Nichts
Ein warmer windiger Abend, die Fenster offen, die Luft fährt in die Vorhänge, hebt sie zur Mitte des Raums, wo die Lampe schwankt. Ein guter Tag um Kimono zu tragen, ich möchte eine Zigarette rauchen, lasse es aber wegen dem gebrochenen Knochen. Stattdessen denke ich an die schönen Menschen gestern, aufgereiht vor der Lorettabar in gelben Metallstühlen, unverletzte Sommerkörper, an denen ich vorbei hinkte, in die Bar hinein; eine Performance der Langsamkeit.
Ich befinde mich in Woche 4 nach dem Bruch, ich zähle die Tage, ich bin stillgelegt und ausgebremst, es ist gut und es ist schlecht, es wechselt ab. Nachts sehe ich die Mondsichel aufgehen, höre den Grillen zu, rieche an Blumensträußen, die ich pflücke, langsam, sehr langsam, wie die Frau, die ich in vierzig Jahren sein werde mit langen weißen Haaren und Zeit an den Händen.
Ich arbeite, aber ich arbeite weniger praktisch als sonst und dieser Umstand gepaart mit all den Vorhaben, denen ich aktuell nicht nachgehen kann, lässt mich mit einer Menge an Zeit zurück, die selbst für mich fordernd ist. Ich bin in einer Zeitkapsel. Ich sitze in der Kapsel und tue nichts. Manchmal mache ich Liegestütze oder Sit-ups. Dann wieder nichts.
Ich erinnere mich, vor etwa zwei Jahren einen Sommer lang am Fluss gelegen und ebenfalls untätig gewesen zu sein. Gebrütet zu haben über dem, was kommen würde, was sich anbahnte, abzeichnete, eine Generalüberholung, die ich intellektuell nicht erfassen konnte, die aber anstand.
Und meine Hände, welche blutig sind vom Graben,
heb ich offen in den Wind, so dass sie sich verzweigen wie ein Baum.
Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum,
als hättest du dich einmal dort zerschellt in einer ungeduldigen Gebärde.
[Rilke]
Vielleicht sollte ich mich daran gewöhnen. Es einplanen - das große Nichts - damit rechnen. Alle zwei Jahre für einige Wochen ausgeschaltet zu sein. Vielleicht könnte ich damit vermeiden, immer wieder völlig überrascht in einer Zeitkapsel zu landen und tagelang damit zu hadern, dass es so gekommen ist? Wie wäre es, acht Wochen pro Jahr im Kalender für das große Nichts zu blocken, vorsorglich? Dick mit Edding alles durchstreichen, was dort geplant war oder die Seiten gleich ganz raus reißen. Und in den acht Wochen dann keinen Urlaub machen und nichts lernen und nichts vorhaben.
Die zwei Fuchsjungen am Waldrand sind jetzt fast erwachsen, mittelgroß. Eine Weile waren sie immer mit einem Wiesel zu sehen, verspielt und tollpatschig, immer im Dreierpack, die zwei kleinen Füchse und das Wiesel. Das geht jetzt wohl nicht mehr, die Freundschaft scheint vorbei. Ob das Wiesel mittlerweile als Beute in Frage kommt? Ich kenne keine Försterin oder Naturpädagogin, die mir das erklären könnte.
Ich will zurück in meine Normalität. Ich will tanzen, wandern, Probleme lösen, Kisten tragen, ins Zwerchfell atmen, mit gesundem Sommerkörper auf gelben Stühlen vor der Lorettabar sitzen und gescheid daher reden. Ich will aber auch diese lästige Kontrolle aufgeben, mit der ich das Leben so unnötig festhalte und es zu steuern versuche.
…und meine Hände hielten dich nicht so, wie sie dich manchmal halten, bang und hart…
[Rilke]
Ich bin weitergezogen zur amerikanischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. The age of innocence. The house of mirth. Ich mag die Protagonist*innen in Edith Whartons Romanen. Sie haben ständig Geldsorgen, müssen sich verbiegen, sind gebunden in Beziehungen und Sachzwängen, winden sich heraus, erleben einen kometenhaften Aufstieg und fallen zurück auf sich selbst. Dazwischen Momente von Freundschaft, eine Stunde am Feuer, eine Nacht auf dem Berg, in der sie alles verstehen, alles können, ein Neuanfang möglich ist, der aber aus Bequemlichkeit verschoben und aus Ängstlichkeit hinausgezögert wird, bis er nie stattfindet.
Dann ist es Montag und in der Institution steht eine kurzfristige finanzielle Umstrukturierung an, mit der ich viel zu tun haben werde.
Jeden Abend schaue ich zu den Spinnweben an der Decke und würde sie gern beseitigen, aber dazu werde ich noch eine ganze Weile nicht in der Lage sein. Den Versuch, im Garten ein paar welke Blätter wegzuschneiden, musste ich abbrechen, einen Zucchinikuchen zu backen ist eine Tagesaufgabe. Wie kann ein Knochen von der Größe einer Haselnuss ein solches Ausmaß an Behinderung in mein Leben bringen?
Ich trage jetzt jeden Tag meinen braunen Haus-Kimono. Der eigentlich ein Haori ist – ein hüftlanger jackenähnlicher Kimono, der ursprünglich Männern vorbehalten war bis die Mode sich änderte. Das heißt, bis Menschen die Mode änderten. Der Haus-Kimono hilft mir, meine Situation zu akzeptieren. Ja, dazu ist Kleidung in der Lage. Allein die Anwesenheit des braunen Stoffs, wie er über dem Stuhl hängt. Er erinnert in Form und Farbe an Yodas Mantel. Und ich denke sehr gern an Yoda. Sehr gern.
“On many long journeys have I gone. And waited, too, for others to return from journeys of their own. Some return; some are broken; some come back so different only their names remain.”
[Yoda]