Tropen
Ich gewöhne mich an das Nasswerden und wieder Trocknen, immerzu klebrig und feucht zu sein. Wenn es mal drei Stunden am Stück nicht regnet und sonnig ist, unterbreche ich sofort jede abwendbare Arbeit, ziehe mich aus und werfe mich auf die nächste Wiese.
Für die Institution nehme ich an einem Erste Hilfe Kurs teil. Er wird von einer der Feuerwachen im Münchner Westen ausgerichtet, in einem langgestreckten Gebäude, dessen Kantine wir uns in der Pause mit den Feuerwehrfrauen und -männern teilen. Alle in Uniform. Alle muskulär, fit, aufmerksam. Eine selten große Ansammlung von Menschen, die ausgeschlafen wirken, sprungbereit und pflichtbewusst auf körperlicher Ebene. Eine physisch deutlich andere Atmosphäre als die in der Institution, wo die Energie der Angestellten ganz klar im Kopf verortet ist, die Körper wie bloße Träger der kognitiven Leistung wirken, nicht wie etwas, das an sich ausstrahlt oder anzieht oder schneller sein könnte als das Gehirn.
Ich erinnere mich an das Theater und wie beim Erlernen einer neuen Rolle immer zuerst die Frage beantwortet werden musste: Wo ist das Zentrum dieser Person? Im Kopf oder Körper? Und falls diese Person ausgewogen scheint, wohin flüchtet sie sich im Notfall, in Gedanken oder in Taten?
Ich besuche Freunde in einer anderen Stadt. Vieles was ich auf dem Weg dorthin rechts und links entlang der Autobahn auf den Lärmschutzwällen wachsen sehe, gefällt mir besser als die Pflanzen in meinem Garten. Besonders zwischen Günzburg und Ulm hat sich großflächig Mohn ausgebreitet, Kamillen, Sauerampfer und violette heidekrautartige Blumen zwischen vom Wind bewegten Halmen. Warum ist es so schwierig diesen Wiesenlook um ein Haus herum hinzukriegen?
Die langen Tage gehen über in nach Heu riechende Nächte. Wenn es abends still wird in der Nachbarschaft, alle Traktoren runter sind vom Feld und der letzte Holzstapel zersägt ist, liege ich auf dem Balkon, gebettet im Zirpen der Grillen, dem Sommergesang. Mit den zumindest leicht ansteigenden Temperaturen gerate ich in eine schwerwiegende Jane Austen Phase und lese noch mal ihre späteren Werke, mitsamt mehrseitiger Fußnoten zu der aufwendigen Etikette, wer wen einladen, ansprechen, aus der Gesellschaft ausstoßen darf usw. Das Leben dieser Leute scheint so dämlich und vergeudet im Rückblick und doch hielten sie sich für die Kirsche auf der Sahnetorte. Ich zieh mir das alles rein, ein Buch nach dem anderen, es ist unterhaltsam, spitz, literarisch handfest und poliert und unterstützt mich darin, faul auf der Haut zu liegen und mich für die Kirsche auf meiner Sahnetorte zu halten. Danke, Jane.
Ende Juni ist es schon, als ich dieses Jahr zum ersten Mal im Fluss bade. Die starken Regenfälle und das Hochwasser haben Lauf und Kiesbänke verändert, eine Insel ist ganz verschwunden, mehrere neue Seitenarme sind entstanden und ein paar Dutzend ausgerissene Bäume liegen zerzaust in der Gegend. Ich könnte hier auch von Diskussionen im Umfeld schreiben, von Menschen, die rechte Narrative glauben, von meiner Bemühung, das Gespräch nicht einzustellen. Ich will nicht näher darauf eingehen, es ist schlimm genug, dass es zu meinen regelmäßigen Auseinandersetzungen gehört und Eingang gefunden hat in das Gedankengut von Leuten, die immer schon konservativ wählten und unbegreifliche Ansichten hatten, sich aber nicht extrem äußerten, nicht verächtlich, bis jetzt.
Dann kommt die Nacht, in der es 32 Grad hat, auch nach Mitternacht die Hitze zwischen den Häusern steht. Ich ziehe Turnschuhe an und laufe einmal vom Norden der Stadt bis runter in den Süden. Ich habe zu wenig getanzt diese Woche, das ist nicht gut, es bringt ein grundsätzliches Gleichgewicht in mir ins Wanken, ich brauche diese drei bis vier selbstzentrierten und selbstvergessenen Stunden. Ich kann nicht für andere da sein oder einen Beitrag leisten für unsere Gemeinschaft, wenn ich mich nicht regelmäßig auf diese bestimmte Weise hinein lasse in meine Vernunftlosigkeit. Die Nacht ist hell, im Rinnstein knistern die abgefallenen Lindenblüten, auf den Bürgersteigen sitzen Menschen, verschlungen in Umarmung, wiegen schlafende Babys, schauen Fußball, schwitzen Bier, stolpern. “Nimm mich mit”, schreit ein Junge einem Mädchen nach, “heute nicht, vielleicht morgen”, schreit sie zurück, auf ihrem Tretroller davon fahrend.