Empfangen

Der iranische Freund der Freundin wird nun, nach zwei Jahren in der Asylbewerberunterkunft, einer verhinderten Abschiebung und endlosem zähen Ringen mitsamt eingeschalteter und privat gezahlter Anwältin vorerst in Deutschland bleiben dürfen und voraussichtlich eine Ausbildung beginnen. Ich will an der Stelle noch mal erwähnen, dass der Mann aufgrund der Teilnahme an politischen Demonstrationen im Iran akut gefährdet ist, daneben ein abgeschlossenes Studium, Berufserfahrung in Deutschland und Sprachkenntnisse auf C1 Niveau hat. Dass Unternehmen immer wieder bei den zuständigen Instanzen angefragt haben: Was müssen wir tun, damit er bleiben kann?

Menschen, die Anrecht auf Schutz, aber keine Freunde haben, die das Stundenäquivalent eines Teilzeitjobs investieren, um ihr Bleiberecht durchzusetzen, haben in diesem System keine guten Karten.

Anfang der Woche wippt der lila Sommerflieder schwer an den grünen Zweigen, ich schneide ein paar davon in die Vase, wo er seinen dunklen süßen Duft verströmt, auch nachts, wenn ich kurz wach werde. Es wird warm, es ist schwül, in der Institution stehen die Fenster auf Durchzug, die Jalousien sind runter gelassen, in den Besprechungen wird gefächert, alle verfügbaren Ventilatoren wurden aus dem Schrank gezerrt und befinden sich im Einsatz. Die Hitze, die Abwesenheit von frischer Luft, ein großes Thema hier in der Abteilung. Ein Thema, das fast zu Streitigkeiten führt, falls jemand vergessen sollte, rechtzeitig (!) zu verdunkeln. Was viel heißt in diesem Reich der Besonnenheit, wo so gut wie nie jemand eskaliert und allen ein lösungsorientiertes Miteinander wichtig ist. Auch mich macht die Wärme müde, ich kann die Müdigkeit aber irgendwie annehmen.

Kurz vor Feierabend eine so oder ähnlich in vermutlich jedem Bürokomplex dieser Welt täglich durchgespielte Performance: PC runterfahren, einpacken, verabschieden, Tasse in die Küche stellen, gehen, kurz darauf wiederkommen und auf das verwunderte Aufschauen der Kolleg*innen antworten mit:

Jacke vergessen.
Schirm.
Laptop da gelassen.
Handy.
Schlüssel!

Triumph, wenn es einem aufgefallen ist, ehe man das Gebäude verlassen hat, Anerkennungssieg, vor dem Einsteigen in die U-Bahn, Niederlage, wenn schon zu Hause gewesen.

An einem losen und sonnigen Freitag sitze ich mit zwei Freundinnen an einem Tischchen auf der Donnersbergerstraße, trinke Kaffee, freue mich am Zusammensein und wittere so vor mich hin. Ich hab jetzt eine neue Falte auf der Stirn, die nicht mehr weg geht. Auch nicht, wenn ich entspanne, auch nicht mit Massagen. Älter werden in guter Gesellschaft an einem Freitag bei 26 Grad. Was will man mehr. Später schlendere ich durch das ehemalige Zuhause-Viertel. Fast zwanzig Jahre hab ich hier gewohnt. WG, erste Wohnung, zweite Wohnung, immer Altbau, immer mittendrin, Frühling, Sommer, Herbst, Winter zwischen diesen Häuserzügen. Die noch bezahlbaren Genossenschaftsblöcke in Nachbarschaft zu den nicht zerbombten Villen, Hortensien in Gärten hinter schmiedeeisernen Toren, Hubschrauber, Sirenen, der irre Verkehr, die ruhige Ateliersiedlung, Außengastronomie in allen Preisklassen und Lautstärken, der Melonenmann und in der Nacht rot glühende Neonbuchstaben auf dem Dach des Krankenhauses: Schwesternschule.

Schwestern, Brüder, Freunde, Schule. Genau so ist es. Lernen wie Verbindung geht. Jeden Tag.

Später nehme ich an einer Fortbildung teil. An den U-Bahnstationen entlang der Leopoldstraße steigen an dem Abend viele erhitzte, halb verweinte, angetrunkene Zuschauer des Viertelfinales zu. Bei manchen der jungen Frauen frage ich mich, ob sie bereits operiert sind oder in Tutorials gelernt haben, Lippen voluminöser, Nasen dünner zu schminken, Konturen zu legen, eine Skulptur. Die Mädchen, die im Gang eng an meine Kollegin und mich gepresst stehen, erkundigen sich bei uns nach einer Bar in der Gegend. Die Kollegin gibt bereitwillig Auskunft, rät davon ab am Odeonsplatz auszusteigen und schickt sie weiter Richtung Schellingstraße. Eines der Mädchen bedankt sich höflich, macht Konversation, duzt und siezt uns abwechselnd, berichtet davon, lieber Stiefel als Highheels zu tragen, obwohl hohe Schuhe besser passen würden zum Kleid und deutet dabei auf ihr langes pinkes Kleid.

An der nächsten Haltestelle verabschiedet sich der Trupp. Ich empfinde Zärtlichkeit. Oder etwas, das ich empfinde, wenn ich ein Herde Fohlen gesehen hätte. Fohlen, die sich fein angezogen haben. Der Geruch des dm - Erdbeerparfüms hängt noch eine Weile im Waggon nach.

Eine Woche darauf sitze ich im Auto und fahre Landstraße, vorbei an alten Höfen, alten Gasthäusern, in Rottenbuch sehe ich die schönste Blühwiese dieses Sommers, Mohn in 4 Farben, Kornblumen und weißflockiges Mädesüß. Die Hügel auf und ab Richtung Füssen - romantisch felsige Bergzacken, das Versprechen des Königs, seine Schlösser - ich hüte mich und fahre nicht näher ran. Ab einem gewissen Näherungsgrad ist es in Füssen vorbei mit der Romantik und es geht nur noch um den Verkauf von Wurst. Auf den Höhen und in den Tälern des Allgäus dagegen ist es still. Und nass, wie jeden Tag in diesem Sommer. Es dampft und feuchtet warm aus dem Waldboden, konstant aufsteigender Dampf, in dem Vogelstimmen sprechen. Ich halte an, steige aus und schaue in Moos, Farn und Nadelbäume.

Zwei Stunden später, ich habe ein Zimmer in den Bergen bezogen und mich auf dem Festivalgelände umgeschaut, stehe ich unter einer Gruppe junger Birken, Licht fällt durch das Blattwerk und zittert auf den Gesichtern der anderen. Es ist mild, es regnet nicht, man schaut sich verwundert an und um: stehen wir hier wirklich unter Birken im Abendlicht? Später in der Nacht in einem überdachten Raum bastelt die Frau am DJ Pult in den Elektroteppich die Ode an die Freude hinein, Beethoven, allerdings reduziert auf eine simple Soundspur, ohne Text und ohne Anspruch.

alle Menschen werden Brüder

Ich bin so weich, wund und schorf von dem, was in den letzten Wochen in den Nachrichten, in mir und meinem Umfeld gelaufen ist, dass ich mich nicht schäme zu der Melodie dieser uralten Hoffnung hemmungslos zu heulen

seid umschlungen Millionen,
diesen Kuss der ganzen Welt

Eine Weile später liege ich am Boden und lausche einem Track, der aus nichts anderem besteht als dem Takt eines schlagenden Herzens. Ich schaue rüber zu Stella an meiner linken und dem syrischen Freund an meiner rechten Seite. Weiter hinten liegt der Techniker bei den Kabeln, dazwischen Menschen, deren Namen ich nicht kenne. Ich mag den Mix aus Anonymität und Sicherheit an diesem Ort. Es ist nicht leicht ihn zu erschaffen und ich bin den Veranstaltern dankbar für ihr Werk.

Was noch passiert: Im Laufe des Festivals breche ich mir einen kleinen Knochen im Fuß. Einen Teil der Zeit verbringe ich daher auf einem Mattenstapel am Rand sitzend und schaue anderen Leuten beim Bewegen zu. Währenddessen beschäftige ich mich mit Ängsten, die mir solche Bauchschmerzen machen, dass ich sie nicht einmal auf Deutsch denken kann. Ich denke sie auf Englisch – nur so kann ich sie an mich ran lassen – mit dem Abstand einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist.

Do I fall out of love, when I’m no longer strong?
When I’m not healthy?

Ich hatte ein paar Tage vorher die Ahnung, dass es an der Zeit sein könnte, diese Angst demnächst zu konfrontieren. Es ist eine, in meinem Fall, überlebensgroß aufgeblähte Angst. Sie schaltet sich häufig und hinterrücks in meine Gedanken und Handlungen und verhindert das weitere Ankommen in der Realität. In der Schwäche, Einsamkeit, Ohnmacht ein nicht wegzulösender Teil sind. Eingebettet in den ganzen guten Rest. Ich habe jetzt die Gelegenheit, mich auf dem relativ harmlosen Level einer zeitweisen Einschränkung meiner Beweglichkeit damit auseinandersetzen. Ich kann ja sagen dazu. Gefallen muss es mir nicht.

Was an dem Abend und am folgenden Morgen auf dem Mattenstapel passiert, erschließt mir jedenfalls eine für mich neue Situation. Während ich dort sitze und befürchte, dass meine Einschränkung geradewegs in die totale Kontaktlosigkeit führen wird, kommen verschiedene Personen vorbei, legen sich zu mir oder pausieren an meiner Seite. Man sieht meinem Fuß die Verletzung nicht an, deshalb sprechen wir nicht über Krankheiten und Unfälle, sondern verbringen einfach Zeit zusammen, unterhalten uns, legen den Arm umeinander oder schauen in die Menge der tanzenden Menschen.

Anderen beim Tanzen zuzusehen, ist nicht so gut, wie es selbst zu tun. Dennoch ist das Sitzen in dieser Atmosphäre mit Blick auf die Leute eine aufregende und zugleich tröstende Erfahrung. Ein großer Kanon spontan entstehender Choreographien, schillernd und roh. Die Parallelität so vieler verschiedener inkarnierter Gefühle, die mit den Gefühlen anderer in Austausch und Begegnung gehen. Etwas, das es so nie wieder geben wird und nur für den Moment auf dieser Welt existiert.

Tropen

Ich gewöhne mich an das Nasswerden und wieder Trocknen, immerzu klebrig und feucht zu sein. Wenn es mal drei Stunden am Stück nicht regnet und sonnig ist, unterbreche ich sofort jede abwendbare Arbeit, ziehe mich aus und werfe mich auf die nächste Wiese.

Für die Institution nehme ich an einem Erste Hilfe Kurs teil. Er wird von einer der Feuerwachen im Münchner Westen ausgerichtet, in einem langgestreckten Gebäude, dessen Kantine wir uns in der Pause mit den Feuerwehrfrauen und -männern teilen. Alle in Uniform. Alle muskulär, fit, aufmerksam. Eine selten große Ansammlung von Menschen, die ausgeschlafen wirken, sprungbereit und pflichtbewusst auf körperlicher Ebene. Eine physisch deutlich andere Atmosphäre als die in der Institution, wo die Energie der Angestellten ganz klar im Kopf verortet ist, die Körper wie bloße Träger der kognitiven Leistung wirken, nicht wie etwas, das an sich ausstrahlt oder anzieht oder schneller sein könnte als das Gehirn.

Ich erinnere mich an das Theater und wie beim Erlernen einer neuen Rolle immer zuerst die Frage beantwortet werden musste: Wo ist das Zentrum dieser Person? Im Kopf oder Körper? Und falls diese Person ausgewogen scheint, wohin flüchtet sie sich im Notfall, in Gedanken oder in Taten?

Ich besuche Freunde in einer anderen Stadt. Vieles was ich auf dem Weg dorthin rechts und links entlang der Autobahn auf den Lärmschutzwällen wachsen sehe, gefällt mir besser als die Pflanzen in meinem Garten. Besonders zwischen Günzburg und Ulm hat sich großflächig Mohn ausgebreitet, Kamillen, Sauerampfer und violette heidekrautartige Blumen zwischen vom Wind bewegten Halmen. Warum ist es so schwierig diesen Wiesenlook um ein Haus herum hinzukriegen?

Die langen Tage gehen über in nach Heu riechende Nächte. Wenn es abends still wird in der Nachbarschaft, alle Traktoren runter sind vom Feld und der letzte Holzstapel zersägt ist, liege ich auf dem Balkon, gebettet im Zirpen der Grillen, dem Sommergesang. Mit den zumindest leicht ansteigenden Temperaturen gerate ich in eine schwerwiegende Jane Austen Phase und lese noch mal ihre späteren Werke, mitsamt mehrseitiger Fußnoten zu der aufwendigen Etikette, wer wen einladen, ansprechen, aus der Gesellschaft ausstoßen darf usw. Das Leben dieser Leute scheint so dämlich und vergeudet im Rückblick und doch hielten sie sich für die Kirsche auf der Sahnetorte. Ich zieh mir das alles rein, ein Buch nach dem anderen, es ist unterhaltsam, spitz, literarisch handfest und poliert und unterstützt mich darin, faul auf der Haut zu liegen und mich für die Kirsche auf meiner Sahnetorte zu halten. Danke, Jane.

Ende Juni ist es schon, als ich dieses Jahr zum ersten Mal im Fluss bade. Die starken Regenfälle und das Hochwasser haben Lauf und Kiesbänke verändert, eine Insel ist ganz verschwunden, mehrere neue Seitenarme sind entstanden und ein paar Dutzend ausgerissene Bäume liegen zerzaust in der Gegend. Ich könnte hier auch von Diskussionen im Umfeld schreiben, von Menschen, die rechte Narrative glauben, von meiner Bemühung, das Gespräch nicht einzustellen. Ich will nicht näher darauf eingehen, es ist schlimm genug, dass es zu meinen regelmäßigen Auseinandersetzungen gehört und Eingang gefunden hat in das Gedankengut von Leuten, die immer schon konservativ wählten und unbegreifliche Ansichten hatten, sich aber nicht extrem äußerten, nicht verächtlich, bis jetzt.

Dann kommt die Nacht, in der es 32 Grad hat, auch nach Mitternacht die Hitze zwischen den Häusern steht. Ich ziehe Turnschuhe an und laufe einmal vom Norden der Stadt bis runter in den Süden. Ich habe zu wenig getanzt diese Woche, das ist nicht gut, es bringt ein grundsätzliches Gleichgewicht in mir ins Wanken, ich brauche diese drei bis vier selbstzentrierten und selbstvergessenen Stunden. Ich kann nicht für andere da sein oder einen Beitrag leisten für unsere Gemeinschaft, wenn ich mich nicht regelmäßig auf diese bestimmte Weise hinein lasse in meine Vernunftlosigkeit. Die Nacht ist hell, im Rinnstein knistern die abgefallenen Lindenblüten, auf den Bürgersteigen sitzen Menschen, verschlungen in Umarmung, wiegen schlafende Babys, schauen Fußball, schwitzen Bier, stolpern. “Nimm mich mit”, schreit ein Junge einem Mädchen nach, “heute nicht, vielleicht morgen”, schreit sie zurück, auf ihrem Tretroller davon fahrend.

zurück

You do not have to be good,
you do not have to walk on your knees
for a hundred miles through the desert repenting.
You only have to let the soft animal of your body
love what it loves.

[Mary Oliver]

Dann regnet es, Regen ohne Unterlass. Am Morgen das Geräusch der Tropfen, während ich am Schreibtisch der Institution sitze und Griechisch transliteriere, das Geräusch der Tropfen später, als ich übergehe zu Polnisch, am Abend das gleiche Geräusch unter dem Dach der Zenschule. Ich gerate in eine lang nicht mehr dagewesene emotionale Neutralität und betrachte die Vorkommnisse der Woche fast ohne Beteiligung.

Samstagnacht bin ich unterwegs, durch die schwimmenden Straßen Richtung Kolumbusplatz, die Hochwasser tragende Isar milchig grau und reißend an meiner Seite, angeschwollen zu ihrer maximalen Breite. Dass etwas innerhalb kurzer Zeit an Umfang und Geschwindigkeit so zulegen kann. Diese starke unpersönliche Bewegung mitten in der Stadt und nur eine Mauer, die mich von den Wassermassen trennt. Eine Weile stehe ich in der Dunkelheit, werde weiter nass und sehe zu ihr hin: die Isar. Um kurz nach 4 betrete ich leise die Wohnung einer Freundin, wasche mein Gesicht und ziehe die nach Cannabis riechende Kleidung aus. In dem Club waren viele Mittezwanzigjährige. Nur wenige schienen sich entspannen zu können, ehe verschiedene substanzbasierte Betäubungen Wirkung zeigten.

Mitte der Woche kommt für ein paar Stunden die Sonne raus, sofort springen die Pfingstrosen, flirrt der Asphalt, wabert der Lindengeruch klebrig über die Gehwege an der Universität. Nicht nur ich bin falsch angezogen und stehe in der plötzlichen Hitze schwächelnd an einer Ampel. Ich gehe in die Praxis, arbeite, zwei Stunden später rollt das nächste Gewitter heran. Der Mohn auf den Erdhügeln um die Kiesgruben wippt ungeachtet der Bedingungen in seinem papierenen Gewand im Wind, hat sich sogar ausgebreitet ins angrenzende Gerstenfeld hinein. In der Nacht darauf läuft mir ein Fuchs vors Auto, ich schaffe es, rechtzeitig zu bremsen. Etwa alle drei Monate kommt das vor. Bis jetzt ist es immer gut gegangen.

Wir planen einen Ausflug in die Berge, es wird schwierig dafür eine Regenlücke zu finden. In der Vorbereitung lege ich zwei Garderoben raus, für schwülheiß und für nasskalt, eine davon werde ich in Plastik gewickelt im Rucksack mittragen. Die Wanderung am Tag darauf verläuft sonnig, anstrengend und wird flankiert von blaulila Enzianwiesen. Auf der Bergspitze benennen wir die gegenüber liegenden Gebirgsketten, essen Semmeln und fallen in die gipfeltypische mentale Lähmung: satt, fertig, zusammen. Später rutschen wir die nassen Steine zum kleinen Wasserfall runter und gleiten, japsen, tauchen in die Kälte ein. Egal wie salzig und verausgabt mein mäßig fittes Gestell ist, 30 Sekunden in diesen Wassern machen die Schinderei wieder gut. Auf dem Rückweg im Auto bin ich Beifahrerin und realisiere in einem Moment nahezu vollständigen Gewahrseins die fleischliche Wonne, meine Beine auf dem Armaturenbrett abzulegen, die vom Eis schmierigen Hände am Rock abzuwischen und rüberzusehen in die Gesichter meiner Gefährten. Da sind sie. Da seid ihr.

Zu Hause ruhe ich mich eine Stunde aus, fahre zur Station und nehme die U-Bahn Richtung Innenstadt. Die Menschen riechen nach Schampoo und ihren frisch gewaschenen Wochenendoutfits, die schwarzen Technohosen der Mädchen zwischen den Leinenkleidern erwachsener Frauen. In der Halle ist es dunkel und warm, nach dem Tanzen liege ich lange erschöpft am Boden und schaue zu den auf die Decke projizierten rot kreisenden Punkten. Jemand spricht leise in ein Mikro. Dass wir Menschen auch das sind. Am Boden liegende Körper, fähig zu Konsens und Gemeinschaft, mit tausenden Jahren von Übung darin, um ein Feuer zu sitzen, Verletzungen zu verarbeiten, einen Weg zurück zueinander zu finden. Der Mann am Mikro benennt kein Detail aus den Nachrichten, den Bildern, den Konflikten in denen jede und jeder von uns auch steckt. Er spricht nur davon, was wir noch sind. Mir kommen die Tränen. Weil ich eine solche Sehnsucht habe nach diesem noch.

Als ich nach Mitternacht zurückkehre schaukeln die Pfingstrosen im nächtlichen Garten, rosa Glühbirnen vor der schwarz glänzenden Rückwand des Schuppens. Ein paar von ihnen hole ich rein und schaue ihnen beim Öffnen zu.

You must be able to do three things:
to love what is mortal,
hold it,
your own life depends on it,
and when the time comes, to let it go,
to let it go.

[Mary Oliver]

die alten Häuser verraten

Am Mittwochabend laufe ich am Feierabendverkehr entlang Richtung Isartor. Drei der anderen Zenschüler sind an der Kreuzung noch zum Italiener abgebogen, ich habe heute keine Zeit, sonst wäre ich mitgegangen.

Es spielen sich Muster ein, die mich faszinieren in ihrer schnell erhärtenden und Gemeinschaft stiftenden Funktion. Nach dem zweistündigen Stillsitzen auf den Kissen treten wir auf die Straße und witzeln über alles, was beim Stillsitzen in uns vorgegangen ist. Jede beschreibt ihren schlimmsten Moment (gastrointestinale Geräusche, eingeschlafene Beine, das verdammte Räucherstäbchen, der Gedanke an die letzte Wohnungsbesichtigung mit 75 anderen Münchnern…) Im Anschluss wird eine Bar angesteuert und auf dem Weg dorthin so laut wie möglich gelacht, fast geschrieen, ich persönlich nutze die Strecke um kurz jemanden an der Schulter zu berühren, ranzuziehen, irgendeine Art von emotionaler Begegnung nachdem ich zuvor den Gang durchs Nichts praktiziert habe. Vielleicht gibt es Leute, die in solch strengen Formen der Meditation ausbluten und immer weiter reingehen in die Isolation. Mir passiert das nicht. Ich pulsiere und greife nach der Materie, mehr als zuvor. Die Zeit ist nicht unendlich und jede Minute auf dem Kissen lässt mich Augen, Hände, Arme, die mich im Anschluss streifen, als Tore erkennen, durch die ich hindurch gehen will.

Am Samstag darauf treffe ich Kolleg*innen. Wir entwickeln körpertherapeutische Übungen und überprüfen sie auf ihre Wirkung. Es sind meist einfache Dinge, die wir versuchen, einfache Gesten, einfache Taten. Ausgreifen. Wegdrücken. Jemanden ablehnen, jemanden annehmen. Etwas wollen, etwas verabschieden. Eine Grenze klar machen. Realität testen. Verfügbare Mittel nutzen. Gefühle riskieren. Scham riskieren. Keine Angst mehr haben vor der eigenen Kraft. Groß sein, angewiesen sein.

Wir sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden.

Am Donnerstag unterhalte ich mich mit den Veranstaltern des wöchentlichen Tanzens in der Halle. Ich bin Anfang des Monats dort in den Altar gekracht. Direkt hinein, in Blumen, Teelichter, Buddha und den ganzen anderen Kram. Der Altar steht eigentlich immer in einer der Ecken beim Eingang und leuchtet von der Stelle als Lichtquelle und Haltepunkt in die Nacht. An dem besagten Abend stand der Schrein aber vor dem DJ Pult. Ich dachte mir schon beim Reinkommen, dass das keine gute Idee ist, hab den Gedanken aber schnell wieder vergessen, weil die Musik der Hammer war und ich raumgreifender als sonst getanzt habe. Interessanterweise war im Verlauf des Abends ich die Person, die dann versehentlich an diesen Altar rankam und ihn halb umgerissen hat. Ich war etwas perplex nach dem Reinkrachen, hab ein paar der Kerzen wieder aufgestellt, mich abgetastet und, als der Techniker ihn verschoben hatte, weiter gemacht.

Im Nachhinein kam mir das symbolisch vor. Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich in solider Outdoorkleidung auf einem soliden Berg saß und mich beim Betrachten eines gegenüberliegenden Bergmassivs nicht des Gefühls erwehren konnte, zu sicher zu sein. Mich zu sicher zu verhalten. Kontrolliert. Ich habe von diesem Moment ein Foto, das ein Freund machte, der schräg hinter mir stand auf dem Berg. Das Foto habe ich oft angeschaut und schließlich einen Satz darunter geschrieben, den Rilke oder Richard Rohr oder beide, ich weiß nicht mehr wo, gesagt haben:

Eins muss ich wieder können; fallen.

Mit den Veranstaltern spreche ich am Donnerstag nicht über das Fallen oder den Altar, Dichter und Symbole. Ich will wissen, welche Schwierigkeiten sie haben, wie oft sie sich finanziell ruiniert haben, was es ihnen abverlangt, jede Woche über Jahre gegen viele Widerstände eine aufwendige Logistik, Vision und Community zu unterhalten. Ob sie gern eine Pause hätten, Veränderung, Vertretung? Nein, sagen beide. Sie und er. Wir wollten das, vom ersten Tag. Bevor es da war. Bevor es all das gab.

Ein Gestirn werden. 4,5 Milliarden Jahre brennen.

Auf den Feldern kreisen die Milane tief. Am Wegrand gedeihen Kamillen, es duftet nach Heu und das Zirpen der Grillen begleitet mich. Zweimal werde ich an regenreichen Tagen komplett durchnässt, weil ich zu Terminen muss und nicht die 10 Minuten Zeit hab, mich unterzustellen. Das ist der Preis dafür, dass ich nie einen Schirm mitnehme, es fast immer gut geht und ich mir dieses kleine Gewicht spare.

Am Ende der Woche melde ich mich telefonisch bei Lydia, einer Nachbarin, die ich beim letzten Weihnachtsfest hier im Ort kennengelernt habe. Sie kommt noch am gleichen Nachmittag vorbei, bringt Rosen aus ihrem Garten und bleibt zum Kaffee. Lydia ist die einzig mir bekannte 86 -Jährige, die einen Kopfstand kann. Sie hat 25 Jahre mit einem Mann und im Anschluss 25 Jahre mit einer Frau gelebt. Sie sagt, beides war furchtbar, sieht dabei aber nicht aus, als ob irgendwas furchtbar war. Sie sieht großartig aus: geschmeidig und sehr schlau. Im Obergeschoss ihres Hauses befand sich bis vor Kurzem eine umfangreiche Sammlung hochwertiger Kostüme aus den Sechzigern und Siebzigern, die sie schließlich aus Platzgründen an einen Kostümbildner der Wiener Oper verkaufte, der extra dafür mit einem Transporter und zwei Helfern anreiste. Lydia macht jeden Morgen Yoga, ist als Teenager aus der DDR geflohen und hängt manchmal in merkwürdigen Verdrehungen aus dem Fenster, um ihre Rosen an der Hauswand festzuklemmen. Ich bin gespannt, wie es mit ihr weitergeht.

Morgen bin ich bei einem Workshop, in dem wir uns eine Stunde im Kreis drehen. Ich hoffe, mir wird nicht schlecht.

ruhen

Mein neues Leben ohne Zeitdruck breitet sich aus, ich werde geschmeidig und höre dem Vogelgespräch zu. An manchen Vormittagen tu ich nichts als im Bett Kaffee zu trinken und später Flieder in eine Vase zu schneiden. In der Institution vertrete ich zwei fehlende Teammitglieder ohne mich von der dreifachen Aufgabenmenge gehetzt zu fühlen. Allein zu wissen, dass abends keine mehrstündige Lerneinheit wartet, weitet mich bis an den Horizont und zurück.

Dann nehme ich in dem anderen Beruf an einer Weiterbildung teil, zu der viele vertraute Kolleg*innen anreisen. Wir befassen uns mit einem bestimmten Entwicklungsstadium vor dem 6. Lebensjahr und die damit einhergehende Verkörperung sowie das Ausbleiben der Verkörperung, wenn die Umstände diese verhindert haben. Es geht in dem Modul ans Eingemachte, auch für mich; nach den Übungen sitzen häufig Leute vor der Tür und versuchen, sich wieder zu fangen.

Am zweiten Tag kommt die Sonne raus. In der Pause legen wir Isomatten in den Hof, essen Nudelsalat, schauen den Handwerkern der Glaserei beim Abladen von Werkzeug und dem Cateringservice beim Verhandeln mit Kunden zu. Es gibt in dieser Stadt so wenig freie Flächen, dass Handlungen, Pausen, Erledigungen sehr gedrängt, manchmal fast gestapelt stattfinden. Kinder wickeln auf Einparkversuch auf Seniorengymnastik auf Videocall auf Flaschensammeln. Ein unendliches Teilen, Mithören und Mitansehen aller Bewohner und ihrer Bedarfsbewältigung; anstrengend, schön, oft zu nah.

An einem der nächsten warmen Abende finde ich mich mit meinem älteren Selbst auf einer Holzbank am Eingang der Halle sitzend. Hinter uns der dunkle Park, punktuell erhellt von weißen Lichtkegeln, vor uns Ikeatüten, in denen die Veranstalter Kerzen und Lampions transportieren. Aus der Halle kommen die letzten versprengten Gruppen von Tanzenden heraus, schließen Fahrräder auf, schnallen Rucksäcke an Gepäckträger, als einer der Vorbeikommenden zu uns rüber schaut, kurz inne hält und sagt: ihr zwei seht euch ähnlich.

An dieser Stelle muss ich einmal erwähnen, dass mein älteres Selbst sich optisch nicht deutlicher von mir unterscheiden könnte. Sie ist groß, dunkelhaarig und dunkeläugig, sie hat die Aura und Haltung einer Frau, die einundhalb Jahrzehnte in einer norditalienischen Metropole gearbeitet hat in einer der härtesten kreativen Branchen überhaupt. Was der Mann mit Ähnlichkeit vermutlich meint und erkennt, ist dass wir über die letzten Wochen zueinander hingewachsen sind, anders kann ich das nicht beschreiben. Zwei Mal standen wir in einiger Entfernung unter den Bäumen im Park, warfen uns verstohlene Blicke zu, verabschiedeten uns zögerlich, um schließlich beim nächsten Aufeinandertreffen ein vollwertiges Gespräch zu beginnen. Im Juli werden wir in den Bergen ein Zimmer mieten und drei Tage miteinander tanzen. Es wird daher Zeit, dem älteren Selbst einen eigenen Name zu geben. Ich nenne sie hier der Einfachheit halber Stella.

In der darauf folgenden Woche feiern zwei Freunde ihren Geburtstag an einem anfänglich bewölkten und dann sehr milden Tag im Mai. Sonnenlicht bricht durch das junge Laub, unter dem wir stehen, Kastanienblüten segeln von den Zweigen und verfangen sich in unserem Haar. Jede Person, mit der ich mich unterhalte, trägt diesen trocken knisternden Kopfschmuck aus rosaweißen Blüten. Ein japanisches Manga ist nichts dagegen - so viel überbordende Poesie - niemandem als der Natur selbst würde ich eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen. Obwohl. Nein. Ich würde allen eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen, inklusive mir selber. Auch dieser Tag und dieses Fest ereignen sich auf einer der gemeinsam genutzten freien Flächen. Ich kenne fast niemanden, der in dieser Stadt lebt und einen Garten oder auch nur größeren Balkon hat, private Feiern sind somit häufig öffentlich und nur wenn ich viele Kilometer entfernt an anderen Orten in anderen Zusammenhängen bin, fällt mir wieder ein, dass draußen auch anders gefeiert werden kann: in dicht eingewachsenen, von einer oder maximal zwei Familien genutzten Gärten, Hortus conclusus, Kleinode, florale Schatullen, von Pflanzen begrenzter eigener Raum.

Am Donnerstag sammel ich mich eine halbe Stunde durch das Brennnesselfeld am Waldrand und verarbeite die Ernte anschließend zu Pesto. Dann fahre ich zur Zenschule und trinke Tee mit einem pensionierten schwedischen Professor, der gruppendynamische Prozesse erforscht hat. Seine mit den Studierenden getesteten Interaktionsvorschläge inspirieren mich eine Abwandlung davon eventuell in der Arbeit zu verwenden. Eine der von ihm entwickelten Übungen besteht aus 5 Handlungen/Schritten, die verkörpert, d.h. mit eindeutig körperlichem Ausdruck durchlaufen werden:

how to know what you want
how to ask for it
how to make an effort
how to end the effort
how to accept the result

jagen

Dann findet die letzte Prüfung statt, ich stehe im sechsten Stockwerk eines Innenstadtgebäudes und liefer die komprimierte Version des in den letzten Jahren angesammelten Wissens ab. Ich beschließe, richtig dick aufzutragen und keine Eventualität unerwähnt zu lassen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Beisitzer und Protokollführende ob meines Tempos sehr schnell mitschreiben müssen, was mir eine perverse kleine Lust verschafft und mich veranlasst, einen Abstecher in die somatoformen Störungen zu unternehmen, nur um auszuführen, warum der darliegende Fall nicht auf eine solche zurückzuführen ist. Ich sehe die Vorsitzende lächeln und weiß, dass sie weiß, was ich hier tue und dann baue ich extra für sie ein Benzodiazepinabhängigkeits-Szenario und den Abriss zweier krankhafter Persönlichkeitsakzentuierungen in die Diskussion ein, damit wir uns weiterhin anlächeln und verstehen können.

Ich gebe zu, diese Prüfung und was in der Vorbereitung dafür nötig war, hat mich nicht gerade zu einem milderen Menschen gemacht. Ich werde einige Zeit damit zubringen müssen, mein verhärtetes Gesamtgewebe wieder aufzuweichen. Es war auch die erste Prüfung dieser Art, in der ich so etwas wie Ambition entwickelt habe und hinterher nicht sofort alles vergessen wollte.

Ab Freitagnachmittag schwimme ich 48 Stunden lang auf einer Adrenalinwelle, fühle mich abwechselnd entrückt von und hineingerammt in diese Erde, kreische in Telefone und springe an Leuten hoch, die mich im Raum herumwirbeln. Unter anderem der kleine syrische Mann, der regelmäßig beim Tanzen dabei ist und alle anlacht. Ich frage ihn, ob er wieder sein Parfüm aufgelegt hat. Ein Mal im Jahr fährt er zu Verwandten in die Türkei und lässt sich bei der Gelegenheit in einer dort ansässigen syrischen Parfümerie einen eigens für ihr komponierten Duft mischen. Es ist eine opulente Mixtur und ich kenne niemanden außer ihn, der das tragen würde, aber ich mag die große Geste und bei der Begrüßung für Sekunden in seine ausladende und rosengetränkte Welt einzutauchen.

Es findet sich, dass eine Frau aus der Zenschule zeitgleich zu meiner Prüfung ein paper in ihrer Forschungseinrichtung abgegeben hat. Wir stehen nach dem Meditieren auf der Straße, öffnen Champagner und liegen einander in den Armen bevor wir in einer lauten überfüllten Bar die Köpfe zusammenstecken und Ausschweifungen der nächsten Tage planen.

Dann schneeregnet es die ganze Woche, ich mache Feuer, werfe mehrere Kilogramm Papier weg, koche jeden Tag und schlafe. Vor dem Ofen liegend bewege ich mich langsam zu einer Tonbandaufnahme aus den 80’er Jahren, auf der eine schwedische Feldenkraislehrerin mit hypnotischer Stimme sagt: If you want to learn something new, don’t take it serious. Allow yourself to play.

Der Blauregen rankt sich die Außentreppe hoch und platzt in hunderten violetten Knospen. Im Baumarkt leihe ich ein Schleifgerät, um zwei Tischplatten und Holzkisten zu bearbeiten, im Keller ziehe ich die alte Nähmaschine aus dem Regal und kürze damit einen Stapel Röcke. Die Wolle im Schrank habe ich bereits nach Farben und Garnstärke sortiert, der nächste Webteppich ist in Planung, ich kann nicht glauben, mich all diesen wunderbaren Dingen ohne Zeitdruck widmen zu dürfen.

Es ist daneben auch die Woche der ausfallenden S-Bahnen, gesperrten Streckenabschnitte und des eisigen Windes. Ich hätte nichts dagegen in lauen Sommernächten an unüberdachten Stationen im Nirgendwo stundenlang auf etwas zu warten, in diesem Wetter aber; es macht einen kaputt. Es macht einen kaputt bis ins Mark. Ich bin so überzeugt von und angewiesen auf den Öffentlichen Nahverkehr und deswegen hasse ich ihn manchmal zutiefst und gründlich.

Eine Freundin, die immer schon viel gewagt hat, um weniger privilegierte Menschen zu unterstützen, berichtet von einer Entscheidung, mit der sie sich nun die nächsten Jahrzehnte auf einen sehr herausfordernden Weg einlassen wird. Ich bin fasziniert und sprachlos, woher sie diese Bereitschaft zur Aufgabe ihrer Bequemlichkeiten nimmt. Neben ihr komme ich mir manchmal vor, als würde ich Pampers tragen.

Ab Mitte der Woche kündigen sich anreisende Kolleg*innen, eine ersehnte Weiterbildung und wärmere Temperaturen an, ich liege vorm Fenster und schaue in den fliederfarbenen Sonnenuntergang. Da geht er hin, der graupelige April.

durch mich hindurch

Samstag sitze ich in einer österlich leeren S-Bahn, höre sentimentale rumänische Musik und notiere Ideen für einen Workshop mit Kolleg*innen später am Tag. Es ist warm und es wird noch wärmer werden. Ich bin falsch angezogen, übermüdet und trage zu viele Bücher in meinem Rucksack - der krachend blaue Himmel aber und die auf dem Asphalt klebenden rosa Blüten - es ist real und plakativ Frühling und kein Kummer wird mir diesen Tag trüben.

Wir arbeiten eine Weile in der Praxis eines Freundes, ehe wir uns mit Kaffeetassen auf den Bordstein zur Straße raus setzen, blinzelnd in all das Licht von allen Seiten. Es ist, obwohl man ja schon eine Zeit lang auf der Erde verweilt und weiß, wie Jahreszeiten gehen, erneut verblüffend mit welchem Genuss es sich sitzen lässt auf einem Bordstein ab Ende März in dieser Stadt. Wie die winterliche Verrohung und Zusammengefaltetheit der Gedanken einem weiter gestreuten Sichtfeld weicht, sich Vorübergehende anplaudern lassen oder direkt dazusetzen, eine Schicht Kleidung nach der anderen ausziehend. Ach, unsere fabelhaften Körper. Da sind sie wieder.

Einige Stunden später, in der Nacht, stehe ich mit Menschen, die Teile einer Musikanlage in einen Sprinter räumen, an den Ausläufern eines kleinen Parks mit alten hohen Bäumen, die Magnolien sind nicht erfroren, die Dunkelheit riecht süß. Kurz vorher war mein zehn Jahre älteres Selbst durch die Menge gelaufen, in Eile, ihr in die Ecke gepfeffertes Shirt greifend, Tasche, Schuhe, mit einer Hand im Vorbeilaufen nach meinem Arm fassend, bist du nächste Woche da, hat sie gefragt, und ich hab mich umgedreht und sie angeschaut und genickt. Es hat uns beiden nicht gefallen, das Set heute, ich habe mich sogar eine Weile an die Wand gesetzt und nur zugeschaut. Am Ende jedoch, in der letzten halben Stunde ist es gut geworden. Der schlaksige Techniker, der nur selten hinter den Kabeln hervorkommt, mein älteres Selbst, ein gehörloser sehr höflicher Mann und ich fanden in einer Ecke der Halle zusammen und beendeten diesen Monat mit ausgestreckten Armen.

Am Mittwoch ist der erste Teil der Prüfung durch, einen Nachmittag lang liege ich in einer Art Erleichterungslähmung auf dem Wohnzimmerteppich und bewege mich nicht. Dann schaue ich in die verbliebenen Unterlagen, zimmere den restlichen Stoff in die freien Schlitze meines Kalenders und fange an. Es ist viel, es ist machbar, es ist bewältigbar, ich darf nicht nachlassen, der letzte Sprint, ich will das, ich kann das. Eine Kollegin erzählt, dass sie in der mündlichen Abnahme ohnmächtig geworden ist. Tatsächlich ohnmächtig, mittendrin. Die Damen und Herren des Prüfungsausschusses zogen sie vom Boden hoch, informierten sie darüber, jetzt ein Taxi zu rufen und die Befragung zu beenden. Nein, hat die Kollegin darauf erwidert, ich bleibe hier. Und dann hat sie den Fall gelöst: Diagnostik, Abgrenzung, Recht, Zuständigkeit, Behandlungsplan und Krisenintervention. Ich fühle mich gut unterhalten, als sie beim Dessert in einer Landgaststätte davon berichtet, hoffe für mich selbst aber nicht, in Kürze eine solch spektakuläre Anekdote auftischen zu können.

Die Nachbarfreunde kommen und andere Freunde und nochmal andere Freunde. Wir trinken Champagner, jemand kocht, jemand macht Tiramisu, es treffen Käseplatten ein, Hagebuttenmarmelade, Narzissen, es werden Eier gesucht, Gesichter in die Sonne gehalten, Pfadfinder- und Arielle die Meerjungfrau-Lieder gesungen, die Spülmaschine läuft dreimal am Tag, mehrere Personen tragen einen Sessel aus dem Haus und vor dem Fenster blüht die Zierquitte, korallfarben, als wäre das alles noch nicht schön genug.

Dann kracht der Auspuff ab, ein Bekannter bestellt Ersatzteile und repariert das Auto. In der Zwischenzeit fahre ich ohne Auspuff, das heißt ohne Schalldämmung übers Land, mit röhrendem Motor, wie die Dorfjungs hier, wenn sie 18 sind. An jeder Ampel möchte ich in Grund und Boden versinken.

Unter der Woche gehe ich ins Kino, um Dune zu sehen und ja, Wüsten und Science Fiction, eine Kombination, deren Wirkung für mich nie enden wird. Das Gelübde des Ordens: Ich werde mich meiner Angst stellen. Ich werde meine Angst über mich hinweg und durch mich hindurch gehen lassen.

Gelübde spielen auch beim Zen eine Rolle. Ich habe einige Wochen dem tief vibrierenden japanischen Chanten der Gruppe zugehört, ehe mir klar wurde, dass hier rezitiert wird, was ich vor zehn Jahren auf einem Zettel notiert und an die Küchenwand geklebt hatte: Wie zahllos die fühlenden Wesen auch sein mögen, ich gelobe, sie alle zu retten.

Der Größenwahn und die Unmöglichkeit des Einlösens dieser Worte; das interessiert mich natürlich. Gedehnt, gestretcht zu werden von einem Versprechen; übermenschlich und total. Es gibt viele Übersetzungen, Interpretationen und viertägige Seminare, um aus diesen Zeilen schlau zu werden. Ich weiß, ich werde es nicht. Und während einige Menschen beim Singen dieser Zeilen Leistungsstress kriegen, passiert in mir das Gegenteil. Ich fühle mich geliebt. Als hätte sich jemand entschlossen, alles erdenkliche für mich zu tun.

Oh

Erste warme Nacht in diesem Jahr, viele Frauen riechen nach Bergamotte und Weihrauch, manche Männer nach Armani. Auf den Bürgersteigen selige Enge, ein sich fast Berühren und aneinander Vorbeidrücken beim Anstehen vor der Bar.

Letzte Tage vor der Prüfung. Im Intensivkurs quäle ich mich durch acht Stunden gruppendynamische Anspannung, durch den Vortrag einer schnell sprechenden, hörbar gereizten Dozentin und hektisch eingeworfene Fragen von Teilnehmenden, die fürchten Grundlegendes falsch verstanden zu haben. In der Pause suche ich einen Sonnenfleck auf dem Grasquadrat im Hof, stelle mich da rein und ziehe die noise cancelling Kopfhörer auf.

Man rät uns, viel zu schlafen, Obst zu essen und genau nach dem bewährten Schema den Rest zu lernen. Ich halte mich an nichts davon und gehe tanzen. Zwei Stunden in der dunklen Halle mit meinen esoterischen Freunden, danach vier Stunden in einem Elektroclub allein. Die Akustik in dem Club ist so gut, wie alle gesagt haben, die minimalistischen Bewegungen der anderen in den schwarzen T-Shirts verbinden sich zu einem großen, samtigen Tier, das sich bewegt, weil wir uns bewegen, mit uns, durch uns, für uns: es gibt ein Wachsein, das dem Schlafen ähnelt. Ich kann nicht viel sehen, aber es ist fühlbar, wo die Hingabe am innigsten ist, wo zwei oder drei der Anwesenden eine Verabredung haben mit sich und diesem dunklen schönen Traum.

Im Januar habe ich mit Zen angefangen. Dafür verharre ich nun einmal die Woche am Abend mit 14 anderen auf dem Bretterboden einer ehemaligen Werkstatt in einer sitzenden Position, die mich sehr fordert, die ich mir leichter vorgestellt hatte. Es ist eine strenge Schule, individualistische Abweichungen sind nicht erlaubt. Während des zweistündigen Sitzens geht die Meisterin gelegentlich hinter uns vorbei und korrigiert mit einem Stock die Haltung von Rücken, Kopf und Schultern. Auf dem Kissen herumzurutschen oder den Blick zu heben soll vermieden werden, das Verlassen des Raums ist nur in Ausnahmefällen gestattet. An einem Abend im Februar als mir der Stress bis zum Hals steht, setzt sich die Meisterin, die nichts von meiner Situation weiß, während der Meditation hinter mich, legt ihre Hände auf meinen Rücken und sagt leise: Lehn dich an. Ich versuche es zögernd, meine Muskulatur verhält sich ungläubig, mehrere Minuten wechseln sich der Wunsch, die Kontrolle zu behalten und ihrer Wärme nachzugeben ab. Als sie ihre Hände löst und ich wieder allein bin, werde ich auf einmal butterweich. Es gibt Menschen, die mich unterstützen, Fremde und Vertraute, sie sind da und registrieren, was los ist, sie lassen sich hin magnetisieren zu mir und nähern sich auf eine Art, die mir gefällt. Meine Vergangenheit ist vorbei, meine Gegenwart ist hier.

Am Sonntag gehen wir auf einen Berg. Ich bin nicht in Form. Bei der erstbesten Gelegenheit schäle ich ein Ei und beschließe, nicht weiter zu gehen. Auch der Rest der Gruppe erlebt unterschiedliche Grade märzüblicher Trägheit. Eine der mitwandernden Frauen wirft sich vor der Hütte auf den trockenen strohigen Boden und döst sofort weg; ihr von der Sonne beschienenes Gesicht, der darüber gelegte Arm und die in ausladendem Winkel von ihr gestreckten Beine lassen mich an in Öl gemalte Darstellungen landwirtschaftlich arbeitender Bevölkerung denken; fix und fertige Leiber, Pause wie Koma, noch in Ruhehaltung griffbereite Hände.

Unter der Woche bin ich in der Praxis. Zwischen den Terminen versuche ich einen ruhigen Ort in einer der gerade öffnenden Kneipen zu finden, um Gesetzestexte in meinem Kurzzeitgedächtnis unterzubringen. Der Barkeeper in dem noch leeren und eigentlich geschlossenen Lokal macht mir einen Cappuccino, dreht ohne meine Aufforderung die Musik leiser, damit ich mich konzentrieren kann und will später kein Geld. Ich glaube nicht, dass er an mir als Person interessiert ist. Es ist ein schlichter random act of kindness, wie er mir in diesen Tagen häufig widerfährt.

O
ihr Zärtlichen
tretet zuweilen
in den Atem, der euch nicht meint.
Fürchtet euch nicht zu leiden.
Die Schwere,
gebt sie zurück an der Erde Gewicht.
Die Berge sind schwer, die Meere sind schwer. [Rilke]

Unterdessen entfallen mir Dinge, werden von der Menge prüfungsrelevanter Informationen verdrängt. Ich kann nicht unendlich lang lernen und parallel einen funktionierenden Alltag haben. Als ich in den Keller gehe, um die Waschmaschine zu füllen, entdecke ich, vor drei Tagen eine Ladung gewaschen und nicht aufgehängt zu haben. Mehrmals fahre ich mit der U-Bahn in die falsche Richtung und stehe dann am Zoo. Einem Kind aus meinem Umfeld schenke ich ein Buch, worauf das Kind sagt: das hast du mir vor Kurzem schon geschenkt.

Die sonnigen Stunden häufen sich, Vogellaute fast ununterbrochen von Morgens bis Abends, eine Floristin aus dem Bekanntenkreis bringt einen großen Strauß Weidenkätzchen und fransige Tulpen in ungewöhnlichen Nuancen. Ich erwäge zu einer Art Frühlingsritual zu gehen - die esoterischen Freunde - was genau dort passieren soll, weiß ich noch nicht. In der Nachricht steht: wir werden die Himmelsrichtungen anrufen.

Erstes Bild: Obłok von Ferdynand Ruszczyc. Zweites Bild: ?

Februar

Mitte des Monats ein genau in der Mitte durchgeschnittener Mond. Dämmerung um 19 Uhr. Es geht aufwärts. Die Lauheit dieses sich ausbreitenden Februar gefällt mir. Sie ist nicht gut - das blende ich aus. Für die halbe Stunde, in der ich zwischen den Häusern und dem aufgewärmten Asphalt entlang gehe, blende ich es aus. Die Sorge um die weiter unter unseren Fingern zerfallende Erde…wird nicht mehr aufhören, so lang ich lebe.

Nawalny tot. Ich hatte in den Tagen zuvor oft an ihn gedacht. An den Traum vor drei Jahren. Keine Sicherheit, nirgends, in diesem verdammten Land. Ich hatte so gehofft, dass er überlebt und dabei sein kann, wenn sich etwas ändert, falls sich etwas ändert.

Zwei Wochen bin ich in einem absurden Loop zwischen Behörden gefangen, niemand erreichbar, niemand zuständig, niemand weiß was. Dass Menschen, für die es um deutlich mehr geht, Jahre in solchen Unendlichkeitsschleifen verbringen müssen.

Ich höre eine Playlist voller alter Songs, es ist energetisierend und verstörend, ich bemerke, die Texte, etwas, mich vollständiger zu verstehen. Es ist kein glückliches Verstehen, eher eine illusionsarme Realität, die ich jetzt näher ranlassen kann als beim letzten Mal.

Wir Erdenkörper verglühen noch während wir miteinander sprechen, aneinander vorbei schweifen in den Clubs, Großraumbüros und entlang der unterirdischen Verkehrsadern der Stadt. In einer Nacht sitze ich mit einem jungen Mann an die Sprossenwand einer Turnhalle gelehnt und tausche mit ihm Worte des Franziskaners, die ich von den Zetteln aus meiner Jackentasche ablese - drei DIN A4 Blätter vollgeschrieben mit Notfallgedichten, Gebeten und Dingen, die ich nicht vergessen will.

I can’t hold reality or god.
Reality and god are holding me.

Der junge Mann wird in der Woche darauf in eine buddhistische Gemeinschaft ziehen, dort arbeiten, auf einem Holzboden sitzen, kochen. Auch das eine Option, sich in den Jahren zwischen 20 und 30 gründlich zu verräumen, vermutlich nicht die schlechteste. Wir tippen Nummern in unsere Telefone, er verspricht, mich auf dem Laufenden zu halten. Eine andere Person, neu kennen gelernte Kollegin auf einer Fortbildung, nutzt die gleiche therapeutische Methode wie ich, allerdings in einer Psychiatrie und mit Menschen, die sich maximal 5 Minuten lang auf ihre Emotionen einlassen können. Ich sauge alle verfügbaren Informationen aus ihr heraus, sie verspricht, mich zwei Mal im Jahr wiederzusehen und mehr zu erzählen.

An einem für wenige Minuten sonnigen Nachmittag sitze ich in einem Gewerbehof auf einer gelben Metallbank und rauche eine Zigarette mit einer Frau, zu der ich vier Tage lang keinen Zugang gefunden habe. Es wird auch mit der Zigarette und der dabei entstehenden Konversation eine brüchige und störungsanfällige Beziehung bleiben. Gymnastik für meine Frustrationstoleranz und ein Ausloten des Möglichen.

Nach einem auf anderer Ebene ebenfalls frustrierenden Seminar, an dem ich formal viel auszusetzen habe und das nicht billig war, stehe ich mit zwei Kollegen im Flur und öffne ein Bier. Den Arm um die Schulter eines anderen Menschen legen und den Tag als einen Scheißtag abhaken zu können, welch Erleichterung und Genugtuung. Ich kann direkte konstruktive Kommunikation und Kritik und werde erst sarkastisch, wenn ich auch nach dem dritten Anlauf nicht gehört werde. Die restliche Zeit sitze ich ab, wie in der siebten Klasse, male in meinem Skript herum und flüster mit den Nachbarn.

Ich bin häufig unterwegs in diesem Februar. In meinem Rucksack befinden sich Schlüssel zu zwei verschiedenen Wohnungen von Freunden, die ebenfalls häufig unterwegs sind, bei denen ich übernachte, wenn nichts mehr fährt oder der Tag danach sehr früh beginnt. Instinktsicher finde ich in jedem Haushalt die Wärmflasche, fülle sie auf, lege mich hin und schlafe sofort ein. Es ist ein mittlerweile recht unkompliziertes Verhältnis, das der Schlaf und ich miteinander unterhalten. Falls es Sonntag nicht regnet, werde ich in die Berge gehen. Ansonsten harre ich aus. Warte auf das Ende des Winters, das Ende der graubraunen Farben und hochgezogenen Schultern.

Geh in der Verwandlung aus und ein

Die stabilisierende Wirkung, die die Arbeit in der Institution auf mich hat. Umgeben zu sein von Menschen, die Tendenzen in Richtung einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur aufweisen bringt viel Berechenbarkeit mit sich. Ich ruhe mich aus, während ich mit diesen Leuten zu tun habe. Ich ruhe mich aus vom ganzen Rest.

Am Samstag bin ich wieder auf mein 10 Jahre älteres Selbst getroffen. Sie ist eine no-bullshit-Tänzerin, so viel steht mittlerweile fest. Sie kommt drei Minuten bevor es losgeht in die dunkle Halle, setzt sich auf den Boden, unterhält sich mit niemandem, schließt die Augen. Schwer zu sagen, ob sie meditiert oder die 150 Leute ausblenden will, ihr Gesicht ist jung und alt und verrät nichts über ihre Verfassung. Sie trägt mit Vorliebe schwarze Ganzkörperbodys und darüber ein Achselshirt, das sie im Laufe der Nacht ausziehen und in eine Ecke pfeffern wird. Ich weiß jetzt, bei welchen Tracks sie die Arme hebt und in die Mitte geht; ihr gefallen Sirenen, U-Boot-Laute und elektronisch modifizierte Orgeln. Ich glaube, sie netflixt die gleichen Science-Fiction-Serien wie ich.

Später, etwa zwei Stunden später, mein 10 Jahre älteres Selbst flippt gerade vor dem DJ-Pult herum, fängt sie an zu schreien. Ein oder zwei Mal pro Nacht macht sie das, während sie tanzt. Ich habe auch Lust zu schreien und schreie mit, was sie bemerkt. Sie dreht sich um, erkennt mich und lacht. Ich bewege mich langsam in ihre Richtung, mir ist bewusst, dass ich ein Risiko eingehe. Es gibt an diesem Abend in dieser Halle niemanden, der so schnell und intensiv tanzt, wie sie und ich. Wenn wir unsere Körper an einer Stelle, an einem Punkt zusammenbringen, wird das eine Welle machen, die anderen Leute werden zwei Schritte zurückweichen, um uns Platz zu schaffen, was ich nicht will, ich will keine Plattform, aber ich will auch nicht mein älteres Selbst verpassen, wer weiß, ob wir uns wiedersehen, ob je wieder in Zeit und Raum ein Augenblick wie dieser eintreten wird, ein Handvoll prekärer Sekunden zwischen überhitzten Menschen, in der wir gemeinsam etwas versuchen. Dann tue ich es und komme ihr entgegen, die Frau am DJ-Pult legt den härtesten Track in ihrem Set auf und mein 10 Jahre älteres Ich und ich tanzen. Ich spüre, wie es mir buchstäblich die Sicherung raushaut. Ich fühle mich eingebettet und verwoben und fürchte nichts. Die Hitze nimmt schnell zu, ich will nur das, diese leibliche Begegnung. Und ich bekomme sie. Ich bekomme sie. Ich werde später nicht fragen, was sie macht und wo sie wohnt, worüber sie nachdenkt und was sie hinter sich gelassen hat. Es reicht, sie hier zu erleben, ihre vom Solarplexus bis an die Peripherie strahlenden Bewegungen. Ich weiß, wer so tanzt, aus dem Sonnengeflecht heraus, bricht entweder innerhalb von Minuten an dem aufsteigenden emotionalen Ballast zusammen oder hat bereits abgetragen, was dort lag.

though you fade from earthly sight,
declare to the silent earth: I flow,
to the rushing water say: I am.

[Rilke]

Rund zwei Dutzend Mal friert im Januar die Windschutzscheibe von innen ein – ich verbringe viel Zeit damit, auf nächtlichen Parkplätzen zu stehen und etwas frei zu kratzen. Einmal muss ich den Pannendienst rufen, bevor ich es mit aller Gewalt doch allein hinkriege, die eingerastete Handbremse zu lösen. Alte Autos. Im Winter immer ein Problem.

Unterdessen läuft die Druckbetankung im Intensivkurs weiter, am Ende jeden Tages sehe ich in die gestressten Gesichter der anderen Teilnehmenden und habe damit eine ziemlich genaue Vorstellung, mit welchem Ausdruck ich gerade durch die Gegend steuer. Ich sehne die Stunde herbei, in der ich einen blauen Müllsack aufreißen und 7,5 kg Diagnostik darin versenken kann. Final weeks. Marching in. Die reale Arbeit in der Praxis hingegen ist weiterhin ein Genuss. Wenn ich abends die Tür hinter mir zuziehe, schüttel ich ungläubig den Kopf darüber, in ein solches Glück hinein gemasselt zu sein. Eine Klientin fragt mich am Ende der Sitzung, ob es mich belastet. Hier zu sein, das zu tun. Ich sage, nein, es entlastet mich.

Quallen gehören zu den ältesten Tieren unseres Planeten. Der Körper einer Qualle besteht zu 99% aus Wasser und ist ein Gebilde aus zwei hauchdünnen Zellschichten, einer inneren und einer äußeren. Quallen haben Sinnesorgane und ein Nervensystem, aber kein Gehirn. Dass sie trotzdem jagen, Feinde bekämpfen und sich paaren können liegt an der angemessenen Reaktion ihres Nervensystems auf Außenwahrnehmungen. Verliert eine Qualle einen Tentakel oder einen Teil des Körperschirms, bildet sie das Verlorene wieder nach, in dem sie bestimmte Zellen zuerst in ein Embryonalstadium zurückentwickelt und von dort aus in einen beliebigen neuen Zelltyp verwandelt. Es gibt männliche und weibliche Quallen und es gibt Quallen, die zwei Geschlechter haben. Diese produzieren zuerst männliche Samen, dann eine weibliche Eizelle, befruchten diese und entlassen sie ins Meer. Aus der befruchteten Eizelle schlüpft eine Larve, die sich in einem passenden Gebiet festklebt und wächst, bis sie schwimmen kann.

…stepping into this flow is enough to satisfy you forever

Am Wochenende tanze ich, in der Mitte der Menge, zwei Stunden denke ich nur an mich. Irgendwann bin ich müde und kreise langsam aus dem Epizentrum heraus auf den äußeren Rand zu. Ich komme neben einem Mann zum Stehen, der dort an dieser Stelle bereits den ganzen Abend steht. Er hat nicht getanzt, das habe ich gesehen, er steht da, während alles um ihn tobt. Ich kenne solche Nächte, ich kenne den Zustand. In der Musik sein zu müssen, in der Materie, auch wenn ich nicht in der Lage bin, daran teilzunehmen, das Wasser aufzusuchen, die anderen, mich passiv bewegen zu lassen, eine Qualle im Meer, eine Alge am Riff.

Der Mann hat Schmerzen, das ist sichtbar, manchmal zittert sein Mund, er hält die Augen geschlossen. Ich betrachte ihn eine Weile, ehe ich beschließe, zu ihm zu schwimmen. Uns trennen nur wenige Meter, ich muss nichts tun, die Strömung nimmt mich auf. Ich komme an die Seite des Mannes, mit meinem Quallenarm berühre ich ihn an der Schulter. Er öffnet die Augen, schaut auf, nickt und schließt die Augen wieder. Ich lege meinen Quallenarm zwischen seine Schulterblätter. Dann beginnt der Weinkrampf.

Faith does not push the river. Because faith is able to trust that there is a river. The river is flowing. We are in it.

Ich bleibe bei ihm, während der Krampf zunimmt, einmal, zweimal, eine Kontraktion folgt der anderen. An uns ziehen Wale vorbei, Rochen, Plankton, ozeanisches Leuchten. Ich weiß nicht, was für ein Meeresbewohner er ist, wo er sich die Schmerzen eingefangen hat, an welcher Stelle er aufgerissen ist, aber ich kann wahrnehmen, wie die akuten Minuten abebben und zusammenlaufen in eine tragbare Stille. Er holt Luft und richtet sich auf. Er ist sehr erschöpft. Als er wieder gleichmäßig atmen kann, löse ich die Hand von seinem Rücken und sehe ihm in die Augen. Er nickt noch einmal, ich schwimme weiter.

Foto1: Panthermedia/Mcalec, Foto2: best-wallpaper.net

2024

deliver it, early now, long before death

∞ unendliche Zeichen ∞

Am Samstag stürmt es den vierten Tag in Folge, ich lerne ein paar Stunden, anschließend gehe ich tanzen. Weil es der Tag vor Weihnachten ist haben sich die Veranstalter, die im esoterischen Spektrum verankert sind, ein Special ausgedacht. Ich habe das befürchtet, gehe aber trotzdem hin, weil ich mich bewegen muss und es sich in diesem Setting (ohne Drogen, ohne Handy, barfuß…) ziemlich gut bewegen lässt. So gut, dass es mir mittlerweile schwer fällt, in normalen Clubs vergleichsweise gut zu feiern.

Die erste halbe Stunde gestaltet sich für mich dann auch erwartungsgemäß zäh. Von dem Organisationsteam werden besinnliche Worte gesprochen, es ist viel von Licht und Zartheit die Rede, wir sollen dem in Pappbechern an uns ausgeteilten Kakao eine Frage stellen und einander an den Händen halten, während der Kakao vielleicht unsere Frage beantwortet. Wenn nicht, nehmen wir das gelassen zur Kenntnis und senden unsere Widerstände auf eine Reise, die uns zur Erkenntnis führen wird. Rechts und links von mir stehen und sitzen durchschnittlich aussehende und ich wage zu behaupten, auch durchschnittlich unesoterisch veranlagte Leute - wie können die sich das so ruhig anhören? Ich habe den Eindruck, auf nicht gerade subtile Weise veräppelt zu werden. Zwei Mal muss ich mir die Nase zuhalten, um ein Lachen zu unterdrücken. Im Anschluss wird ein Mantra gesummt, währenddessen ich über die Inneneinrichtung meiner Wohnung nachdenke.

Das passiert mir gelegentlich in religiösen Zusammenhängen. Sowohl in dem von mir präferierten Glauben, als auch in mir eher fremden Kontexten. Das gesamte Gebäude kann von einer Sekunde auf die andere abstrus und zusammengezimmert wirken, die Rituale, die Versenkung, das Vokabular. Meine Spiritualität und mein Atheismus wechseln sich schnell ab, ich habe mich daran gewöhnt und verlange keine Eindeutigkeit mehr. Mich in 80% der Zeit einigermaßen geliebt und in Beziehung mit dem das was ich für Gott halte, zu fühlen, ist denke ich mehr als genug.

Das Tanzen ist dann gewohnt großartig und (das muss ich den Veranstaltern lassen) eine Ausnahmeerscheinung in dieser manchmal so vernagelten Stadt. Es gibt nicht viele Locations, in denen nüchterne Menschen derart albern, hingegeben und uneitel miteinander durch die Nacht rauschen. Ich kann mich mit diesen in, eingebildetem oder realem, Licht gebadeten Leuten tatsächlich immer wieder hervorragend vergnügen. Unter den Anwesenden sehe ich meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, insbesondere eine Frau in der Mitte des Raums betrachte ich eine ganze Weile und nehme, unbemerkt von ihr, die Bewegung ihrer Arme und Beine auf. Später auf der Toilette treffen wir zufällig vor dem Waschbecken aufeinander. Du tanzt sehr schön, sage ich zu ihr. Unter ihren langen ins Gesicht fallenden Haaren befinden sich zwei schneeweiße Strähnen. Du auch, antwortet sie und schaut mich an. Einen Moment lang habe ich den starken und befremdenden Eindruck, meinem 10 Jahre älteren Selbst gegenüber zu stehen. Wir nicken uns zu und gehen wortlos auseinander.

Am Tag darauf ist Heiligabend, es kommen Freunde, der Sturm tobt weiter, es rüttelt an den Fenstern, die Zweige der Eibe schlagen gegen die Hauswände, die Mülltonnen der Nachbarn rollen über die Straße und verteilen Verpackungsmüll im ganzen Viertel. Ein nicht endendes Dauergetöse und Dinge befestigen, die sich wieder losreißen. Am nächsten Morgen offenbart ein Spaziergang im nahe gelegenen Moor Baumschäden. Beschienen von der Sonne sitze ich im Pullover auf einer umgelegten Esche und schaue auf die junge Birkenkolonie in einiger Entfernung. An den Bienenstöcken schwärmt es, ansonsten ist es ruhig. Abends lese ich ‘Orbital’ von Samantha Harvey und ein paar Zeilen meines Lieblingsfranziskaners. Der Mond wird voller, die Nächte sind blaugrau, nur wenige Tiere sind zu sehen.

Der Freitag danach beginnt verhangen, wendet sich gegen Mittag ins sonnige und bietet ausreichend Wärme, damit wir ohne zu frieren einen kleinen Berg erklimmen können. Die letzte Wanderung ist zwei Monate her. An der Kuppe oben packt ein Freund blaue Plastiktüten aus, auf denen wir die vereiste Schneedecke herunterrutschen. Der Winkel ist steil genug, Angst und Lust in etwa gleichem Ausmaß zu erzeugen. Einmal über die Kante gesteuert ist es unmöglich, noch irgendwas zu beeinflussen, das Tempo zu regulieren, die Laufbahn zu ändern. Ich lasse den anderen den Vorrang. Als sie verletzungsfrei unten ankommen traue ich mich auch.

Dezember

Anfang des Monats hängen meine Bürokolleginnen rote Beutel an eine Schnur über die Kaffeemaschine und fragen an, ob ich beim Adventskalender mitmachen will. Ich lehne dankend ab mit der Begründung, nicht bei dm herumlaufen und nach kleinen niedlichen Sachen Ausschau halten zu wollen. Die beiden müssen sehr lachen. Es ist wirklich das, was ihnen allergrößte Freude macht. Ich verneige mich innerlich mal wieder und bin mehr als beschenkt mit diesen zwei unschuldigen Frauen, die immer gute Laune haben, nie eskalieren und sich extra für diese Jahreszeit eine Kollektion thematisch passender Ohrringe zugelegt haben: Flocken, Sterne und Rentierschlitten.

Währenddessen hat der iranische Freund der Freundin seinen Abschiebebescheid bekommen. Wir sind am Boden zerstört. Es gibt die Möglichkeit, zu klagen. Wir erwägen den Weg. Es wird kostenintensiv, wir sind uns noch nicht darüber im Klaren, wie intensiv. Ich will hier nicht weiter eingehen auf die Details der Absurdität, die es bedeutet, einen hervorragend qualifizierten, verhandlungssicher Deutsch sprechenden, von konkreten Arbeitgebern umworbenen jungen Mann abzuschieben in ein Land, wo er wegen der Teilnahme an Demonstrationen bereits im Gefängnis saß.

I have no life but this.
[Emily Dickinson]

Ich besuche Freunde in einer anderen Stadt, sitze an einem anderen Tisch, im Rücken ein anderes Feuer. Die Wärme dieser 300km entfernten Parallelrealität. Ein paar Stunden in der Gegenwart von intelligenten, durchlässigen Menschen zu verbringen, den Kitt unserer Gesellschaft spüren, diejenigen, die alles zusammen halten, solange es geht.

Es beginnen Wochen, in denen ich mir Dinge vornehme, aber nicht damit rechne, an ihnen teilnehmen zu können. Es schneit, die Straßen sind vereist, die Schneemassen nicht mehr verräumbar. Ich schippe eine Schneise von der Haustür zum Auto. Falls ich den Bahnhof erreiche, ist nicht sicher, ob die S-Bahn fährt, wann und bis wohin. Ab dem Samstag darauf geht gar nichts mehr, die Bewegungen der Stadt kommen zum Erliegen, das dringend benötigte Tanzen entfällt, ich stehe vor dem vergitterten Eingang der dunklen Halle und lege meinen Kopf an den Stäben ab. Ein Winter im Winter im Winter. Es schneit. Ich bin nicht oft zu Hause und wenn, wechsel ich zwischen den Skripten und diagnostischen Regelwerken, ausgebreitet auf verschiedenen Ablageflächen, der Küchenanrichte, dem Teppich. Ich kaufe keine Kerzen, denn ich habe keine Zeit, sie anzuzünden. Am Waldrang springen die Füchse auf der gefrorenen Schneedecke herum. Es schneit weiter. Es schneit ohne Unterbrechung.

Is it too late to touch you?
[Emily Dickinson]

Ab Mitte der Woche sitze ich mit 25 Menschen aus ganz Deutschland auf dem Boden eines ehemaligen Maschinenbetriebs und schaue in die Runde. Ohne Eile und Absicht sehe ich in die Augen der Anwesenden, betrachte ihre Körper, was sie tragen, was sie senden. Auch die anderen sehen mich auf diese Weise an, aufmerksam, geduldig. Dann stehen wir auf und arbeiten. Wir arbeiten 4 Tage, ausdauernd und präzise. Am zweiten Tag liege ich in der Pause mit einigen Teilnehmern in der Mitte des Raumes und ruhe mich aus. Als der Dozent zurückkehrt, macht er leise Musik an. Ich spüre die Vibration und das Aufwachen der anderen, wie sie auf die Beine kommen, ihre Schritte, den Rhythmus und die sich aufbauende Frequenz in der Gruppe. Ich wickel mich aus meinem Schal und bewege mich mit. Ich muss sie nicht starten, diese Dynamik, nicht vorangehen, ich schwimme mit diesen Leuten wie eine Qualle ohne Widerstand.

Wir arbeiten weiter bis zum Abend: Übung, Beobachtung, Korrektur, Übung. In dieser Woche sickert weiter ein, was ich lange geahnt, aber bis dahin nicht in dem Ausmaß erlebt hatte: die menschliche Begegnung ist es, die heilt. Nicht ein Gedanke, nicht eine Information, nicht eine weitere Erklärung. Die Begegnung. Berührt zu werden, angesehen zu werden, wo zu einem vorherigen Zeitpunkt nicht oder falsch berührt, nicht oder falsch angesehen wurde. Verbindung leiblich zu erleben an der Stelle, an der es einen irgendwann zerlegt hat. Diese Erfahrung ist für mich so sättigend, so verblüffend schlicht und final fantasy, dass ich noch Tage später in meiner Wohnung beim Einschlafen mit aufgerissenen Augen auf der Matratze liege und Worte stammel in die Dunkelheit: Ich bin satt. Ich bin satt.

Dabei denke ich auch an meine Körperlehrerin und die Frage, mit der ich vor einer Weile zu ihr gegangen war. Ich fragte sie, ob die konstante Sehnsucht, die ich empfinde, ein unveränderlicher Bestandteil der menschlichen Verfassung ist, ein Hunger nicht stillbar, ein Zustand unlösbar, etwas das mich immer heimsuchen, mich krümmen und auseinanderziehen wird, jeden Tag, jeden Tag, bis ich sterbe und verwandelt werde. Ob ich hinnehmen muss, das zu fühlen. Ob das der Preis ist für meine Lebendigkeit, der Preis dafür, dass ich ein Mensch bin.

Oder ob die Sehnsucht auf meiner begrenzten Fähigkeit beruht, Kontakt anzunehmen. Aus meiner Deckung heraus zu kommen und in Verbindung zu gehen, mich einzulassen auf das, was andere mir geben, mich wirklich sättigen zu lassen in Begegnung, Blick und Berührung.

Meine Körperlehrerin sagte: Letzteres.

Eine steigende Mondsichel vor blauem Horizont, am Morgen der Sonnenaufgang, die Konturen des Karwendels nachgezeichnet von Licht. Und dann wird es noch einmal sehr eng. Wenig Schlaf, aufstehen, arbeiten, weitermachen. In der Institution bringe ich mein Jahresprojekt zu Ende, die Inhalte zweier verpasster Kurstage drechsel ich in das Zeitfenster nach dem Zweitjob, es gibt Stunden, in denen ich fürchte stumpf zu werden. Mitte des Monats taut es. Der Dezember ist zur Hälfte rum, ich schneide Zweige von den umgestürzten Tannen im Wald und murmel dabei Prognosen zum Verlauf chronifizierter Störungen. Auf einer mir mental nicht ganz zugänglichen Ebene erkenne ich, in diesem Moment umgestaltet zu werden, eine Umgestaltung zu erlauben, die im vorletzten Sommer begonnen hat und sich, unterschiedlich hart von mir ausgebremst, bis in diesen Winter hinein fortsetzt.

that we must suffer, suffer into truth
we cannot sleep
and drop by drop
at the heart
the pain of pain remembered comes again
and we resist
but ripeness comes as well

from the rowing bench
theres comes a violent love

[Chor, Agamemnon]

Kiss me from within

Ich wünschte, ich wäre eine Person, die den Winter schätzt. Für seine Kontraste. Oder die Optik. Als Pausetaste zwischen zwei Sommern oder irgendeinen Gedanken, der mir plausibel darlegt, warum ich sie brauche, diese Jahreszeit. Und hört mir auf mit Dankbarkeit. Ich bin dankbar. Ich war dankbar, lange bevor es ein mindset wurde, das in Onlinekursen und auf Bali-Retreats für 5000 $ die Woche gedownloaded werden kann.

Sehr früh an diesem Morgen stehe ich im Schneeregen vor einem Gebäude, in dem ich seit einiger Zeit druckbetankt werde. Neurologische Auffälligkeiten, zerebrale Krampfanfälle, Intoxikationsdelir, degenerative Erscheinungen im fortgeschrittenen Stadium. Ich weiß, das ist der Deal. Wer mitspielen will muss da durch; den Korridor des medizinischen und pharmakologischen Terminologie-Pressings. Der Gleichschritt dieser Wochen besteht folglich aus Arbeiten, Lernen, Schlafen, repeat. Ich versuche, meine Sinnlichkeit aufrechtzuerhalten, aber es gelingt mir nicht oft. Abends liege ich mit brennenden Augen im Dunkeln und will nichts mehr lesen, hören, sehen, wissen. Vor allem nichts mehr wissen. Gelegentlich überkommt mich der Anspruch, gesellschaftlich und politisch einigermaßen informiert zu bleiben, aber die Inhalte der Nachrichten ekeln mich an, die Gespräche meiner Mitfahrenden in der U-Bahn ekeln mich an, die Trailer dessen, was mir als Unterhaltung angeboten wird, ekeln mich an. Mir dämmert langsam; ich komme um die Reduktion nicht herum. Ich muss akzeptieren, in der folgenden Zeit als ein sehr zurückgestutztes, überwiegend kognitiv agierendes Wesen durch die Gegend zu steuern: ein Winter im Winter.

Ich kann auf einiges verzichten, aber was mir nicht abhanden kommen darf, ist die Nähe zu mir. Diese Schatulle - Haut, Blut, ein paar Bewegungen und darin ich - zu halten, zu betasten und zu tragen. Auch auf die Gefahr hin, vollends zu verkitschen steigere ich in diesen Tagen noch einmal die Häufigkeit meiner Umarmungen. Berühre Freunde, wenn ich sie denn irgendwo für 5 Minuten treffen kann, am Arm, an der Schulter, am Hals, einem von ihnen habe ich sogar ins Haar gefasst.

Our bodies and our hearts are given us only once.

Meiner neuen niederbayerischen Bekanntschaft sage ich, dass sie das schönste und hemmungsloseste Lachen hat, dass ich je gehört habe. Sie bringt es fertig, eine Anekdote, die ich aufgrund des Dialekts gar nicht richtig verstehe, so zu erzählen, dass erst sie selbst und dann ich in eine anhaltende Lachattacke ausbreche. Noch in der Woche zuvor war sie in einer der Pausen in dem schneeverregneten Gebäude auf dem Gang gestanden, buchstäblich nach Worten suchend in der Beschreibung der Tatsache, dass sie von ihren Geschwistern geschnitten wird, seit sie im Familienkreis etwas erwähnt hat, das alle wissen, aber niemand wissen will. Es ist immer das Gleiche. Schmerz verbindet nicht. Er trennt. Bis sich jemand findet, der seinen eigenen Schmerz zu Ende gefühlt hat. Dieser Mensch kann dann auch den Schmerz der anderen ertragen.

Als ich am Abend aus der Stadt zurück komme, hat die Nachbarin etwas vor die Tür gestellt. Kleine Rosen aus ihrem Garten, konserviert vom Frost in Verknospung und Blüte. Ich sehe sie gehen, meine Nachbarin, durch die kalte Luft vor schwarzem Himmel, das Ikebana ihrer Schritte im Schnee, den Geruch von November an den Händen. Es liegt, ich gebe es zu, in dieser Handlung eine Anmut und Miniatur, die eingebettet in die winterliche Landschaft, zumindest optisch, doch einen Reiz hat.

Vollmond, auf der Schwelle zum November.

Während meines Spaziergangs über die Felder komme ich an einigen verpackten Heuballen vorbei, dazwischen steht ein Rehkitz und sieht mich an. Es hat noch keinen Fluchtreflex und lässt mich bis auf wenige Meter herankommen. Als ich mich ins Gras setze, legt sich das Kitz ab, schaut noch ein paar Minuten und wird dann schläfrig. Wir verweilen nebeneinander und die Sonne wärmt meinen Nacken.

Unter der Woche streife ich durch ein konventionelles Kaufhaus und entdecke dabei dieses Unterwäschenmodell. Das hätte es vor zehn Jahren noch nicht gegeben. Bei allem, was in letzter Zeit schlechter geworden ist - zumindest die in mancher Werbung dargestellten Frauenkörper sind etwas näher an der Realität dran.

Am Samstag entzündet ein Freund zwei Lagerfeuer in seinem Garten und lädt alle ein; die Geister der Vergangenheit, den harten Kern der Gegenwart, Versprengte und neu Hinzugekommene. Man sagt mir, dass ich in den ersten fünfzehn Minuten auf einem Fest immer recht überfordert und erschreckt aussehe. Hier decken sich Fremd- und Selbstwahrnehmung. Ich glaube nicht, einen vernünftigen Eindruck hinterlassen zu haben bei der Person, die mich gleich an der Tür in ein Gespräch verwickelte. Später am Abend, als ich etwas im Magen habe und behaglich in einem der Feuerkreise sitze, bin ich restlos eingegangen in diese selten vorkommende Vermengung verschiedenster Menschen und kann mich gar nicht mehr losreißen aus den Erzählungen, Fragen und Annäherungsversuchen. Der Mond in dieser Nacht ist voll, die partielle Finsternis bemerke ich erst auf dem Heimweg.

Wenige Stunden zuvor hatte ich, den Block auf meinen Knien, mitgeschrieben, während jemand weiter vorn im Raum zusammenfasste, mit welchen Botenstoffen ein synaptischer Spalt in der Akutphase diverser Erkrankungen geflutet wird, wie die Symptomkomplexe differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind und warum das Abklingen der akuten Phase nicht zwangsläufig eine Linderung der Beschwerden mit sich bringen wird. Die Informationsvermittlung zieht jetzt, in den letzten Monaten vor der Prüfung, auf die Überholspur und findet sehr verdichtet statt. Ich habe den Stoff vor etwa zwei Jahren einmal versuchsweise gelernt, greife auf ein paar erhalten gebliebene Segmente zurück und korrigiere anhand des Vortrags die alten Skizzen. In der Pause stehe ich mit einer jungen Frau zusammen. Sie spricht einen sehr derben niederbayerischen Dialekt. Ich finde sie sympathisch, hartnäckig und versehrt auf eine Art, die nur bestimmte ländliche Regionen und einschlägig dysfunktionale Familien hervorzubringen in der Lage sind. Wir beschließen, zusammen zu lernen. Ich will, dass sie durchkommt und ich will mit ihr befreundet sein.

Am Morgen danach ziehen wir früh los in eine weiter entfernt gelegene Gegend, einen Gebirgszug von samtiger Schönheit und hinterhältigen Härten. Gleich die erste Stunde des Aufstiegs scheint wie dafür gemacht, den Willen von unentschlossen hier her Gekommenen zu brechen. Geröllfelder und Scharten ohne eine einzige Windung, der Weg führt so direkt wie möglich aufwärts durch ausgespülte Rinnen zwischen Fels und Kar. Seitlich ragen Schichten des Alpinen Muschelkalks aus ineinander geschobenen Bergplatten. Der Muschelkalk stammt aus der ältesten Periode des Erdmittelalters und war einst Sediment des Meeresbodens. Es ist wie auf ein altes Organ unseres Planeten zu schauen, die versteinerte Form eines vor langer Zeit von Tiefseetieren bewohnten Lebensraums. Der Weg zieht sich eine Senke hoch, ein kilometerweit zu sehendes Band, eingebettet in den Kessel vor dem eigentlichen Joch. Als zum ersten Mal die im Wind kauernden Gämse an den Bergflanken in den Blick rücken, wird es leichter, ich lege meine Hand in rostig verfärbtes Gras. Steppenähnliche Wiesen und Flechten decken das Gestein, die Sonne leuchtet die Hügel in einem niedrig einfallenden Winkel aus. Wir werden später, in den eisigen Temperaturen am Gipfel, nah zusammenstehen, zitternd, mit tauben Fingern und Lippen, auf dem Foto jedoch ist lediglich gnädig ankommendes Licht zu sehen, die letzte schwach rosa Herbststrahlung auf sechs strapazierten und lachenden Gesichtern.

nur wir sind nicht immer da

Ich hab eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass ich trauere. Dass die pauschale Bedrückung, die ich seit dem 07. Oktober empfinde nichts mit meinen konkreten privaten Umständen zu tun hat. Etwas in mir ist weiterhin entsetzt und am Boden zerstört. Vor dreizehn Jahren haben ein paar Freunde und ich in Tel Aviv zufällig eine kleine Gruppe Israelis kennengelernt. Wir waren nachts in einem etwas abgelegenen Viertel herumgelaufen und dabei in einer Ausstellung gelandet, in deren Rahmen verschiedene Künstler etwas vorlasen oder performten, ich erinnere mich nicht mehr genau an den Ablauf. Im Anschluss daran standen wir mit den Israelis vor der Galerie, sprachen miteinander und gingen dann zusammen essen. In den folgenden drei Tagen und Nächten trafen wir sie immer wieder, Tel Aviv ist ja nicht groß, einmal in einer Jazzbar, ein anderes Mal in dem einzigen Lokal, das an Pessach geöffnet hatte und ich glaube, in einer Nacht nahmen sie uns mit in einen Club. Keiner der Israelis war mit der Siedlungspolitik ihrer Regierung einverstanden, alle engagierten sich auf irgendeine Weise für gerechtere Lösungen in den aktuellen Konflikten, demonstrierten für bezahlbare Mieten oder schüttelten den Kopf über die Absurdität, gegen Menschen kämpfen zu müssen, in die sie sich unter anderen Umständen verlieben würden. In allen Gesprächen wurde differenziert zwischen Hamas und der restlichen Bevölkerung. Einer der Männer hatte, um während seines Militärdienstes nicht aktiv an Kampfhandlungen teilnehmen zu müssen, drei Jahre im Garten des Stützpunkts Gemüse gepflanzt. Andere hatten den Dienst regulär durchlaufen, kritisierten aber jeden Kurs, der die Rechte der Palästinenser nicht mit einschloss und deren Lebensgrundlagen weiter beschnitt. Die Biografien dieser Israelis und ihrer palästinensischen Kollegen und Bekannten waren damals schon derart kompliziert, zersetzt von Angst, in ständiger Bemühung eine heillos verfahrene Situation, die niemand von ihnen aktiv gewählt hatte, zu verbessern oder zumindest nicht zu verschlimmern, dass eine weitere Eskalation, weitere Gewalt, eigentlich nicht mehr vorstellbar waren. Ich denke in diesen Wochen häufig an sie und die Schwierigkeiten, die sie auf so vielen Ebenen meistern müssen.

Ich habe keine Palästinenser kennengelernt, während der zwei Wochen, die ich in Jerusalem und Tel Aviv verbracht habe, bin aber sicher, dass auch sie mehrheitlich in Bars sitzen, vor Galerien herumstehen, sich in Menschen aus der ganzen Welt verlieben wollen und im Grunde keine Lust haben, zu töten oder getötet zu werden.

Oktober

Am Dienstag gehen wir auf einen der mir liebsten Berge in diesem Gebirge, eine gelbe Graslandschaft, stetes Gehen, 27 Grad, Schlaufe um Schlaufe, Serpentine um Serpentine, die immer gleichen trockenen Wendungen, ein vertikal aufgerichtetes Labyrinth, versengt von der Oktobersonne.

Ich denke an die 11 konzentrischen Kreise und 34 Kehren des Labyrinths in der Kathedrale von Chartres aus dem 13. Jahrhundert. Ein langer Weg zum Zentrum hin, in dessen Mitte der finale Kampf mit dem Minotauros wartet, das Mischwesen, das wir selbst sind, unsere größte Furcht, unser hellstes Licht. Ich bin vor zwei Jahren durch eine Nachbildung dieses Labyrinths gegangen. Die Kehrtwenden sind sehr eng, sie erfordern eine totale Umkehr und lösen manchmal eine Art psychomotorischer Irritation aus. Wenn andere Menschen gleichzeitig das Labyrinth begehen, treffen sich an den Umkehrpunkten die Arme, Schultern und Blicke der Menschen. Ich weiß noch, wie eine Frau in einer dieser engen Wendungen unvermittelt meine Hand in ihre genommen hat.

Am Wochenende zuvor hatte ich getanzt, ausgelassen, unruhig, rastlos, das hat mit dem Ende des Sommers zu tun, das kann ich mittlerweile einordnen. Die Halle war voller als sonst, ich ging absichtlich in das Epizentrum der Tanzenden, wo sich die größte Enthemmung einstellt, die Leute am wenigsten steuern, was sie tun. Gegen Ende, nach mehreren Stunden konstanter Bewegung, trat für einen kurzen Moment eine Form von Entgrenzung ein und für den Zeitraum von etwa zwanzig Sekunden war ich nicht sicher, ob ich in meinem Körper tanze oder in dem Körper der anderen.

This is a waltz thinking
about our bodies
what they mean
for our salvation

(Thom Yorke)

An den Vormittagen danach ist das Licht milchig, weiße Schlieren vor blauem Grund, die Nachbarin bringt einen Strauß geschnittener Dahlien aus ihrem Garten, weil in meinem Garten diese Blumen nicht gedeihen. Die Dahlien sind die florale Verbindung, die ich zu meiner nicht mehr lebenden Großmutter aufrecht erhalte. Alles andere, das ständige Backen, Singen, Kräuter Sammeln und Kinder Herumtragen ist bei mir nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, die Dahlien aber und die Hitze zwischen den langen Beeten vor ihrem Haus.

An einem dieser warmen Oktoberabende schlendere ich mit einem Freund durch die Straßen Richtung Schlachthofviertel, in T-Shirt, Rock und Turnschuhen als wäre es Mitte August. Ich bleibe eine Weile stehen unter dem verhaltenen Sound der Nachtbeschäftigung der Stadt, während mein Kopf die Diagnosekriterien, Ätiologie und Behandlungsoptionen für verschiedene psychische Erkrankungen wiederholt. Am Bahnsteig später und in der U-Bahn liegen die Manuale und Tabellen auf meinem Schoß. Ich weiß nicht genau, wie es gehen soll, aber auf irgendeinem Weg muss dieses Material in mich hinein. Während ich andere Sachen mache.

Bei der Fortbildung am nächsten Morgen erzählt die Dozentin, wie sie in den Neunzigern mit einer offenen Bauchwunde und Granatsplittern in den Eingeweiden 2 km übers Feld zu ihrem Team zurückrannte und dabei nichts wahrnahm, als ein gedankenloses, manisches high. Erst auf der sicheren Seite im Versorgungszelt fiel ihr Blick auf das blutgetränkte Hemd an ihrem Leib und schlagartig setzten die Schmerzen ein. Sie ist eine ziemliche Erscheinung, diese Dozentin und sie wird uns ein Jahr lang eine Methode lehren, um mit Menschen zu arbeiten, deren Sprache wir nicht sprechen, deren Geschichte wir nicht kennen, deren Werte wir vielleicht nicht teilen und die uns doch in der wichtigsten Angelegenheit gleichen: sie haben einen Körper und Gefühle.

Zu dem Zeitpunkt ist der Angriff auf Israel bereits in vollem Gange. Als wir in der Pause auf den Hof treten, schaut einer der Teilnehmer auf sein Handy und sagt: das kann doch gar nicht sein.

………………………………………………

Neu in diesem Jahr sind bunte Trinkblasen, die junge Frauen am Schürzenband ihres Dirndl tragen. Ich weiß nicht, ob sich darin Alkohol zum Vorglühen befindet oder ob es darum geht, die Wasserzufuhr zwischen den Bierphasen zu gewährleisten. Mich erinnern die Trinkblasen in erster Linie an Beutel, die ich in Krankenhäusern an verschiedenen Patienten im Endstadium ihres Lebens gesehen habe.

Der Tag, an dem ich diesen Text schreibe fängt kalt an und wird dann immer heißer. Sie sind daher fest verschnürt und mehrlagig gewandet, die Menschen an diesem Morgen in den U-Bahnen. Die Bahnmitarbeiter tragen komplette Uniform mit Leuchtstreifen und Windjacke, die Jugendlichen von der Landwirtschaftsschule dicke Kapuzenpullover mit dem Logo der Ausbildungsbetriebe, während Leute wie ich mit Schal über Sommerkleidkompromissen den Herbst leugnen und Wiesngänger in unterschiedlicher Entschiedenheit darauf hoffen, dass ihnen später schon warm wird, in fünf oder sechs Stunden.

Relativ viele Münchner tragen Urlaubsspuren in diversen Verblassungsgraden am Leib; bedenklich dunkel gebräunte Haut zwischen T-Shirtausschnitt und Rucksack, nachblutende abgeklebte Tattoos auf Unterarmen, Sonnenbrillen, die in Campingshops am Mittelmeer gekauft wurden, nachdem die eigene irgendwo liegen geblieben ist - vermutlich in einer Tankstellentoilette am Brennero. Am untrüglichsten sind die Sommerwochen jedoch in den Augen zu sehen, in verwaschenen Blicken unter schweren Lidern, dem vielen Lehnen an Laternenmasten und Händchen halten, wenn grade jemand da ist zum Händchen halten. Eine deutlich auszumachende und in dem Ausmaß selten vorkommende Unterspannung in der Körpermasse dieser Stadt.

So kommt es dann auch, dass eine S-Bahn einfährt, während ich in der Sonne am Gleis stehe, in Gedanken bin, die S-Bahn betrachte, die Ein- und Aussteigenden, das Schließen der Türen und wie sie abfährt. Ohne mich. Erst als sie fast verschwunden ist am Horizont fällt mir auf, dass ich drinsitzen sollte in dieser S-Bahn und nun weitere zwanzig Minuten tatenlos hier verweilen werde. Ich schätze mich glücklich. Wann war ich das letzte Mal so neben der Spur, so ziellos, langsam, eine Tagediebin und Liebhaberin der Versunkenheit vor dem Herrn.

An einem kühlen Sonntag stehen wir auf einem Berg vor der Ruine einer bis auf die Grundmauern abgetragenen Alm, die Holzwände sind wohl schon vor Jahrzehnten eingestürzt oder verbrannt. Innerhalb des von Steinen umgrenzten ehemaligen Wohnraums hat sich ein Mikroklima gebildet, in dem rot und violett leuchtende Sträucher gedeihen. Sie scheinen nur die 2-3 Grad mehr Wärme und etwas Windschutz zu benötigen, um jetzt im Herbst ein Farbspektrum hervorzubringen, das hier sonst nicht existiert.

Unterdessen ist in der Institution ein neuer Kollege hinzugekommen. Er stellt sich als ein außergewöhnlich lachfreudiger Mann heraus, eine Kichererbse und zu trockenen Bemerkungen neigende Ungewöhnlichkeit in diesem Haus der ernsten und gründlichen Gesichter. Auch wegen ihm denke ich in den letzten Wochen häufig an Heinrich Heine, seine Reise von München nach Genua, die Postkutsche durch Norditalien und wie er dort an schwülen Nachmittagen in der jeweiligen Provinzkirche liegt und notiert:

„Man mag sagen, was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es lässt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, und die Madonnen nicken so verzeihend aus ihren Nischen.“

Es gab eine Zeit, in der ich mit toten, durch Europa reisenden Schriftstellern eine solch fortgeschrittene Obsession entwickelt hatte, Personal vergangener Epochen dem gegenwärtigen soweit vorzog, dass schließlich auch mir eine gewisse Schädlichkeit darin auffiel und ich meine mangelnde Kontaktbereitschaft der lebenden Umwelt gegenüber überdachte.

Meine Kontaktbereitschaft ist mittlerweile moderat bis gut ausgeprägt, vor allem wenn ich mit ein paar Vertrauten zwei Stunden durch Wald und Dickicht einer abgelegenen Gegend spazieren kann. Am erwähnten Sonntag folgte der Ruine ein selten begangener Pfad, der vorbei an feuchten, morschen Bäumen und dunkelgrünem Farn bis runter an das Wasserbecken eines Flussarms führte. Alleine wäre ich nicht hineingegangen, an diesem bewölkten und reichlich kalten Tag, die nackte Haut der anderen jedoch und ihre platzenden Münder als das Wasser ihren Bauchnabel erreichte…

Ich denke, das ist der Sinn von Herden, Sippen, Schwärmen und zusammen lebenden Säugetieren, auch den vernunftbegabten Säugetieren: mitzugehen, wenn die anderen ziehen, sich verführen zu lassen von ihrer Bewegung, reinzuschlittern in Zustände, Gefühle und Reifungsgrade, die allein nicht zu erlangen sind.

Und während das seit einigen Jahren mit zunehmender Bedeutung für mich gilt, ist parallel dazu für andere das genaue Gegenteil nötig; rauszugehen aus fremden, nicht gewählten Dynamiken und Zuständen, sich eine Weile zu separieren, das eigene Urteil zu schärfen und die Verführung in der Begegnung mit sich selbst zu suchen.

Es hilft nun mal nichts, wie zwei Hobbits bei ihrer Wanderung durch Mittelerde bemerkten, den Elben eine Frage zu stellen. Sie antworten immer mit: Ja und Nein.

In ein paar Tagen ist Oktober, es wird wieder dieses spezifische Herr der Ringe Licht über den Bergen flackern, die Sonne horizontal einfallen durch das Blattwerk und der erste Schnee auf den Zacken der Gipfel liegen. Ich wünsche mir Unsterblichkeit. Immer weiter eingesponnen zu sein in die Erscheinungen dieser Erde, zu dokumentieren, wie sie aufprallen an mir und den anderen, unsere Zeit auf dieser nicht endenden Rotation, Hand in Hand mit der dunklen Zeitlosigkeit.

Neonpink

Am Abend braten wir Auberginen und schichten sie in eine Auflaufform. In den Pinien vor dem Fenster sitzt ein Kuckuck und ruft, ihm antworten Elstern, Käuzchen und Grillen, die den Garten um das steinerne Haus bewohnen. Wir sind eines der wenigen Lichter auf dem Hügel, es ist dunkel, der Mond scheint nicht.

Nach dem Essen, die Teller stehen noch auf dem Tisch, nimmt einer der Anwesenden das Akkordeon zur Hand und spielt Pop der späten Neunziger, langsam und getragen, die Melodien dehnend bis sie zu etwas werden, das Folklore sein könnte oder Fado. Ich sitze auf dem Vorsprung des Kamins und sehe dem Akkordeonspieler dabei zu, müde, die Lippen manchmal eine Strophe mitsingend, wenn ich nicht seit zwanzig Jahren in diesen Mann verliebt wäre, ich würde mich jetzt verlieben.

Am anderen Morgen mache ich Pfannkuchen, während mir die Freundin den Espresso reicht. Später geht sie im von Pinienzapfen übersäten Hof auf und ab, einen Stab über ihren Rücken schwingend, sich darunter duckend, wendend, eine Choreographie wie aus der Feder eines Samurai, geschrieben für Frauen mit langen, hellen Haaren und entschlossenen Gedanken. In wenigen Tagen wird sie damit zu sehen sein, auf einer Bühne in Deutschland, weit weg von hier.

Unterdessen befestigt jemand auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes eine Hängematte. Die sachgerechte Verknotung des Seils am Baum gibt Anlass zu einem zeitlich überschwänglich geführten Austausch bisheriger Erfahrungen mit Knoten für verschiedene Lebenssituationen, während sich die Kaffeetassen weiter leeren, der Tag dahin geht, neu gelernte Worte und Phrasen angewandt werden. Der Luxus über nichts zu reden. Nichts von Belang. Mit großer Liebe und Zuwendung füreinander und für diesen sonnigen Morgen auf einem einsamen Hügel. Es werden sich in den folgenden Stunden unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weise dem Gefühl des Gewogen Werdens in der Hängematte überlassen und unterschiedlich lang darin verbleiben.

Ich denke an das Wasser, als ich in der Hängematte liege, an den Strand gestern und die Senioren, die mit ihren wunderschönen, alten Körpern daran entlang flanierten, uns später am Kassenautomat Münzen wechselten und winkten, bis wir durch die Schranke des Parkplatzes fuhren. Einen Moment lang war ich in totaler Sprach- und Handlungslosigkeit vor dem Automat gestanden, überfordert mit den bunten Hinweisen und Pfeilen, auf die Nachfrage der hinter mir Wartenden kein Wort heraus bringend, weder in der Landessprache noch in meiner Muttersprache, bis die Senioren fürsorglich das Ruder übernahmen, alle Knöpfe drückten, wechselten und lächelten bis ich aus meiner Zungensperre wieder raus war.

In der Hängematte werde ich schläfrig, ich ziehe mich zurück in den Schatten meines Zimmers, wo zwei Geckos diagonal über die Wände laufen, um die Ecke schauen, wenn sich Türen öffnen und ihren fabelhaft beweglichen Rumpf in Richtung des jeweiligen Interesses biegen. Ein Königreich für einen solchen Rumpf. Draußen zieht ein Gewitter auf, es wird den gesamten weiten Himmel überziehen, erst lautlos und fern, dann nah einschlagend, Blitz und Donner keine Sekunde mehr voneinander getrennt. Ich erinnere mich an die alte, vor einiger Zeit in dieser Gegend angetroffene, Amerikanerin, die auf meine Frage, warum sie hier her ausgewandert war, antwortete: Wegen der dramatischen Gewitter. Wegen der Gefühle der Protagonisten in den Filmen der 60‘er Jahre, entfacht und ausgehalten unter zu heißen Nachmittagen und ausgetragen unter solchen Stürmen nach Mitternacht. Ich kenne die Filme, von denen sie gesprochen hat. Ich weiß, was sie damit meint und frage mich, ob sie bekommen hat, was sie wollte. Der Mann an ihrer Seite war sehr dünn, als ich die beiden kennenlernte, sie pflegte ihn, zusammen mit einer Frau aus dem Dorf. Die Töpferei hinter dem Haus und die Werkstatt lagen brach, unbenutzt, seit vielen Jahren, ein Garten voller Skulpturen und Schalen, die niemand mehr kaufte, das gemeinsame Leben zusammengeschrumpft auf einen minimalen Radius. Es endet alles. Irgendwie muss es enden. Zum Schluss endet es sehr konkret. Ich nehme Richard Rohr zur Hand und lese:

filling the tragic gap
with pure presence
often in the presence
of nothing or even death

Das Gewitter rauscht noch eine Stunde weiter, dann geht es über in einen feinen konstanten Regen, die bis dahin trockenen Felder werden später in einem etwas dunkleren Braun den Hügel strukturieren. Es wird schon wieder warm. Auf das Wetter hier ist Verlass.

Am andern Morgen gehe ich spazieren, die auf dem Schilf landenden Libellen sind purpurrot, am Wegesrand blüht wilder Fenchel, dessen Blüten ich zwischen meinen Fingern zerreibe. Wie wenig Überwindung diese Landschaft von mir verlangt. Der Wärmegrad des Wassers ist nur Einladung und keine Herausforderung, die Luft ist mild, die Pflanzen sind mild, die Begegnungen mit den Einheimischen mild, alle wollen freundlich sein und sind es. Ich weiß, dass auch hier Härte und Ausgrenzung, das Erstarken faschistischer Parteien und die Folgen erodierender Lebensräume dauerhaft präsent sind. Ich werde während meines kurzen Aufenthalts nicht damit konfrontiert, weil ich eine Hautfarbe habe, die mir viele Türen öffnet sowie die Statussymbole eines geregelten Einkommens und Verhaltensweisen, die niemandes Weltsicht herausfordern. Es ist nicht gerecht, dass ich aufgenommen und angelächelt werde und andere nicht. Dennoch trifft und beruhigt mich diese anhaltende, großzügige Zugewandtheit und eine unspezifische, aus meinem Herkunftsland mitgebrachte, Fracht fällt von mir ab.

Am Nachmittag danach gehen wir die Straßen rauf in das Dorf auf dem nächst gelegenen Hügel. Das eine Lokal, in dem sich alle Bewohner des Ortes treffen, fungiert tagsüber als Frühstückscafe und Eisdiele, am frühen Abend als Tresen für den Aperitif und ab 21 Uhr als Karaokebar. Ein Mann singt mehrere Schlager und bekommt von uns viel Applaus, seine Freundin drängt uns, nach vorne zu kommen, wir lehnen mehrmals dankend ab, lassen uns aber nachhaltig euphorisieren von dem Sound der Platten unserer Eltern. Disko. Am anderen Tag bei einer Fahrt durch das Hinterland fällt auf, wie häufig hier ein bestimmtes Modell eines Elektroautoherstellers in der Farbe Weiß gefahren wird. Vielleicht gab es da vor einiger Zeit ein Angebot. Es muss eingeschlagen haben wie ein Bombe.

Es bleibt dann nicht aus, dass wir einmal länger an einem Tisch zusammensitzen und Wissen, Halbwissen und ehemaligen Rechercheeifer bezüglich des römischen Imperiums des 5. Jahrhunderts kurz vor seinem Niedergang zusammentragen. Die ausgegrabenen Fußbodenheizungen römisch angelegter Bauernhöfe in den bayerischen Bergregionen, Erbrecht, Versorgungslinien, Rasur, diese ganze abartig fortgeschrittene strukturelle Überlegenheit. Und wie das hier später kein Imperium mehr ist, aber immer noch Menschen wie uns in sich hineinmagnetisiert. Und wie ab dem 18. Jahrhundert lauter junge deutsche Schreiberlinge mit Sehnsucht in den Augen über die Alpen rennen, verklärte Briefe nach Hause schreiben, Reisetagebücher und Romanfragmente, in denen sie mit Schrecken und Lust feststellen, nur ein wenig Sonne, Ästhetik und Sauerkrautpause zu benötigen, um sich besser zu fühlen, und eben nicht Ehre, Karriere und was ihr Vaterland ihnen noch alles eingebläut hatte.

Wir übergeben die Schlüssel und verabschieden uns, die Wildschweinjagdsaison beginnt. Beim Zurückkommen bewegt ein sachter Wind die Hibiskussträucher, deren Blütenköpfe aufgegangen sind in meiner Abwesenheit. Es ist still in der Nachbarschaft, über dem Feld kreisen zwei Milane. Im Briefkasten liegt ein Schreiben der Deutschen Rentenversicherung, sie fragt, was ich im Oktober 1997 getan habe. Ich weiß es nicht, liebe Rentenversicherung. Ich nehme an, und hoffe, nichts.