die Freundin den Kaffee am Tresen holt fällt mir ihr am Stuhl hängender Mantel ins Auge - die Strahlkraft eines tiefen satten Schwarz - und überhaupt am Rücken von Menschen aufliegende Textilien - die stoffliche Umarmung, der Halt, den sie spenden können, eine gewebte Umarmung der Rückseite des Körpers, wo wir uns selbst so schlecht erreichen.
Viel Oktoberlicht in dieser Woche. Horizontal ins Gesicht scheinende Sonne, Abendspaziergänge im Pullover und an die warme Hauswand gedrückte Momente bevor es dunkel wird. Die Hirsche röhren aus dem Wald, es ist jetzt sehr dringlich, die Paarungswilligkeit auf dem Höhepunkt. Jedes Mal halte ich es erst für den Schrei einer Kuh, doch dann wird klar: so schreit keine Kuh.
Zwei Wochen zuvor - ich war mit ein paar der regelmäßig Tanzenden noch in eine Bar gegangen und fühlte für einen Moment die Beklemmung, von einem vorwiegend körperlichen Austausch in einen vorwiegend verbalen Austausch wechseln zu müssen, als der in Großbritannien aufgewachsene Daytrader in bester englischer Manier so konsequent unterhaltsamen Smalltalk anbot, bis ich langsam in die Gänge kam und schließlich eine vernünftiges Gespräch führen konnte. Danke England. This you taught your people.
Brenner. Die verlässliche Dynamik zwischen vier in einem Auto sitzenden Menschen. Drei schlafen, einer fährt. Aufgrund äußerer Umstände (Tanken, Mautstation…) gemeinsam wach werden, nach den Keksen greifen und eine der vor dem Einschlafen geführten Unterhaltungen weiterführen – welche Jobs hätten wir in diesem Land, wie würden wir wohnen, wo einen Samstagabend verbringen, auf welche Art gegenüber was abstumpfen?
Weinberge ziehen vorbei, die Flussebenen, Industrie und Höfe. Die Bäume werden klein und knorrig, das Gras hellbraun. Am Nachmittag sind wir da.
Es ist die eine Woche im Jahr, in der ich lebe wie in einem tschechowschen Theaterstück. Aufwache in einem Landhaus, den weitläufigen Garten betrete, hinüber gehe zu der Gruppe Menschen, die in noch etwas fröstelnder Morgenhaltung Tee trinkt, auf die Sonne wartet, und wenn sie rauskommt, den ganzen Tag ihren Strahlen folgt, von einer Laube und Terrasse auf die nächste. Später wird jemand kochen. Später wird jemand etwas vorlesen. Später wird Wäsche gewaschen und auf die Leine gehängt.
Eine Madonnenstatue soll es hier geben, aus weißem Marmor, dem hier abgebauten Marmor. Eventuell führt der Weg dorthin direkt an unserem Haus vorbei. Es wird lange überlegt, ob man sich bequemen will. Eine Person sieht in Karten nach, die andere schätzt Distanz und Abkürzung durch die Olivenhaine. Wir können doch nicht, kaum hier, schon wieder wandern? Ich bin sehr unentschlossen und schaue zum Meer. Eventuell gehe ich mit. Falls ich es tue, werde ich die Madonna auf den Mund küssen.
Das ist auch eine neue Erfahrung; ständig den in diesem Haus, in dieser Gegend überall verbauten Marmor unter den Händen zu haben. Spülbecken, Tischplatten, Vogeltränken, Fenstersimse, Anrichten, Badezimmerfliesen; alles aus dem weißen ewigen Stein. Ich kann daran eine sensorische Brücke schlagen, zurück fassen bis ins 16. Jahrhundert, ich glaube zu wissen, was sie gefühlt haben, die Menschen auf diesen Hainen, dass sie wirklich hier waren und ihre Fingerkuppen auf den Dingen lagen.
Am andern Tag brechen wir auf zu der kleinen Stadt am Wasser. Dort ein angenehm langsames Fußgängertempo. Es drosselt einen herrlich runter von der Raserei, in der man sich manchmal bewegt. Wir gehen zu fünft in den verwinkelten Supermarkt, bestellen salziges Gebäck an der Theke und betreiben brüchige, scheue, höfliche Konversation mit diesen ungehetzten Leuten, die es einem so leicht machen. Geparkt haben wir vor einem Altstadtgebäude, das sich als Einrichtung für geistig nicht gesunde Menschen herausstellt. Aus den Fenstern lehnen Bewohner, winken und rufen Sätze, die vielleicht uns gelten oder jemand anderem oder allen.
Am Strand in der Septembersonne liegen die einheimischen Paare in ihrer eingespielten, sandigen Zärtlichkeit, lassen ihre Hunde von uns streicheln und schauen freundlich solidarisch, als wir uns in der Nähe niederlassen. Wir backen eine Weile fest auf dem weichen Untergrund und blinzeln in die Sonne. Die ersten Schritte, die ich seit der Fraktur barfuß draußen gehe, finden hier statt, auf den zwanzig Metern zwischen Handtuch und Welle.
Abends bleiben wir beim Rotwein sitzen und drücken uns vor dem Schlafengehen, denn die Betten sind ein wenig wacklig und das Bettzeug nicht richtig und die Matratzen erst recht nicht, wie es manchmal so ist. Einmal muss kollektiv eine halbe Stunde über den mangelnden Schlafkomfort gejammert werden (der so einfach herzustellen wäre! wo doch das restliche Haus so toll ist! was ist denn daran so schwer zu verstehen!) - anschließend fügt es sich leichter in diese seltsamen Laken und unbezogenen Überdecken. Es ist wirklich eines der sehr spürbaren Probleme des Lebens mit Vierzig plus. Nicht mehr überall schlafen zu können.
Am anderen Morgen, die Sonne geht auf, die Freunde sitzen im Olivenhain und schauen aufs Meer. Alle wieder ganz froh und friedlich, einer der Männer trägt auf dem Tablett den zweiten Kaffee heran und reicht die Tassen in die Runde. Wir sprechen über Napoleon und Verfilmungen und Bücher und ahmen Charaktere nach und hangeln uns durch halb vergessene Liedtexte. Eine Freundin streift im roten Kleid ums Haus und sammelt etwas, ich mache am Rand des Grundstücks Qi Gong und bekomme dafür von einer vorbeiwandernden älteren Dame einen Daumen hoch. Dann ist es Abend, wir kneten Gnocchiteig, das Wasser sprudelt, Salbeibutter bruzelt auf dem Gasherd. Im zweiten Stock des Hauses findet sich eine Küchenwaage aus den Siebziger Jahren, die zu dem Zweck herbei getragen und eingesetzt wird.
Die Tage vergehen. Manchmal stehe ich allein im Garten und denke nichts und bin nichts als ein Gewächs unter anderen Gewächsen. Einmal deklamiere ich ein Gedicht den Hügel hinunter.
Am letzten Tag vor der Abfahrt gehen wir in die Pasticceria, trinken Kaffee und frühstücken süß. Von der Barista, einer Muttergestalt von überfließender Herzlichkeit, wird jede Hereinkommende mit großer Geste und guten Worten empfangen. Am Tisch beugen wir uns zu viert über das regionale Käseblatt und setzen uns mit vereinten Sprachkenntnissen über die Vorkommnisse des Umlands ins Bild: eine explodierte Gasheizung in einem Einfamilienhaus, Eröffnung der Wildschweinjagd, Fußball, Statistik zu Verkehrstoten, die Gewinnerin des Schönheitswettbewerbs heißt Ofelia und betrachtet ihren Titel als „Chance, um ihrer Passion nachzgehen“ (Welcher? Wird nicht erwähnt). Wir trinken aus und verabschieden uns von der Frau hinter der Theke, die uns mit beiden Händen winkt. Wie ein Kind. Als ich im Auto sitze muss ich deswegen fast weinen.
Auf dem Rückweg übernachten wir in einem Dorf, hoch gelegen, neblig, altes Gemäuer, gut hergerichtet und spazieren am nächsten Morgen noch über die eine Kreuzung mit Metzgerei, Bar und Kirche. In der Mitte des Dorfplatzes findet sich etwas, das ich für Reste einer Viehtränke halte. Zwei Wochen später, wieder zurück in Deutschland, beim Durchblättern alter Stadtbilder erkenne ich, dass es sich dabei um eine öffentliche Waschküche handelte.
Washerwomen von Charles Frederic Ulrich via Wikiart
Einen Nachmittag lang verbringe ich bei 30 Grad unter einem roten Sonnenschirm. Ich trinke Earl Grey in kleinen Schlucken, die Freunde Kaffee oder kaltes Wasser. Über den Feldern flimmert die Hitze, das bei der Heuernte vom Wagen herunter gefallene Gras trocknet auf den Kieswegen weiter. Wir schauen zwischen den Bergflanken in die Weite und erzählen uns die Ereignisse der letzten Wochen. Auf dem Tisch steht Zucchinikuchen mit Limettenguss. Ich bin lange nicht mehr im Schatten eines solchen Schirms gesessen, wie ein Schlumpf unter dem Fliegenpilz.
In der Institution schnalzen innerhalb von fünf Tagen alle Projekte, die ich mühsam in Reihenfolge gebracht hatte, gleichzeitig zurück. Kaum ist das Gröbste durch, kommen Leute mit neuen Ideen = Mehrarbeit auf mich zu. Ich ertappe mich dabei, wie ich zu allem Nein sage, Zeug wegdelegiere und andere für zuständig erkläre. Das funktioniert erstaunlich gut. Habe ich es final doch noch gelernt.
Samstagabend gehe ich in die Halle im Park, um den anderen zuzuschauen. Vor der Tür steht der syrische Freund, ich erwähne bei der Begrüßung meinen noch nicht wieder heilen Knochen und dass ich brav auf dem Boden sitzen werde. Ich muss es nicht allen erzählen, aber denjenigen, die einen gern bei der Hand nehmen und mitziehen im Eifer der Freude. Drinnen läuft der Techniker herum, Stella ist nicht da. Die Musik beginnt mit einer Art Alphawellen-Sound, der recht steil in Elektro übergeht. Ich merke den Leuten ihre ausgeruhten Gliedmaße und die Sommerpause an, sie werfen sich ohne viel Vorlauf in den Ring. Es entsteht ein Sog, in dem die Einzelnen aufgenommen und vermengt werden, bevor es die Tanzenden wieder an den Rand auf ihre eigene Bahn drückt. Heute ist es abgedunkelter als sonst, aber ich sehe ein paar Vertraute.
Den Vater, der sich trennte, nachdem er Jahre lang für die Kinder in einer furchtbaren Partnerschaft ausgeharrt hat. Der heute mit entspannten Schultern in der Mitte des Raums steht und entdeckt, dass es Frauen gibt, die keinen Schuldigen suchen.
Die ca. Zwanzigjährige mit dem instagramtauglich glänzenden Gesicht zwischen gezeichneter wirkendenen Gleichaltrigen, die vielleicht weniger fotogene Dinge erleben und fühlen.
Die ältere Frau mit den Knopfaugen, die in den Neunzigern einem Guide in das Hinterland eines afrikanischen Landes folgte, um dort eine Woche dem Orakel (der Dorfzauberin) gegenüber zu sitzen, in der Hoffnung, ihr würde die Teilnahme an einer der gemeinschaftlichen Zeremonien gestattet werden. Was das Orakel schließlich gestattete. Woraufhin die Frau mit den Knopfaugen eine Nacht im Kreis der Trommeln tanzte und nicht aufhörte ehe die Stammesangehörigen schlafen gingen. Sie trägt heute orthopädische Einlagen in den Schuhen, wackelt mit dem Po, schont ihre Knie und hat weiterhin gute Laune.
Auf dem Boden bilden sich unterdessen Pfützen, die Haare der Leute tropfen, die Ventilatoren bewirken nichts, das Parkett glitscht. Alle hier haben ihre Angelegenheiten und werden in der Minute des Verlassens der Halle Handys aus den Taschen ziehen, auf Displays schauen, mitten drin sein in Bewertung, Verantwortung, Verwirrung und dem Versuch, etwas zu steuern. Aber nicht jetzt. Jetzt sind sie hier. Jetzt überlassen sie sich. Jetzt retten sie ihre Seele.
In this here place, we flesh. [Toni Morrison]
Am Mittwoch schaue ich ein gebrauchtes Elektroauto an. Der Verkäufer ist auskunftsfreudig, aber ich habe den Eindruck, er verberge etwas. Bei der Probefahrt halte ich auf einem einsamen Schotterweg, steige aus, lege mich auf die Straße und robbe mit dem Kopf so weit ich kann unter das Auto. Der Boden ist sehr verrostet. Bremsbacken und andere Teile, die ich nicht benennen kann, auch. Ich fahre das Auto zurück und verabschiede mich.
Im Garten passiert etwas Seltsames. Nachdem drei Jahre die Schnecken, Blattfäule, Baumfäule, der steinige Boden, kalte Nächte, Stürme und meine Unerfahrenheit Wachstum verhindert haben, wachsen die Pflanzen. Nicht jeder Strauch und jede Blume, aber manche. Es entsteht ein Zusammenhang, vielleicht sogar Momentum. Eine Ahnung davon, wie aus diesem dreieckigen Restgrundstück in weiteren Jahren ein Ort werden könnte, in dem jemand in der Hängematte liegt.
In dem anderen Beruf probiere ich einen Nachmittag lang mit Kolleg*innen Übungen aus und bin froh mit ihnen ein Experimentierfeld und einen Spielplatz zu haben, auf dem ich testen kann, was ich mir ausdenke. Am Ende komme ich mit zweiundhalb anwendbaren Interaktionsvorschlägen aus der Sache raus. Ich bin so glücklich über diesen Spielplatz, dass ich bis nachts um 3 nicht einschlafen kann. Es ist die Zu-viel-Glück-Schlaflosigkeit.
Die Milane kreisen über den Häusern und stoßen feine helle Schreie aus. Morgens steigt Nebel über dem Moor auf, in dem die jungen Birken am Straßenrand verschwinden. Am Schienennetz wird etwas erneuert, ich verbringe einiges an Zeit in Bussen, die an Maisfeldern vorbei zur nächst größeren Bahnstation wackeln. Ich kann morgens um Sechs nicht denken und bin eigentlich nicht mal richtig da, aber ich spüre meine Hände im Schoß liegen und wie ich aufbewahrt bin in diesem Leben, zwischen diesen Menschen, in dieser Behausung.
Love your hands! Raise them up and kiss them. Touch others with them, pat them together, stroke them on your face.
Love your mouth… This is flesh… Flesh that needs to be loved. Feet that need to rest and to dance; backs that need support; shoulders that need arms, strong arms.
Love your neck; put a hand on it, grace it, stroke it and hold it up.
And all your inside parts… you got to love them. The dark, dark liver - love it, love it, and the beat and beating heart, love that too. More than eyes or feet, more than lungs, more than your life-holding womb and your life-giving private parts, love your heart. For this is the prize. [Toni Morrison]
Diese Satzfragmente gehören zu einem längeren Abschnitt aus Toni Morrisons “Beloved”, der Geschichte einer ehemaligen Sklavin, die von der erlittenen Brutalität und Grausamkeit heimgesucht wird. Die in dem Text beschriebene Hinwendung zum Körper ist keineswegs eine Art Luxus-Selfcare, die sich jemand gönnt, der bereits alles mögliche erreicht hat. Sie ist nicht die Sahnehaube auf einem privilegierten und abgesicherten Leben, sondern eine Antwort auf Schmerz und Gewalt in unaushaltbaren Zuständen.
Auf Toni Morrison Worte bin ich aufmerksam geworden über Maria Popovas Blog
An einem schwülen Freitagnachmittag finde ich mich auf dem Sofa ruhend, während eine Freundin Avocado, Koriander und Karottenstreifen zu Sommerrollen wickelt, Sesam einstreut, gebratenes Ei, das Reispapier unter ihren Händen faltet und legt.
Regen war angekündigt, er kommt aber nicht, wir sitzen mit einem kleinen Pulk Freunden in der Wohnung, verspeisen drei Gänge verschiedenster Herrlichkeiten, kleckern mit dem sofort schmelzenden Eis, durch die geöffneten Fenster dringt kein Luftzug. Stehende, unbewegte Wärme, ein rares Phänomen so nah an den Bergen, der dicke unentschlossene Horizont über uns harrt aus. In der Dämmerung später stehen drei der Freunde auf dem Balkon an das Holz gelehnt, mit ihren nackten Füßen sich die Waden kratzend, Stand- und Spielbein wechselnd, verschollen in einer Unterhaltung, der ich akustisch nicht folgen kann - der Bewegung ihrer Lippen aber; so tagesmüde und vertraut.
Am Samstag schließlich kommt der Regen, kurz bevor es dunkel wird, gerade hernieder prasselnd, ohne Wind und Dynamik, in vertikalen Linien von oben nach unten, ich bin das nicht mehr gewohnt nach den vielen Stürmen in diesem Jahr.
Augustmond. Gegen 1 Uhr nachts werde ich wach und bin irritiert über die Helligkeit im Zimmer. Dann sehe ich den weißen Himmelskörper. Seine milchig gelbe Aura bescheint die umliegenden Wolken, die verwaschen blau in unmittelbarer Nähe und blassrosa in weiterer Distanz zu ihm leuchten. Mondhof wird dieser Ring genannt. Er entsteht durch die Beugung des Lichts an den Wassertropfen der Wolken. Der Mond wirkt groß, die dunklen Tiefebenen der Krater klar abgegrenzt von den höheren Flächen.
Ich wünschte, er wäre anfassbar und ich könnte meine Hand auf seine vernarbte Haut legen. Aber auch die Astronauten haben ihn nicht direkt, ohne Handschuhe, berührt. Es gab keinen textilfreien Kontakt zwischen den Menschen und ihm.
Nils Frahm: The whole universe wants to be touched
Wegen der geringeren Schwerkraft wiegen wir auf dem Mond nur 1/6 unseres irdischen Eigengewichts. Das wären in meinem Fall etwa 9 kg. Wir können auch sechs mal höher springen.
Dafür laufen wir sechs mal langsamer.
Langsam laufen. Etwas daran ist so faszinierend. Zum aus der Haut fahren. Und parallel zum wirklich drin sein, in der Haut und in den Gefühlen.
Am Tag darauf höre ich beim Nachhausekommen kurz vor Mitternacht eines der Schafe vom Hof an der Kreuzung blöken. Das ist nicht ungewöhnlich, nur scheint das Mähen etwas jünger und dringender als sonst. Gegen 5 Uhr werde ich wach, weil das Blöken jetzt sehr nah ist, als stünde das Schaf direkt vor der Tür. Nach einer Weile entfernt es sich wieder und ich schlafe ein. Am anderen Vormittag sehe ich es dann. Es ist ein noch junges, braunes Schaf, das allein durch die Gärten der Nachbarschaft irrt und konstant ruft und offensichtlich seine Herde sucht. Wahrscheinlich ist es gestern aus dem Hof ausgebüxt und hat sich auf dem Rückweg verlaufen. Verschiedene Nachbarn sind im Einsatz, um es einzukreisen, der Hofbesitzer ist auch dabei. Es ist nicht leicht, ein verstörtes Tier zu fangen, aber es gelingt und das Schaf wird auf dem Arm zur Herde zurück getragen.
Was mich noch beschäftigt: Das Schaf irrte in sichtbarer Entfernung zum Hof herum. Ich würde sagen, 50 Meter Luftlinie zwischen Schaf und Scheune, in der die Herde nachts steht. Dennoch hat es nicht zurück gefunden. Sind Schafe ohne ihre Sippe wirklich so schnell überfordert? Oder handelte es sich bei diesem Schaf um ein besonders desorientiertes? Ist das Schaf krank? Gehts dem Muttertier nicht gut? Warum hat der Rest der Herde nicht laut zurück geblökt, um das Schaf in die Scheune zu lotsen?
Die Ärztin sagt, ich darf frühestens in zwei bis vier Wochen mit dem Tanzen anfangen; ich soll es langsam und behutsam tun, viele Pausen einlegen, nicht in die Vollbelastung gehen, keine Sprünge, keine Verdrehungen und erst ab Oktober mit physiotherapeutischer Unterstützung in das reguläre Training einsteigen, falls keine Schmerzen auftauchen.
Während ich mental zu allem Ja sage und es absolut vernünftig finde, so vorzugehen, muss ich emotional ziemlich schlucken. Bis in den Winter all der Bewegung in mir nicht ungehindert nachgeben zu können, setzt mir ganz schön zu. Es konfrontiert mich noch mal mit der hartnäckigen Vorstellung, ich müsste auf eine bestimmte Art und Weise leben, tanzen, um mich dabei gut zu fühlen. Eigentlich weiß ich aus Erfahrung, dass dem nicht so ist.
Im Gegenteil, verhindert gerade die Vorstellung, wie etwas abzulaufen hat, den Genuss. Ich erinnere mich, unzählige Male im Sitzen getanzt zu haben, auf dem Boden liegend oder nur mit dem Nacken, nur mit den Fingern. Der Endorphinschauer setzt fast immer ein. Wenn ich nicht mehr will, als ich kann.
Ich kann es aber auch nicht beschönigen; mein Radius ist eingeschränkt und wird es vorläufig bleiben. Ich verliere etwas, jeden Tag. Dieser Kontrollverlust zieht Kreise. Er nagt sich durch meine Bilder, meine Lust, meine Kompetenzen und mein Sicherungssystem. Daneben gibt es Momente, in denen ich ahne, wie ich auf der anderen Seite dieser Angelegenheit, dieser Affäre, herauskommen könnte, wenn ich es schaffe, sie zu einer Liebesaffäre mit mir zu machen. Ich könnte weich sein, eine Wasserpflanze, Nixe, mitschwimmen, mit dem Strom, ich könnte dem Leben gehören, anstatt das Leben mir.
Im Meer ist dein Weg,
deine Pfade sind in großen Wassern.
[Psalmen]
Success has nothing to teach you spiritually after age thirty. It just feels good. Everything you learn at my age is by failure, humiliation, and suffering; things falling apart.
[Richard Rohr]
And by love, dear Richard, you learn by love, möchte ich hinzufügen. Aber das weiß und sagt er selber, an anderer Stelle, tausendfach.
Ach Richard, ich mag dich so, du alter bald sterbender Mann.
Das ist ein Stretching, das mir gefällt und das ich mittlerweile sogar aushalte: Dafür zu arbeiten, damit andere Menschen und ich sicher sind, handeln können, zugreifen, spielen und in Beziehung treten. Und gleichzeitig genau das immer wieder zu verlieren.
Auch die Illusion zu verlieren, etwas Lebendiges benutzen, verzwecken zu können.
Ein warmer windiger Abend, die Fenster offen, die Luft fährt in die Vorhänge, hebt sie zur Mitte des Raums, wo die Lampe schwankt. Ein guter Tag um Kimono zu tragen, ich möchte eine Zigarette rauchen, lasse es aber wegen dem gebrochenen Knochen. Stattdessen denke ich an die schönen Menschen gestern, aufgereiht vor der Lorettabar in gelben Metallstühlen, unverletzte Sommerkörper, an denen ich vorbei hinkte, in die Bar hinein; eine Performance der Langsamkeit.
Ich befinde mich in Woche 4 nach dem Bruch, ich zähle die Tage, ich bin stillgelegt und ausgebremst, es ist gut und es ist schlecht, es wechselt ab. Nachts sehe ich die Mondsichel aufgehen, höre den Grillen zu, rieche an Blumensträußen, die ich pflücke, langsam, sehr langsam, wie die Frau, die ich in vierzig Jahren sein werde mit langen weißen Haaren und Zeit an den Händen.
Ich arbeite, aber ich arbeite weniger praktisch als sonst und dieser Umstand gepaart mit all den Vorhaben, denen ich aktuell nicht nachgehen kann, lässt mich mit einer Menge an Zeit zurück, die selbst für mich fordernd ist. Ich bin in einer Zeitkapsel. Ich sitze in der Kapsel und tue nichts. Manchmal mache ich Liegestütze oder Sit-ups. Dann wieder nichts.
Ich erinnere mich, vor etwa zwei Jahren einen Sommer lang am Fluss gelegen und ebenfalls untätig gewesen zu sein. Gebrütet zu haben über dem, was kommen würde, was sich anbahnte, abzeichnete, eine Generalüberholung, die ich intellektuell nicht erfassen konnte, die aber anstand.
Und meine Hände, welche blutig sind vom Graben,
heb ich offen in den Wind, so dass sie sich verzweigen wie ein Baum.
Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum,
als hättest du dich einmal dort zerschellt in einer ungeduldigen Gebärde.
[Rilke]
Vielleicht sollte ich mich daran gewöhnen. Es einplanen - das große Nichts - damit rechnen. Alle zwei Jahre für einige Wochen ausgeschaltet zu sein. Vielleicht könnte ich damit vermeiden, immer wieder völlig überrascht in einer Zeitkapsel zu landen und tagelang damit zu hadern, dass es so gekommen ist? Wie wäre es, acht Wochen pro Jahr im Kalender für das große Nichts zu blocken, vorsorglich? Dick mit Edding alles durchstreichen, was dort geplant war oder die Seiten gleich ganz raus reißen. Und in den acht Wochen dann keinen Urlaub machen und nichts lernen und nichts vorhaben.
Die zwei Fuchsjungen am Waldrand sind jetzt fast erwachsen, mittelgroß. Eine Weile waren sie immer mit einem Wiesel zu sehen, verspielt und tollpatschig, immer im Dreierpack, die zwei kleinen Füchse und das Wiesel. Das geht jetzt wohl nicht mehr, die Freundschaft scheint vorbei. Ob das Wiesel mittlerweile als Beute in Frage kommt? Ich kenne keine Försterin oder Naturpädagogin, die mir das erklären könnte.
Ich will zurück in meine Normalität. Ich will tanzen, wandern, Probleme lösen, Kisten tragen, ins Zwerchfell atmen, mit gesundem Sommerkörper auf gelben Stühlen vor der Lorettabar sitzen und gescheid daher reden. Ich will aber auch diese lästige Kontrolle aufgeben, mit der ich das Leben so unnötig festhalte und es zu steuern versuche.
…und meine Hände hielten dich nicht so, wie sie dich manchmal halten, bang und hart…
[Rilke]
Ich bin weitergezogen zur amerikanischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. The age of innocence. The house of mirth. Ich mag die Protagonist*innen in Edith Whartons Romanen. Sie haben ständig Geldsorgen, müssen sich verbiegen, sind gebunden in Beziehungen und Sachzwängen, winden sich heraus, erleben einen kometenhaften Aufstieg und fallen zurück auf sich selbst. Dazwischen Momente von Freundschaft, eine Stunde am Feuer, eine Nacht auf dem Berg, in der sie alles verstehen, alles können, ein Neuanfang möglich ist, der aber aus Bequemlichkeit verschoben und aus Ängstlichkeit hinausgezögert wird, bis er nie stattfindet.
Dann ist es Montag und in der Institution steht eine kurzfristige finanzielle Umstrukturierung an, mit der ich viel zu tun haben werde.
Jeden Abend schaue ich zu den Spinnweben an der Decke und würde sie gern beseitigen, aber dazu werde ich noch eine ganze Weile nicht in der Lage sein. Den Versuch, im Garten ein paar welke Blätter wegzuschneiden, musste ich abbrechen, einen Zucchinikuchen zu backen ist eine Tagesaufgabe. Wie kann ein Knochen von der Größe einer Haselnuss ein solches Ausmaß an Behinderung in mein Leben bringen?
Ich trage jetzt jeden Tag meinen braunen Haus-Kimono. Der eigentlich ein Haori ist – ein hüftlanger jackenähnlicher Kimono, der ursprünglich Männern vorbehalten war bis die Mode sich änderte. Das heißt, bis Menschen die Mode änderten. Der Haus-Kimono hilft mir, meine Situation zu akzeptieren. Ja, dazu ist Kleidung in der Lage. Allein die Anwesenheit des braunen Stoffs, wie er über dem Stuhl hängt. Er erinnert in Form und Farbe an Yodas Mantel. Und ich denke sehr gern an Yoda. Sehr gern.
“On many long journeys have I gone. And waited, too, for others to return from journeys of their own. Some return; some are broken; some come back so different only their names remain.”
An einen Donnerstagnachmittag sitze ich auf einem Balkon in den Bergen und schaue zum Karwendel. So lange war ich nicht mehr hier. Die Wäsche jeden Tag draußen trocknen. An ihr riechen, wie am Kelch einer Blume. Die ganze Umgebung geht in die Wäsche ein: Heu, Sonne, Kühe, Holz, Staub und Hibiskus.
Ich schreite jetzt langsam durch mich hindurch. Auch meine Gefühle werden langsam, synchron zum Gehen in Zeitlupe. Die Verletzung am Fuß, dieser kleine gebrochene Knochen; so viel Kontrolle und Schnelligkeit hing daran. Ohne mein Wissen.
Es hat etwas von Würde, dieses getragene Gehen/Hinken. Überraschenderweise. Ich fühle mich wichtig, sogar groß, während ich langsam den Raum durchquere, ihn durchmesse als würde ich eine Planetenreise unternehmen. Vielleicht ist das sogar mein eigentliches Tempo? Ein Tempo, bei dem mein Becken und Herz und alles mitkommt?
Braucht es da noch das Zitieren von Moshé Feldenkrais, Mabel Elsworth Todd und all den vorherigen und folgenden Meisterinnen der Körperlehre? Wir sind unsere Bewegung. Was wir spüren und fühlen, wird unser Bild vom Ich.
Und daneben, darunter und dazwischen die andere Seite der Medaille. Das ist nur durchblutete Materie. Kurz bewohne ich sie. Kurz bewegt sie mich.
Beim Zen lade ich regelmäßig das Nichts ein. Nichtwissen, Nichtwollen, Nichtmehrauskennen in sich selbst. Die Lücke. Der unbeschriebene Raum.
Und dann wieder Jesus. Ihm gegenüber sitzen. In seine Liebe fallen, wie in einen Brunnen. Kopflos, bodenlos.
Wie viel Religion, Tradition und Experimentieren kann ich unterbringen in einem Leben? Ich sammel und höre nicht auf zu sammeln. Nicht nur Berufe, die ich hinter mir herziehe. Sinnlich und übersinnlich den Hals nicht vollkriegen. Es sickert ein, dass das mein Reichtum ist.
Bei einem Cateringjob vor zwanzig Jahren, für einen, den einen, Eliteveranstalter von Celebrity-Events, beim letzten Briefing vor dem dreitägigen Geburtstagsfest eines Adligen, nahm uns der Chef des Servicteams beiseite. Er schob ein Flipchart in die Mitte des Raums und schrieb unsere Namen darauf. Rund 40 an der Zahl. Hinter jedem Namen etwas Platz. Er sprach eine halbe Stunde von Träumen, Zielen und Motivation. Dann mussten wir einzeln vorgehen und auf den freien Platz hinter unserem Namen notieren, was wir mit all dem Geld (Hohn) tun würden, das uns winkte, wenn wir weiterhin 16 Stunden-Tage für den Eliteveranstalter kellnern würden. Was sozusagen unser life goal ist, wollte er wissen. Manche gingen vor und schrieben: Reisen. Andere: Luxuskarre. Wieder andere: Abfeiern. Ich ging vor und malte ein Fragezeichen hinter meinen Namen. Genau das hab ich bekommen.
Pünktlich gezahlt hat der Eliteveranstalter übrigens nie. Einmal musste ich drei Monate auf meinen Lohn warten und mit dem Anwalt drohen. Da war ich Anfang Zwanzig und wohnte in einer WG.
Weiterhin in der Woche jeden Tag zwei Gewitter. Die Hagebutte, nach dem Sturm im letzten Jahr mit Spanngurten und Stöcken stabilisiert, kracht wieder um. Diesmal final: Wurzel raus, aufgeworfene Erdbrocken, das gesamte Stamm- und Astwerk am Boden. Es wird eine Motorsäge aus dem Keller geholt und die Hagebutte verabschiedet. An der Leerstelle Flieder gepflanzt.
An dem einen heißen Wochenende im Juli nach einem Seminar mit Kolleg*innen auf dem gepflasterten Innenhof eines Werkgebäudes gesessen, zwischen den Scherben und Kippen. Wir wären gern komfortabler gesessen, aber Stadt und Stunde gaben es nicht her. Musik aus dem Handy gehört, mitgesungen, dabei zugeschaut, wie sich zwei Menschen verlieben. Wenn doch immer Sommer wär.
Ansonsten: wie es eine große, sehr heterogene Gruppe zusammenhält, fördert und voran bringt, begabte Lehrer*innen zu haben.
Und der klaffende Unterschied zu solchen Lehrenden, denen der Job nicht liegt. Die in was anderem gut sind, aber dennoch lehren wollen. Warum? Wenn Geld keine Rolle spielt und andere Optionen zu Hauf vorhanden?
Dieser kleine gebrochene Knochen verunsichert mich nachhaltig. Was heißt das für die Zukunft? Soll ich nur noch vorsichtig tanzen? Die Ärztin sagt, es handele sich um eine typische Tanzfraktur, alles wird gut, keine Schäden, keine Schmerzen. Ich glaube ihr und spüre zeitgleich den Moment, als plötzlich eine Lücke war, wo sonst harte Verlässlichkeit saß.
Manchmal mach ich mir Sorgen, dass ich Sachen herbeimeditiere.
An denen ich auch ignorant vorbei leben hätte können.
Aber das ist ein falsch abgebogener Gedanke. Niemand hat irgendwas in der Hand. Und: alle haben etwas in der Hand.
Ein Kind kommt zu Besuch. Ich google Kinderrezepte. 90% der Ergebnisse sind eine Form von Pizza. Ich mache Pizzastangen aus Fertigblätterteig. Das Kind ist skeptisch aber isst.
Hands are unbearably beautiful. They hold on to things. They let things go. [Mary Ruefle]
Nachdem ich eine Woche ständig bei Ärzten saß, Termine der nächsten zwei Monate umdisponierte, Nachrichten an indirekt Betroffene meiner Einschränkung schrieb und entsprechend meiner Möglichkeiten an einem Seminar teilnahm, ist jetzt erstmal nichts. Arbeiten am Schreibtisch (davon leider viel). Finanzamtsachen, auch viel. So geht es raus aus dem Juli und rein in den August.
Der iranische Freund der Freundin wird nun, nach zwei Jahren in der Asylbewerberunterkunft, einer verhinderten Abschiebung und endlosem zähen Ringen mitsamt eingeschalteter und privat gezahlter Anwältin vorerst in Deutschland bleiben dürfen und voraussichtlich eine Ausbildung beginnen. Ich will an der Stelle noch mal erwähnen, dass der Mann aufgrund der Teilnahme an politischen Demonstrationen im Iran akut gefährdet ist, daneben ein abgeschlossenes Studium, Berufserfahrung in Deutschland und Sprachkenntnisse auf C1 Niveau hat. Dass Unternehmen immer wieder bei den zuständigen Instanzen angefragt haben: Was müssen wir tun, damit er bleiben kann?
Menschen, die Anrecht auf Schutz, aber keine Freunde haben, die das Stundenäquivalent eines Teilzeitjobs investieren, um ihr Bleiberecht durchzusetzen, haben in diesem System keine guten Karten.
Anfang der Woche wippt der lila Sommerflieder schwer an den grünen Zweigen, ich schneide ein paar davon in die Vase, wo er seinen dunklen süßen Duft verströmt, auch nachts, wenn ich kurz wach werde. Es wird warm, es ist schwül, in der Institution stehen die Fenster auf Durchzug, die Jalousien sind runter gelassen, in den Besprechungen wird gefächert, alle verfügbaren Ventilatoren wurden aus dem Schrank gezerrt und befinden sich im Einsatz. Die Hitze, die Abwesenheit von frischer Luft, ein großes Thema hier in der Abteilung. Ein Thema, das fast zu Streitigkeiten führt, falls jemand vergessen sollte, rechtzeitig (!) zu verdunkeln. Was viel heißt in diesem Reich der Besonnenheit, wo so gut wie nie jemand eskaliert und allen ein lösungsorientiertes Miteinander wichtig ist. Auch mich macht die Wärme müde, ich kann die Müdigkeit aber irgendwie annehmen.
Kurz vor Feierabend eine so oder ähnlich in vermutlich jedem Bürokomplex dieser Welt täglich durchgespielte Performance: PC runterfahren, einpacken, verabschieden, Tasse in die Küche stellen, gehen, kurz darauf wiederkommen und auf das verwunderte Aufschauen der Kolleg*innen antworten mit:
Jacke vergessen.
Schirm.
Laptop da gelassen.
Handy.
Schlüssel!
Triumph, wenn es einem aufgefallen ist, ehe man das Gebäude verlassen hat, Anerkennungssieg, vor dem Einsteigen in die U-Bahn, Niederlage, wenn schon zu Hause gewesen.
An einem losen und sonnigen Freitag sitze ich mit zwei Freundinnen an einem Tischchen auf der Donnersbergerstraße, trinke Kaffee, freue mich am Zusammensein und wittere so vor mich hin. Ich hab jetzt eine neue Falte auf der Stirn, die nicht mehr weg geht. Auch nicht, wenn ich entspanne, auch nicht mit Massagen. Älter werden in guter Gesellschaft an einem Freitag bei 26 Grad. Was will man mehr. Später schlendere ich durch das ehemalige Zuhause-Viertel. Fast zwanzig Jahre hab ich hier gewohnt. WG, erste Wohnung, zweite Wohnung, immer Altbau, immer mittendrin, Frühling, Sommer, Herbst, Winter zwischen diesen Häuserzügen. Die noch bezahlbaren Genossenschaftsblöcke in Nachbarschaft zu den nicht zerbombten Villen, Hortensien in Gärten hinter schmiedeeisernen Toren, Hubschrauber, Sirenen, der irre Verkehr, die ruhige Ateliersiedlung, Außengastronomie in allen Preisklassen und Lautstärken, der Melonenmann und in der Nacht rot glühende Neonbuchstaben auf dem Dach des Krankenhauses: Schwesternschule.
Schwestern, Brüder, Freunde, Schule. Genau so ist es. Lernen wie Verbindung geht. Jeden Tag.
Später nehme ich an einer Fortbildung teil. An den U-Bahnstationen entlang der Leopoldstraße steigen an dem Abend viele erhitzte, halb verweinte, angetrunkene Zuschauer des Viertelfinales zu. Bei manchen der jungen Frauen frage ich mich, ob sie bereits operiert sind oder in Tutorials gelernt haben, Lippen voluminöser, Nasen dünner zu schminken, Konturen zu legen, eine Skulptur. Die Mädchen, die im Gang eng an meine Kollegin und mich gepresst stehen, erkundigen sich bei uns nach einer Bar in der Gegend. Die Kollegin gibt bereitwillig Auskunft, rät davon ab am Odeonsplatz auszusteigen und schickt sie weiter Richtung Schellingstraße. Eines der Mädchen bedankt sich höflich, macht Konversation, duzt und siezt uns abwechselnd, berichtet davon, lieber Stiefel als Highheels zu tragen, obwohl hohe Schuhe besser passen würden zum Kleid und deutet dabei auf ihr langes pinkes Kleid.
An der nächsten Haltestelle verabschiedet sich der Trupp. Ich empfinde Zärtlichkeit. Oder etwas, das ich empfinde, wenn ich ein Herde Fohlen gesehen hätte. Fohlen, die sich fein angezogen haben. Der Geruch des dm - Erdbeerparfüms hängt noch eine Weile im Waggon nach.
Eine Woche darauf sitze ich im Auto und fahre Landstraße, vorbei an alten Höfen, alten Gasthäusern, in Rottenbuch sehe ich die schönste Blühwiese dieses Sommers, Mohn in 4 Farben, Kornblumen und weißflockiges Mädesüß. Die Hügel auf und ab Richtung Füssen - romantisch felsige Bergzacken, das Versprechen des Königs, seine Schlösser - ich hüte mich und fahre nicht näher ran. Ab einem gewissen Näherungsgrad ist es in Füssen vorbei mit der Romantik und es geht nur noch um den Verkauf von Wurst. Auf den Höhen und in den Tälern des Allgäus dagegen ist es still. Und nass, wie jeden Tag in diesem Sommer. Es dampft und feuchtet warm aus dem Waldboden, konstant aufsteigender Dampf, in dem Vogelstimmen sprechen. Ich halte an, steige aus und schaue in Moos, Farn und Nadelbäume.
Zwei Stunden später, ich habe ein Zimmer in den Bergen bezogen und mich auf dem Festivalgelände umgeschaut, stehe ich unter einer Gruppe junger Birken, Licht fällt durch das Blattwerk und zittert auf den Gesichtern der anderen. Es ist mild, es regnet nicht, man schaut sich verwundert an und um: stehen wir hier wirklich unter Birken im Abendlicht? Später in der Nacht in einem überdachten Raum bastelt die Frau am DJ Pult in den Elektroteppich die Ode an die Freude hinein, Beethoven, allerdings reduziert auf eine simple Soundspur, ohne Text und ohne Anspruch.
alle Menschen werden Brüder
Ich bin so weich, wund und schorf von dem, was in den letzten Wochen in den Nachrichten, in mir und meinem Umfeld gelaufen ist, dass ich mich nicht schäme zu der Melodie dieser uralten Hoffnung hemmungslos zu heulen
seid umschlungen Millionen,
diesen Kuss der ganzen Welt
Eine Weile später liege ich am Boden und lausche einem Track, der aus nichts anderem besteht als dem Takt eines schlagenden Herzens. Ich schaue rüber zu Stella an meiner linken und dem syrischen Freund an meiner rechten Seite. Weiter hinten liegt der Techniker bei den Kabeln, dazwischen Menschen, deren Namen ich nicht kenne. Ich mag den Mix aus Anonymität und Sicherheit an diesem Ort. Es ist nicht leicht ihn zu erschaffen und ich bin den Veranstaltern dankbar für ihr Werk.
Was noch passiert: Im Laufe des Festivals breche ich mir einen kleinen Knochen im Fuß. Einen Teil der Zeit verbringe ich daher auf einem Mattenstapel am Rand sitzend und schaue anderen Leuten beim Bewegen zu. Währenddessen beschäftige ich mich mit Ängsten, die mir solche Bauchschmerzen machen, dass ich sie nicht einmal auf Deutsch denken kann. Ich denke sie auf Englisch – nur so kann ich sie an mich ran lassen – mit dem Abstand einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist.
Do I fall out of love, when I’m no longer strong?
When I’m not healthy?
Ich hatte ein paar Tage vorher die Ahnung, dass es an der Zeit sein könnte, diese Angst demnächst zu konfrontieren. Es ist eine, in meinem Fall, überlebensgroß aufgeblähte Angst. Sie schaltet sich häufig und hinterrücks in meine Gedanken und Handlungen und verhindert das weitere Ankommen in der Realität. In der Schwäche, Einsamkeit, Ohnmacht ein nicht wegzulösender Teil sind. Eingebettet in den ganzen guten Rest. Ich habe jetzt die Gelegenheit, mich auf dem relativ harmlosen Level einer zeitweisen Einschränkung meiner Beweglichkeit damit auseinandersetzen. Ich kann ja sagen dazu. Gefallen muss es mir nicht.
Was an dem Abend und am folgenden Morgen auf dem Mattenstapel passiert, erschließt mir jedenfalls eine für mich neue Situation. Während ich dort sitze und befürchte, dass meine Einschränkung geradewegs in die totale Kontaktlosigkeit führen wird, kommen verschiedene Personen vorbei, legen sich zu mir oder pausieren an meiner Seite. Man sieht meinem Fuß die Verletzung nicht an, deshalb sprechen wir nicht über Krankheiten und Unfälle, sondern verbringen einfach Zeit zusammen, unterhalten uns, legen den Arm umeinander oder schauen in die Menge der tanzenden Menschen.
Anderen beim Tanzen zuzusehen, ist nicht so gut, wie es selbst zu tun. Dennoch ist das Sitzen in dieser Atmosphäre mit Blick auf die Leute eine aufregende und zugleich tröstende Erfahrung. Ein großer Kanon spontan entstehender Choreographien, schillernd und roh. Die Parallelität so vieler verschiedener inkarnierter Gefühle, die mit den Gefühlen anderer in Austausch und Begegnung gehen. Etwas, das es so nie wieder geben wird und nur für den Moment auf dieser Welt existiert.
Ich gewöhne mich an das Nasswerden und wieder Trocknen, immerzu klebrig und feucht zu sein. Wenn es mal drei Stunden am Stück nicht regnet und sonnig ist, unterbreche ich sofort jede abwendbare Arbeit, ziehe mich aus und werfe mich auf die nächste Wiese.
Für die Institution nehme ich an einem Erste Hilfe Kurs teil. Er wird von einer der Feuerwachen im Münchner Westen ausgerichtet, in einem langgestreckten Gebäude, dessen Kantine wir uns in der Pause mit den Feuerwehrfrauen und -männern teilen. Alle in Uniform. Alle muskulär, fit, aufmerksam. Eine selten große Ansammlung von Menschen, die ausgeschlafen wirken, sprungbereit und pflichtbewusst auf körperlicher Ebene. Eine physisch deutlich andere Atmosphäre als die in der Institution, wo die Energie der Angestellten ganz klar im Kopf verortet ist, die Körper wie bloße Träger der kognitiven Leistung wirken, nicht wie etwas, das an sich ausstrahlt oder anzieht oder schneller sein könnte als das Gehirn.
Ich erinnere mich an das Theater und wie beim Erlernen einer neuen Rolle immer zuerst die Frage beantwortet werden musste: Wo ist das Zentrum dieser Person? Im Kopf oder Körper? Und falls diese Person ausgewogen scheint, wohin flüchtet sie sich im Notfall, in Gedanken oder in Taten?
Ich besuche Freunde in einer anderen Stadt. Vieles was ich auf dem Weg dorthin rechts und links entlang der Autobahn auf den Lärmschutzwällen wachsen sehe, gefällt mir besser als die Pflanzen in meinem Garten. Besonders zwischen Günzburg und Ulm hat sich großflächig Mohn ausgebreitet, Kamillen, Sauerampfer und violette heidekrautartige Blumen zwischen vom Wind bewegten Halmen. Warum ist es so schwierig diesen Wiesenlook um ein Haus herum hinzukriegen?
Die langen Tage gehen über in nach Heu riechende Nächte. Wenn es abends still wird in der Nachbarschaft, alle Traktoren runter sind vom Feld und der letzte Holzstapel zersägt ist, liege ich auf dem Balkon, gebettet im Zirpen der Grillen, dem Sommergesang. Mit den zumindest leicht ansteigenden Temperaturen gerate ich in eine schwerwiegende Jane Austen Phase und lese noch mal ihre späteren Werke, mitsamt mehrseitiger Fußnoten zu der aufwendigen Etikette, wer wen einladen, ansprechen, aus der Gesellschaft ausstoßen darf usw. Das Leben dieser Leute scheint so dämlich und vergeudet im Rückblick und doch hielten sie sich für die Kirsche auf der Sahnetorte. Ich zieh mir das alles rein, ein Buch nach dem anderen, es ist unterhaltsam, spitz, literarisch handfest und poliert und unterstützt mich darin, faul auf der Haut zu liegen und mich für die Kirsche auf meiner Sahnetorte zu halten. Danke, Jane.
Ende Juni ist es schon, als ich dieses Jahr zum ersten Mal im Fluss bade. Die starken Regenfälle und das Hochwasser haben Lauf und Kiesbänke verändert, eine Insel ist ganz verschwunden, mehrere neue Seitenarme sind entstanden und ein paar Dutzend ausgerissene Bäume liegen zerzaust in der Gegend. Ich könnte hier auch von Diskussionen im Umfeld schreiben, von Menschen, die rechte Narrative glauben, von meiner Bemühung, das Gespräch nicht einzustellen. Ich will nicht näher darauf eingehen, es ist schlimm genug, dass es zu meinen regelmäßigen Auseinandersetzungen gehört und Eingang gefunden hat in das Gedankengut von Leuten, die immer schon konservativ wählten und unbegreifliche Ansichten hatten, sich aber nicht extrem äußerten, nicht verächtlich, bis jetzt.
Dann kommt die Nacht, in der es 32 Grad hat, auch nach Mitternacht die Hitze zwischen den Häusern steht. Ich ziehe Turnschuhe an und laufe einmal vom Norden der Stadt bis runter in den Süden. Ich habe zu wenig getanzt diese Woche, das ist nicht gut, es bringt ein grundsätzliches Gleichgewicht in mir ins Wanken, ich brauche diese drei bis vier selbstzentrierten und selbstvergessenen Stunden. Ich kann nicht für andere da sein oder einen Beitrag leisten für unsere Gemeinschaft, wenn ich mich nicht regelmäßig auf diese bestimmte Weise hinein lasse in meine Vernunftlosigkeit. Die Nacht ist hell, im Rinnstein knistern die abgefallenen Lindenblüten, auf den Bürgersteigen sitzen Menschen, verschlungen in Umarmung, wiegen schlafende Babys, schauen Fußball, schwitzen Bier, stolpern. “Nimm mich mit”, schreit ein Junge einem Mädchen nach, “heute nicht, vielleicht morgen”, schreit sie zurück, auf ihrem Tretroller davon fahrend.
You do not have to be good,
you do not have to walk on your knees
for a hundred miles through the desert repenting.
You only have to let the soft animal of your body
love what it loves.
[Mary Oliver]
Dann regnet es, Regen ohne Unterlass. Am Morgen das Geräusch der Tropfen, während ich am Schreibtisch der Institution sitze und Griechisch transliteriere, das Geräusch der Tropfen später, als ich übergehe zu Polnisch, am Abend das gleiche Geräusch unter dem Dach der Zenschule. Ich gerate in eine lang nicht mehr dagewesene emotionale Neutralität und betrachte die Vorkommnisse der Woche fast ohne Beteiligung.
Samstagnacht bin ich unterwegs, durch die schwimmenden Straßen Richtung Kolumbusplatz, die Hochwasser tragende Isar milchig grau und reißend an meiner Seite, angeschwollen zu ihrer maximalen Breite. Dass etwas innerhalb kurzer Zeit an Umfang und Geschwindigkeit so zulegen kann. Diese starke unpersönliche Bewegung mitten in der Stadt und nur eine Mauer, die mich von den Wassermassen trennt. Eine Weile stehe ich in der Dunkelheit, werde weiter nass und sehe zu ihr hin: die Isar. Um kurz nach 4 betrete ich leise die Wohnung einer Freundin, wasche mein Gesicht und ziehe die nach Cannabis riechende Kleidung aus. In dem Club waren viele Mittezwanzigjährige. Nur wenige schienen sich entspannen zu können, ehe verschiedene substanzbasierte Betäubungen Wirkung zeigten.
Mitte der Woche kommt für ein paar Stunden die Sonne raus, sofort springen die Pfingstrosen, flirrt der Asphalt, wabert der Lindengeruch klebrig über die Gehwege an der Universität. Nicht nur ich bin falsch angezogen und stehe in der plötzlichen Hitze schwächelnd an einer Ampel. Ich gehe in die Praxis, arbeite, zwei Stunden später rollt das nächste Gewitter heran. Der Mohn auf den Erdhügeln um die Kiesgruben wippt ungeachtet der Bedingungen in seinem papierenen Gewand im Wind, hat sich sogar ausgebreitet ins angrenzende Gerstenfeld hinein. In der Nacht darauf läuft mir ein Fuchs vors Auto, ich schaffe es, rechtzeitig zu bremsen. Etwa alle drei Monate kommt das vor. Bis jetzt ist es immer gut gegangen.
Wir planen einen Ausflug in die Berge, es wird schwierig dafür eine Regenlücke zu finden. In der Vorbereitung lege ich zwei Garderoben raus, für schwülheiß und für nasskalt, eine davon werde ich in Plastik gewickelt im Rucksack mittragen. Die Wanderung am Tag darauf verläuft sonnig, anstrengend und wird flankiert von blaulila Enzianwiesen. Auf der Bergspitze benennen wir die gegenüber liegenden Gebirgsketten, essen Semmeln und fallen in die gipfeltypische mentale Lähmung: satt, fertig, zusammen. Später rutschen wir die nassen Steine zum kleinen Wasserfall runter und gleiten, japsen, tauchen in die Kälte ein. Egal wie salzig und verausgabt mein mäßig fittes Gestell ist, 30 Sekunden in diesen Wassern machen die Schinderei wieder gut. Auf dem Rückweg im Auto bin ich Beifahrerin und realisiere in einem Moment nahezu vollständigen Gewahrseins die fleischliche Wonne, meine Beine auf dem Armaturenbrett abzulegen, die vom Eis schmierigen Hände am Rock abzuwischen und rüberzusehen in die Gesichter meiner Gefährten. Da sind sie. Da seid ihr.
Zu Hause ruhe ich mich eine Stunde aus, fahre zur Station und nehme die U-Bahn Richtung Innenstadt. Die Menschen riechen nach Schampoo und ihren frisch gewaschenen Wochenendoutfits, die schwarzen Technohosen der Mädchen zwischen den Leinenkleidern erwachsener Frauen. In der Halle ist es dunkel und warm, nach dem Tanzen liege ich lange erschöpft am Boden und schaue zu den auf die Decke projizierten rot kreisenden Punkten. Jemand spricht leise in ein Mikro. Dass wir Menschen auch das sind. Am Boden liegende Körper, fähig zu Konsens und Gemeinschaft, mit tausenden Jahren von Übung darin, um ein Feuer zu sitzen, Verletzungen zu verarbeiten, einen Weg zurück zueinander zu finden. Der Mann am Mikro benennt kein Detail aus den Nachrichten, den Bildern, den Konflikten in denen jede und jeder von uns auch steckt. Er spricht nur davon, was wir noch sind. Mir kommen die Tränen. Weil ich eine solche Sehnsucht habe nach diesem noch.
Als ich nach Mitternacht zurückkehre schaukeln die Pfingstrosen im nächtlichen Garten, rosa Glühbirnen vor der schwarz glänzenden Rückwand des Schuppens. Ein paar von ihnen hole ich rein und schaue ihnen beim Öffnen zu.
You must be able to do three things:
to love what is mortal,
hold it,
your own life depends on it,
and when the time comes, to let it go,
to let it go.
Am Mittwochabend laufe ich am Feierabendverkehr entlang Richtung Isartor. Drei der anderen Zenschüler sind an der Kreuzung noch zum Italiener abgebogen, ich habe heute keine Zeit, sonst wäre ich mitgegangen.
Es spielen sich Muster ein, die mich faszinieren in ihrer schnell erhärtenden und Gemeinschaft stiftenden Funktion. Nach dem zweistündigen Stillsitzen auf den Kissen treten wir auf die Straße und witzeln über alles, was beim Stillsitzen in uns vorgegangen ist. Jede beschreibt ihren schlimmsten Moment (gastrointestinale Geräusche, eingeschlafene Beine, das verdammte Räucherstäbchen, der Gedanke an die letzte Wohnungsbesichtigung mit 75 anderen Münchnern…) Im Anschluss wird eine Bar angesteuert und auf dem Weg dorthin so laut wie möglich gelacht, fast geschrieen, ich persönlich nutze die Strecke um kurz jemanden an der Schulter zu berühren, ranzuziehen, irgendeine Art von emotionaler Begegnung nachdem ich zuvor den Gang durchs Nichts praktiziert habe. Vielleicht gibt es Leute, die in solch strengen Formen der Meditation ausbluten und immer weiter reingehen in die Isolation. Mir passiert das nicht. Ich pulsiere und greife nach der Materie, mehr als zuvor. Die Zeit ist nicht unendlich und jede Minute auf dem Kissen lässt mich Augen, Hände, Arme, die mich im Anschluss streifen, als Tore erkennen, durch die ich hindurch gehen will.
Am Samstag darauf treffe ich Kolleg*innen. Wir entwickeln körpertherapeutische Übungen und überprüfen sie auf ihre Wirkung. Es sind meist einfache Dinge, die wir versuchen, einfache Gesten, einfache Taten. Ausgreifen. Wegdrücken. Jemanden ablehnen, jemanden annehmen. Etwas wollen, etwas verabschieden. Eine Grenze klar machen. Realität testen. Verfügbare Mittel nutzen. Gefühle riskieren. Scham riskieren. Keine Angst mehr haben vor der eigenen Kraft. Groß sein, angewiesen sein.
Wir sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden.
Am Donnerstag unterhalte ich mich mit den Veranstaltern des wöchentlichen Tanzens in der Halle. Ich bin Anfang des Monats dort in den Altar gekracht. Direkt hinein, in Blumen, Teelichter, Buddha und den ganzen anderen Kram. Der Altar steht eigentlich immer in einer der Ecken beim Eingang und leuchtet von der Stelle als Lichtquelle und Haltepunkt in die Nacht. An dem besagten Abend stand der Schrein aber vor dem DJ Pult. Ich dachte mir schon beim Reinkommen, dass das keine gute Idee ist, hab den Gedanken aber schnell wieder vergessen, weil die Musik der Hammer war und ich raumgreifender als sonst getanzt habe. Interessanterweise war im Verlauf des Abends ich die Person, die dann versehentlich an diesen Altar rankam und ihn halb umgerissen hat. Ich war etwas perplex nach dem Reinkrachen, hab ein paar der Kerzen wieder aufgestellt, mich abgetastet und, als der Techniker ihn verschoben hatte, weiter gemacht.
Im Nachhinein kam mir das symbolisch vor. Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich in solider Outdoorkleidung auf einem soliden Berg saß und mich beim Betrachten eines gegenüberliegenden Bergmassivs nicht des Gefühls erwehren konnte, zu sicher zu sein. Mich zu sicher zu verhalten. Kontrolliert. Ich habe von diesem Moment ein Foto, das ein Freund machte, der schräg hinter mir stand auf dem Berg. Das Foto habe ich oft angeschaut und schließlich einen Satz darunter geschrieben, den Rilke oder Richard Rohr oder beide, ich weiß nicht mehr wo, gesagt haben:
Eins muss ich wieder können; fallen.
Mit den Veranstaltern spreche ich am Donnerstag nicht über das Fallen oder den Altar, Dichter und Symbole. Ich will wissen, welche Schwierigkeiten sie haben, wie oft sie sich finanziell ruiniert haben, was es ihnen abverlangt, jede Woche über Jahre gegen viele Widerstände eine aufwendige Logistik, Vision und Community zu unterhalten. Ob sie gern eine Pause hätten, Veränderung, Vertretung? Nein, sagen beide. Sie und er. Wir wollten das, vom ersten Tag. Bevor es da war. Bevor es all das gab.
Ein Gestirn werden. 4,5 Milliarden Jahre brennen.
Auf den Feldern kreisen die Milane tief. Am Wegrand gedeihen Kamillen, es duftet nach Heu und das Zirpen der Grillen begleitet mich. Zweimal werde ich an regenreichen Tagen komplett durchnässt, weil ich zu Terminen muss und nicht die 10 Minuten Zeit hab, mich unterzustellen. Das ist der Preis dafür, dass ich nie einen Schirm mitnehme, es fast immer gut geht und ich mir dieses kleine Gewicht spare.
Am Ende der Woche melde ich mich telefonisch bei Lydia, einer Nachbarin, die ich beim letzten Weihnachtsfest hier im Ort kennengelernt habe. Sie kommt noch am gleichen Nachmittag vorbei, bringt Rosen aus ihrem Garten und bleibt zum Kaffee. Lydia ist die einzig mir bekannte 86 -Jährige, die einen Kopfstand kann. Sie hat 25 Jahre mit einem Mann und im Anschluss 25 Jahre mit einer Frau gelebt. Sie sagt, beides war furchtbar, sieht dabei aber nicht aus, als ob irgendwas furchtbar war. Sie sieht großartig aus: geschmeidig und sehr schlau. Im Obergeschoss ihres Hauses befand sich bis vor Kurzem eine umfangreiche Sammlung hochwertiger Kostüme aus den Sechzigern und Siebzigern, die sie schließlich aus Platzgründen an einen Kostümbildner der Wiener Oper verkaufte, der extra dafür mit einem Transporter und zwei Helfern anreiste. Lydia macht jeden Morgen Yoga, ist als Teenager aus der DDR geflohen und hängt manchmal in merkwürdigen Verdrehungen aus dem Fenster, um ihre Rosen an der Hauswand festzuklemmen. Ich bin gespannt, wie es mit ihr weitergeht.
Morgen bin ich bei einem Workshop, in dem wir uns eine Stunde im Kreis drehen. Ich hoffe, mir wird nicht schlecht.
Mein neues Leben ohne Zeitdruck breitet sich aus, ich werde geschmeidig und höre dem Vogelgespräch zu. An manchen Vormittagen tu ich nichts als im Bett Kaffee zu trinken und später Flieder in eine Vase zu schneiden. In der Institution vertrete ich zwei fehlende Teammitglieder ohne mich von der dreifachen Aufgabenmenge gehetzt zu fühlen. Allein zu wissen, dass abends keine mehrstündige Lerneinheit wartet, weitet mich bis an den Horizont und zurück.
Dann nehme ich in dem anderen Beruf an einer Weiterbildung teil, zu der viele vertraute Kolleg*innen anreisen. Wir befassen uns mit einem bestimmten Entwicklungsstadium vor dem 6. Lebensjahr und die damit einhergehende Verkörperung sowie das Ausbleiben der Verkörperung, wenn die Umstände diese verhindert haben. Es geht in dem Modul ans Eingemachte, auch für mich; nach den Übungen sitzen häufig Leute vor der Tür und versuchen, sich wieder zu fangen.
Am zweiten Tag kommt die Sonne raus. In der Pause legen wir Isomatten in den Hof, essen Nudelsalat, schauen den Handwerkern der Glaserei beim Abladen von Werkzeug und dem Cateringservice beim Verhandeln mit Kunden zu. Es gibt in dieser Stadt so wenig freie Flächen, dass Handlungen, Pausen, Erledigungen sehr gedrängt, manchmal fast gestapelt stattfinden. Kinder wickeln auf Einparkversuch auf Seniorengymnastik auf Videocall auf Flaschensammeln. Ein unendliches Teilen, Mithören und Mitansehen aller Bewohner und ihrer Bedarfsbewältigung; anstrengend, schön, oft zu nah.
An einem der nächsten warmen Abende finde ich mich mit meinem älteren Selbst auf einer Holzbank am Eingang der Halle sitzend. Hinter uns der dunkle Park, punktuell erhellt von weißen Lichtkegeln, vor uns Ikeatüten, in denen die Veranstalter Kerzen und Lampions transportieren. Aus der Halle kommen die letzten versprengten Gruppen von Tanzenden heraus, schließen Fahrräder auf, schnallen Rucksäcke an Gepäckträger, als einer der Vorbeikommenden zu uns rüber schaut, kurz inne hält und sagt: ihr zwei seht euch ähnlich.
An dieser Stelle muss ich einmal erwähnen, dass mein älteres Selbst sich optisch nicht deutlicher von mir unterscheiden könnte. Sie ist groß, dunkelhaarig und dunkeläugig, sie hat die Aura und Haltung einer Frau, die einundhalb Jahrzehnte in einer norditalienischen Metropole gearbeitet hat in einer der härtesten kreativen Branchen überhaupt. Was der Mann mit Ähnlichkeit vermutlich meint und erkennt, ist dass wir über die letzten Wochen zueinander hingewachsen sind, anders kann ich das nicht beschreiben. Zwei Mal standen wir in einiger Entfernung unter den Bäumen im Park, warfen uns verstohlene Blicke zu, verabschiedeten uns zögerlich, um schließlich beim nächsten Aufeinandertreffen ein vollwertiges Gespräch zu beginnen. Im Juli werden wir in den Bergen ein Zimmer mieten und drei Tage miteinander tanzen. Es wird daher Zeit, dem älteren Selbst einen eigenen Name zu geben. Ich nenne sie hier der Einfachheit halber Stella.
In der darauf folgenden Woche feiern zwei Freunde ihren Geburtstag an einem anfänglich bewölkten und dann sehr milden Tag im Mai. Sonnenlicht bricht durch das junge Laub, unter dem wir stehen, Kastanienblüten segeln von den Zweigen und verfangen sich in unserem Haar. Jede Person, mit der ich mich unterhalte, trägt diesen trocken knisternden Kopfschmuck aus rosaweißen Blüten. Ein japanisches Manga ist nichts dagegen - so viel überbordende Poesie - niemandem als der Natur selbst würde ich eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen. Obwohl. Nein. Ich würde allen eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen, inklusive mir selber. Auch dieser Tag und dieses Fest ereignen sich auf einer der gemeinsam genutzten freien Flächen. Ich kenne fast niemanden, der in dieser Stadt lebt und einen Garten oder auch nur größeren Balkon hat, private Feiern sind somit häufig öffentlich und nur wenn ich viele Kilometer entfernt an anderen Orten in anderen Zusammenhängen bin, fällt mir wieder ein, dass draußen auch anders gefeiert werden kann: in dicht eingewachsenen, von einer oder maximal zwei Familien genutzten Gärten, Hortus conclusus, Kleinode, florale Schatullen, von Pflanzen begrenzter eigener Raum.
Am Donnerstag sammel ich mich eine halbe Stunde durch das Brennnesselfeld am Waldrand und verarbeite die Ernte anschließend zu Pesto. Dann fahre ich zur Zenschule und trinke Tee mit einem pensionierten schwedischen Professor, der gruppendynamische Prozesse erforscht hat. Seine mit den Studierenden getesteten Interaktionsvorschläge inspirieren mich eine Abwandlung davon eventuell in der Arbeit zu verwenden. Eine der von ihm entwickelten Übungen besteht aus 5 Handlungen/Schritten, die verkörpert, d.h. mit eindeutig körperlichem Ausdruck durchlaufen werden:
how to know what you want
how to ask for it
how to make an effort
how to end the effort
how to accept the result
Dann findet die letzte Prüfung statt, ich stehe im sechsten Stockwerk eines Innenstadtgebäudes und liefer die komprimierte Version des in den letzten Jahren angesammelten Wissens ab. Ich beschließe, richtig dick aufzutragen und keine Eventualität unerwähnt zu lassen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Beisitzer und Protokollführende ob meines Tempos sehr schnell mitschreiben müssen, was mir eine perverse kleine Lust verschafft und mich veranlasst, einen Abstecher in die somatoformen Störungen zu unternehmen, nur um auszuführen, warum der darliegende Fall nicht auf eine solche zurückzuführen ist. Ich sehe die Vorsitzende lächeln und weiß, dass sie weiß, was ich hier tue und dann baue ich extra für sie ein Benzodiazepinabhängigkeits-Szenario und den Abriss zweier krankhafter Persönlichkeitsakzentuierungen in die Diskussion ein, damit wir uns weiterhin anlächeln und verstehen können.
Ich gebe zu, diese Prüfung und was in der Vorbereitung dafür nötig war, hat mich nicht gerade zu einem milderen Menschen gemacht. Ich werde einige Zeit damit zubringen müssen, mein verhärtetes Gesamtgewebe wieder aufzuweichen. Es war auch die erste Prüfung dieser Art, in der ich so etwas wie Ambition entwickelt habe und hinterher nicht sofort alles vergessen wollte.
Ab Freitagnachmittag schwimme ich 48 Stunden lang auf einer Adrenalinwelle, fühle mich abwechselnd entrückt von und hineingerammt in diese Erde, kreische in Telefone und springe an Leuten hoch, die mich im Raum herumwirbeln. Unter anderem der kleine syrische Mann, der regelmäßig beim Tanzen dabei ist und alle anlacht. Ich frage ihn, ob er wieder sein Parfüm aufgelegt hat. Ein Mal im Jahr fährt er zu Verwandten in die Türkei und lässt sich bei der Gelegenheit in einer dort ansässigen syrischen Parfümerie einen eigens für ihr komponierten Duft mischen. Es ist eine opulente Mixtur und ich kenne niemanden außer ihn, der das tragen würde, aber ich mag die große Geste und bei der Begrüßung für Sekunden in seine ausladende und rosengetränkte Welt einzutauchen.
Es findet sich, dass eine Frau aus der Zenschule zeitgleich zu meiner Prüfung ein paper in ihrer Forschungseinrichtung abgegeben hat. Wir stehen nach dem Meditieren auf der Straße, öffnen Champagner und liegen einander in den Armen bevor wir in einer lauten überfüllten Bar die Köpfe zusammenstecken und Ausschweifungen der nächsten Tage planen.
Dann schneeregnet es die ganze Woche, ich mache Feuer, werfe mehrere Kilogramm Papier weg, koche jeden Tag und schlafe. Vor dem Ofen liegend bewege ich mich langsam zu einer Tonbandaufnahme aus den 80’er Jahren, auf der eine schwedische Feldenkraislehrerin mit hypnotischer Stimme sagt: If you want to learn something new, don’t take it serious. Allow yourself to play.
Der Blauregen rankt sich die Außentreppe hoch und platzt in hunderten violetten Knospen. Im Baumarkt leihe ich ein Schleifgerät, um zwei Tischplatten und Holzkisten zu bearbeiten, im Keller ziehe ich die alte Nähmaschine aus dem Regal und kürze damit einen Stapel Röcke. Die Wolle im Schrank habe ich bereits nach Farben und Garnstärke sortiert, der nächste Webteppich ist in Planung, ich kann nicht glauben, mich all diesen wunderbaren Dingen ohne Zeitdruck widmen zu dürfen.
Es ist daneben auch die Woche der ausfallenden S-Bahnen, gesperrten Streckenabschnitte und des eisigen Windes. Ich hätte nichts dagegen in lauen Sommernächten an unüberdachten Stationen im Nirgendwo stundenlang auf etwas zu warten, in diesem Wetter aber; es macht einen kaputt. Es macht einen kaputt bis ins Mark. Ich bin so überzeugt von und angewiesen auf den Öffentlichen Nahverkehr und deswegen hasse ich ihn manchmal zutiefst und gründlich.
Eine Freundin, die immer schon viel gewagt hat, um weniger privilegierte Menschen zu unterstützen, berichtet von einer Entscheidung, mit der sie sich nun die nächsten Jahrzehnte auf einen sehr herausfordernden Weg einlassen wird. Ich bin fasziniert und sprachlos, woher sie diese Bereitschaft zur Aufgabe ihrer Bequemlichkeiten nimmt. Neben ihr komme ich mir manchmal vor, als würde ich Pampers tragen.
Ab Mitte der Woche kündigen sich anreisende Kolleg*innen, eine ersehnte Weiterbildung und wärmere Temperaturen an, ich liege vorm Fenster und schaue in den fliederfarbenen Sonnenuntergang. Da geht er hin, der graupelige April.
Samstag sitze ich in einer österlich leeren S-Bahn, höre sentimentale rumänische Musik und notiere Ideen für einen Workshop mit Kolleg*innen später am Tag. Es ist warm und es wird noch wärmer werden. Ich bin falsch angezogen, übermüdet und trage zu viele Bücher in meinem Rucksack - der krachend blaue Himmel aber und die auf dem Asphalt klebenden rosa Blüten - es ist real und plakativ Frühling und kein Kummer wird mir diesen Tag trüben.
Wir arbeiten eine Weile in der Praxis eines Freundes, ehe wir uns mit Kaffeetassen auf den Bordstein zur Straße raus setzen, blinzelnd in all das Licht von allen Seiten. Es ist, obwohl man ja schon eine Zeit lang auf der Erde verweilt und weiß, wie Jahreszeiten gehen, erneut verblüffend mit welchem Genuss es sich sitzen lässt auf einem Bordstein ab Ende März in dieser Stadt. Wie die winterliche Verrohung und Zusammengefaltetheit der Gedanken einem weiter gestreuten Sichtfeld weicht, sich Vorübergehende anplaudern lassen oder direkt dazusetzen, eine Schicht Kleidung nach der anderen ausziehend. Ach, unsere fabelhaften Körper. Da sind sie wieder.
Einige Stunden später, in der Nacht, stehe ich mit Menschen, die Teile einer Musikanlage in einen Sprinter räumen, an den Ausläufern eines kleinen Parks mit alten hohen Bäumen, die Magnolien sind nicht erfroren, die Dunkelheit riecht süß. Kurz vorher war mein zehn Jahre älteres Selbst durch die Menge gelaufen, in Eile, ihr in die Ecke gepfeffertes Shirt greifend, Tasche, Schuhe, mit einer Hand im Vorbeilaufen nach meinem Arm fassend, bist du nächste Woche da, hat sie gefragt, und ich hab mich umgedreht und sie angeschaut und genickt. Es hat uns beiden nicht gefallen, das Set heute, ich habe mich sogar eine Weile an die Wand gesetzt und nur zugeschaut. Am Ende jedoch, in der letzten halben Stunde ist es gut geworden. Der schlaksige Techniker, der nur selten hinter den Kabeln hervorkommt, mein älteres Selbst, ein gehörloser sehr höflicher Mann und ich fanden in einer Ecke der Halle zusammen und beendeten diesen Monat mit ausgestreckten Armen.
Am Mittwoch ist der erste Teil der Prüfung durch, einen Nachmittag lang liege ich in einer Art Erleichterungslähmung auf dem Wohnzimmerteppich und bewege mich nicht. Dann schaue ich in die verbliebenen Unterlagen, zimmere den restlichen Stoff in die freien Schlitze meines Kalenders und fange an. Es ist viel, es ist machbar, es ist bewältigbar, ich darf nicht nachlassen, der letzte Sprint, ich will das, ich kann das. Eine Kollegin erzählt, dass sie in der mündlichen Abnahme ohnmächtig geworden ist. Tatsächlich ohnmächtig, mittendrin. Die Damen und Herren des Prüfungsausschusses zogen sie vom Boden hoch, informierten sie darüber, jetzt ein Taxi zu rufen und die Befragung zu beenden. Nein, hat die Kollegin darauf erwidert, ich bleibe hier. Und dann hat sie den Fall gelöst: Diagnostik, Abgrenzung, Recht, Zuständigkeit, Behandlungsplan und Krisenintervention. Ich fühle mich gut unterhalten, als sie beim Dessert in einer Landgaststätte davon berichtet, hoffe für mich selbst aber nicht, in Kürze eine solch spektakuläre Anekdote auftischen zu können.
Die Nachbarfreunde kommen und andere Freunde und nochmal andere Freunde. Wir trinken Champagner, jemand kocht, jemand macht Tiramisu, es treffen Käseplatten ein, Hagebuttenmarmelade, Narzissen, es werden Eier gesucht, Gesichter in die Sonne gehalten, Pfadfinder- und Arielle die Meerjungfrau-Lieder gesungen, die Spülmaschine läuft dreimal am Tag, mehrere Personen tragen einen Sessel aus dem Haus und vor dem Fenster blüht die Zierquitte, korallfarben, als wäre das alles noch nicht schön genug.
Dann kracht der Auspuff ab, ein Bekannter bestellt Ersatzteile und repariert das Auto. In der Zwischenzeit fahre ich ohne Auspuff, das heißt ohne Schalldämmung übers Land, mit röhrendem Motor, wie die Dorfjungs hier, wenn sie 18 sind. An jeder Ampel möchte ich in Grund und Boden versinken.
Unter der Woche gehe ich ins Kino, um Dune zu sehen und ja, Wüsten und Science Fiction, eine Kombination, deren Wirkung für mich nie enden wird. Das Gelübde des Ordens: Ich werde mich meiner Angst stellen. Ich werde meine Angst über mich hinweg und durch mich hindurch gehen lassen.
Gelübde spielen auch beim Zen eine Rolle. Ich habe einige Wochen dem tief vibrierenden japanischen Chanten der Gruppe zugehört, ehe mir klar wurde, dass hier rezitiert wird, was ich vor zehn Jahren auf einem Zettel notiert und an die Küchenwand geklebt hatte: Wie zahllos die fühlenden Wesen auch sein mögen, ich gelobe, sie alle zu retten.
Der Größenwahn und die Unmöglichkeit des Einlösens dieser Worte; das interessiert mich natürlich. Gedehnt, gestretcht zu werden von einem Versprechen; übermenschlich und total. Es gibt viele Übersetzungen, Interpretationen und viertägige Seminare, um aus diesen Zeilen schlau zu werden. Ich weiß, ich werde es nicht. Und während einige Menschen beim Singen dieser Zeilen Leistungsstress kriegen, passiert in mir das Gegenteil. Ich fühle mich geliebt. Als hätte sich jemand entschlossen, alles erdenkliche für mich zu tun.