Mai
Es ist ein Löwenzahnjahr, soviel steht fest. Nachdem im Jahr zuvor nur vereinzelt gelbköpfige Inseln aus den Wiesen am Waldrand wuchsen, schauen jetzt umgekehrt nur vereinzelt Grasinseln aus dem gelben Teppich hervor. Der Imker bringt mehrere Bienenvölker auf die Anhöhe, wenn das Wetter hält und der Raps sich verspätet, wird er später sortenreinen Löwenzahnhonig verkaufen.
Zwei Tage am Stück ist es warm, die Sonne knallt an die Hauswand, im Garten breiten sich hellblaue Bodendecker aus, Hummeln saugen an den Zierapfelblüten, ich stehe wunschlos vor der Tür und lasse ein wenig ab von meiner Zerknirschung. In der Arbeit geschieht nichts. Einmal läuft meine Milch im Kühlschrank aus, aber weil es für alles in der Institution Vorschriften gibt, auch dafür, wie Milch in dafür vorgesehenen Plastikboxen im Kühlschrank gelagert werden soll, läuft sie einfach in die Plastikbox. Und nicht in den ganzen Kühlschrank. Was soll ich dazu sagen? Danke Vorschriften.
An einem anderen Tag gehen wir zu viert auf einen Berg. Es ist eigentlich zu kalt und grau, um draußen zu sein, ich bedauere, keinen Tee mitgenommen zu haben, am Gipfel sitzen wir zusammengekauert in unseren Jacken und harren der Dinge. Beim Abstieg wird es wärmer, wir schälen uns aus den Lagen und versuchen gerade einigermaßen zivilisiert ein Schneefeld runter zu kommen, als das eine Kind, das an diesem Tag dabei ist, an uns vorbeizieht, den Hang hinab rennt, rutscht, fällt, aufsteht und weiter rennt. Ich habe oft erlebt, dass mein verhärteter Erwachsenenkörper angebotenen Impulsen nicht mehr folgt und kann daher nur überrascht sein, als ich mich ebenfalls das Schneefeld herunter rennend finde. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Rest der Gruppe an mir vorbei kegeln, unten angekommen ist die Schneeballschlacht bereits im Gange. Es ist eine seltene und wichtige Genugtuung, jemandem eine Hand voll Schnee hinten ins T-Shirt stecken zu können, auch wenn das in einer Einseifung mündet, bei der man eventuell unterliegt.
Die restlichen Stunden gehen wir mit nasser Kleidung und nassen Füßen in den Schuhen, am nächsten Morgen werde ich wunde Zehen haben, was ein bisschen weh tut, aber was wäre die Alternative, sich immer schonen? Wirklich riskant verhalte ich mich nicht mehr, mit einem Bier in der Hand auf Kräne klettern, das ist alles lang vorbei. Eine Einordnung meiner Risikobereitschaft im Vergleich zu der eines durchschnittlichen Zehnjährigen bekomme ich gegen Ende des Tages, als das eben beschriebene Kind Anlauf nimmt und ohne Ankündigung über einen viele Meter tiefen und Wasser führenden Abgrund springt. Wer sich an die Verfilmung von Ronja Räubertochter aus dem Jahr 1984 erinnert und darin an die Szene, in der sie und Birk Borkasohn über den Riss in der Burg springen – ein solcher Spalt – nur mit Anlauf zu schaffen, wenn überhaupt. Ich sehe das Kind einen Moment ungläubig an und drehe mich dann zu dessen Vater. In der Sekunde, als sich unsere Blicke treffen, beschließen wir einvernehmlich nichts zu sagen.
Ich denke, erst nach etwa zwei Jahrzehnten auf dem Erdball hängt man wirklich und entschlossen an der Fortsetzung dieser menschlichen Erfahrung, lässt Vorsicht walten und geht in einen eher konservierenden Zustand über. Bis dahin sollte man von den Bedenken der Erwachsenen nicht allzu oft gestört werden. Eine Woche später berichtet die lokale Zeitung vom Tod eines fünfzehnjährigen Jungen, der bei einem wohl ähnlichen Manöver hier in der Nähe von einer Felsenplatte gefallen und ertrunken ist. Es muss manchmal kaum auszuhalten sein. Ein Kind zu haben und es gleichzeitig nicht zu haben.
Ein Buch, das seit Jahren vergriffen und in keinem Antiquariat unter 80 Euro zu erstehen ist, wird von einem älteren Freund aufwändig recherchiert und in einem österreichischen Depot ausfindig gemacht. Er schickt mir alle Daten zum Abgleich, übernimmt die Bestellung und Lieferung an eine Freundin in Tirol, die es mir bei Gelegenheit mitbringen wird. Es ist ein großes Plus Freunde zu haben, die bereits in Rente sind und gerne Detektiv spielen.
Foto: Joe MiGo/ Wikipedia