Bleiben
Nach den Tagen in der Behörde liege ich unaufgeräumt in der Wohnung und bin zu nichts in der Lage. Draußen feucht warm. Es wächst Farn. Ich unterlasse es, zu lernen, mit meiner freien Zeit etwas anzufangen. Am Samstag hebe ich mich auf und fahre in die Stadt. Vor der Ludwigskirche hängen transparente Fahnen. Eine blaue Kugel vor durchsichtigem Grund. Neben den vielen hässlichen Flaggen auf dieser Welt existieren also auch noch ein paar ganz schöne.
Die Nacht wird lang. Im Hirschgarten sitze ich mit Freunden um ein Grillfeuer und esse Frühlingsrollen. Je dichter die Dunkelheit, desto näher fühle ich mich den Menschen. Ich brauche dazu keinen Alkohol. Das war nicht immer so. Beides haben zu können - Verbindung zu mir und Verbindung zu anderen - das ist der große Rausch, nachdem ich so lange gesucht habe. Er ist nicht verfügbar, dieser Rausch, er gehört mir nicht, ich kann ihn nicht herstellen. Mich lediglich bereithalten und konstant hinwenden zu mir.
Unweit unseres Platzes auf der Wiese fasst sich eine Familie oder ein Familienverband an den Händen und tanzt einen folkloristischen Reigen. Ich glaube, es wäre okay, rüber zu gehen und mitzumachen. Der Mond ist eine Sichel. Das Gras kaum kühler als die aufgeheizte Luft. Die Dunkelheit hat in dieser Nacht etwas von einem samtenen Tuch. Ich kann mich wickeln in das Tuch, ich spüre es auf jedem Zentimeter Haut.
Weiterhin beschäftige ich mich mit Ohnmacht. Hat sich ein Wort erst einmal Zutritt verschafft, geht es in der Regel auch die nächsten Monate nicht mehr weg. Es muss von allen Seiten benagt werden. Angefangen hat es im Februar mit der Ukraine. Dann im März der Tod von N. Dass ich ihn nicht am Leben erhalten konnte. Der Größenwahn, zu meinen, jemanden am Leben erhalten zu können.
Die verschwommene Erinnerung in der Stunde nach der Nachricht, im Kreis gelaufen zu sein. Auseinanderfallen.
Jemand, der sich mit Ohnmacht auskennt, schreibt:
Auf Ohnmacht antworten wir gern mit Macht. Mit Aktivismus.
Eine Tat zu tun ist leichter als das Unaushaltbare zu halten.
Sind deshalb unsere Taten vergeblich? Nein. Aber sie ändern nichts an unserem Ausgeliefertsein.
Du könntest den Bergen die Adern aufschneiden,
als Zeichen eines großen Gerichts.
Aber dir liegt nichts daran.
Sanften Gesichts siehst du
den Tragenden zu.
[Rilke]