An einen Donnerstagnachmittag sitze ich auf einem Balkon in den Bergen und schaue zum Karwendel. So lange war ich nicht mehr hier. Die Wäsche jeden Tag draußen trocknen. An ihr riechen, wie am Kelch einer Blume. Die ganze Umgebung geht in die Wäsche ein: Heu, Sonne, Kühe, Holz, Staub und Hibiskus.

Ich schreite jetzt langsam durch mich hindurch. Auch meine Gefühle werden langsam, synchron zum Gehen in Zeitlupe. Die Verletzung am Fuß, dieser kleine gebrochene Knochen; so viel Kontrolle und Schnelligkeit hing daran. Ohne mein Wissen.

Es hat etwas von Würde, dieses getragene Gehen/Hinken. Überraschenderweise. Ich fühle mich wichtig, sogar groß, während ich langsam den Raum durchquere, ihn durchmesse als würde ich eine Planetenreise unternehmen. Vielleicht ist das sogar mein eigentliches Tempo? Ein Tempo, bei dem mein Becken und Herz und alles mitkommt?

Braucht es da noch das Zitieren von Moshé Feldenkrais, Mabel Elsworth Todd und all den vorherigen und folgenden Meisterinnen der Körperlehre? Wir sind unsere Bewegung. Was wir spüren und fühlen, wird unser Bild vom Ich.

Und daneben, darunter und dazwischen die andere Seite der Medaille. Das ist nur durchblutete Materie. Kurz bewohne ich sie. Kurz bewegt sie mich.

Beim Zen lade ich regelmäßig das Nichts ein. Nichtwissen, Nichtwollen, Nichtmehrauskennen in sich selbst. Die Lücke. Der unbeschriebene Raum.

Und dann wieder Jesus. Ihm gegenüber sitzen. In seine Liebe fallen, wie in einen Brunnen. Kopflos, bodenlos.

Wie viel Religion, Tradition und Experimentieren kann ich unterbringen in einem Leben? Ich sammel und höre nicht auf zu sammeln. Nicht nur Berufe, die ich hinter mir herziehe. Sinnlich und übersinnlich den Hals nicht vollkriegen. Es sickert ein, dass das mein Reichtum ist.

Bei einem Cateringjob vor zwanzig Jahren, für einen, den einen, Eliteveranstalter von Celebrity-Events, beim letzten Briefing vor dem dreitägigen Geburtstagsfest eines Adligen, nahm uns der Chef des Servicteams beiseite. Er schob ein Flipchart in die Mitte des Raums und schrieb unsere Namen darauf. Rund 40 an der Zahl. Hinter jedem Namen etwas Platz. Er sprach eine halbe Stunde von Träumen, Zielen und Motivation. Dann mussten wir einzeln vorgehen und auf den freien Platz hinter unserem Namen notieren, was wir mit all dem Geld (Hohn) tun würden, das uns winkte, wenn wir weiterhin 16 Stunden-Tage für den Eliteveranstalter kellnern würden. Was sozusagen unser life goal ist, wollte er wissen. Manche gingen vor und schrieben: Reisen. Andere: Luxuskarre. Wieder andere: Abfeiern. Ich ging vor und malte ein Fragezeichen hinter meinen Namen. Genau das hab ich bekommen.

Pünktlich gezahlt hat der Eliteveranstalter übrigens nie. Einmal musste ich drei Monate auf meinen Lohn warten und mit dem Anwalt drohen. Da war ich Anfang Zwanzig und wohnte in einer WG.

Weiterhin in der Woche jeden Tag zwei Gewitter. Die Hagebutte, nach dem Sturm im letzten Jahr mit Spanngurten und Stöcken stabilisiert, kracht wieder um. Diesmal final: Wurzel raus, aufgeworfene Erdbrocken, das gesamte Stamm- und Astwerk am Boden. Es wird eine Motorsäge aus dem Keller geholt und die Hagebutte verabschiedet. An der Leerstelle Flieder gepflanzt.

An dem einen heißen Wochenende im Juli nach einem Seminar mit Kolleg*innen auf dem gepflasterten Innenhof eines Werkgebäudes gesessen, zwischen den Scherben und Kippen. Wir wären gern komfortabler gesessen, aber Stadt und Stunde gaben es nicht her. Musik aus dem Handy gehört, mitgesungen, dabei zugeschaut, wie sich zwei Menschen verlieben. Wenn doch immer Sommer wär.

Ansonsten: wie es eine große, sehr heterogene Gruppe zusammenhält, fördert und voran bringt, begabte Lehrer*innen zu haben.

Und der klaffende Unterschied zu solchen Lehrenden, denen der Job nicht liegt. Die in was anderem gut sind, aber dennoch lehren wollen. Warum? Wenn Geld keine Rolle spielt und andere Optionen zu Hauf vorhanden?

Dieser kleine gebrochene Knochen verunsichert mich nachhaltig. Was heißt das für die Zukunft? Soll ich nur noch vorsichtig tanzen? Die Ärztin sagt, es handele sich um eine typische Tanzfraktur, alles wird gut, keine Schäden, keine Schmerzen. Ich glaube ihr und spüre zeitgleich den Moment, als plötzlich eine Lücke war, wo sonst harte Verlässlichkeit saß.

Manchmal mach ich mir Sorgen, dass ich Sachen herbeimeditiere.

An denen ich auch ignorant vorbei leben hätte können.

Aber das ist ein falsch abgebogener Gedanke. Niemand hat irgendwas in der Hand. Und: alle haben etwas in der Hand.

Ein Kind kommt zu Besuch. Ich google Kinderrezepte. 90% der Ergebnisse sind eine Form von Pizza. Ich mache Pizzastangen aus Fertigblätterteig. Das Kind ist skeptisch aber isst.

Hands are unbearably beautiful. They hold on to things. They let things go. [Mary Ruefle]

Wer hat das verlinkt, wie bin ich dazu gekommen? Ricarda Kiel? Wiesel?

Nachdem ich eine Woche ständig bei Ärzten saß, Termine der nächsten zwei Monate umdisponierte, Nachrichten an indirekt Betroffene meiner Einschränkung schrieb und entsprechend meiner Möglichkeiten an einem Seminar teilnahm, ist jetzt erstmal nichts. Arbeiten am Schreibtisch (davon leider viel). Finanzamtsachen, auch viel. So geht es raus aus dem Juli und rein in den August.

Zitat im Titel: Mabel Elsworth Todd