Am Mittwochabend laufe ich am Feierabendverkehr entlang Richtung Isartor. Drei der anderen Zenschüler sind an der Kreuzung noch zum Italiener abgebogen, ich habe heute keine Zeit, sonst wäre ich mitgegangen.

Es spielen sich Muster ein, die mich faszinieren in ihrer schnell erhärtenden und Gemeinschaft stiftenden Funktion. Nach dem zweistündigen Stillsitzen auf den Kissen treten wir auf die Straße und witzeln über alles, was beim Stillsitzen in uns vorgegangen ist. Jede beschreibt ihren schlimmsten Moment (gastrointestinale Geräusche, eingeschlafene Beine, das verdammte Räucherstäbchen, der Gedanke an die letzte Wohnungsbesichtigung mit 75 anderen Münchnern…) Im Anschluss wird eine Bar angesteuert und auf dem Weg dorthin so laut wie möglich gelacht, fast geschrieen, ich persönlich nutze die Strecke um kurz jemanden an der Schulter zu berühren, ranzuziehen, irgendeine Art von emotionaler Begegnung nachdem ich zuvor den Gang durchs Nichts praktiziert habe. Vielleicht gibt es Leute, die in solch strengen Formen der Meditation ausbluten und immer weiter reingehen in die Isolation. Mir passiert das nicht. Ich pulsiere und greife nach der Materie, mehr als zuvor. Die Zeit ist nicht unendlich und jede Minute auf dem Kissen lässt mich Augen, Hände, Arme, die mich im Anschluss streifen, als Tore erkennen, durch die ich hindurch gehen will.

Am Samstag darauf treffe ich Kolleg*innen. Wir entwickeln körpertherapeutische Übungen und überprüfen sie auf ihre Wirkung. Es sind meist einfache Dinge, die wir versuchen, einfache Gesten, einfache Taten. Ausgreifen. Wegdrücken. Jemanden ablehnen, jemanden annehmen. Etwas wollen, etwas verabschieden. Eine Grenze klar machen. Realität testen. Verfügbare Mittel nutzen. Gefühle riskieren. Scham riskieren. Keine Angst mehr haben vor der eigenen Kraft. Groß sein, angewiesen sein.

Wir sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden.

Am Donnerstag unterhalte ich mich mit den Veranstaltern des wöchentlichen Tanzens in der Halle. Ich bin Anfang des Monats dort in den Altar gekracht. Direkt hinein, in Blumen, Teelichter, Buddha und den ganzen anderen Kram. Der Altar steht eigentlich immer in einer der Ecken beim Eingang und leuchtet von der Stelle als Lichtquelle und Haltepunkt in die Nacht. An dem besagten Abend stand der Schrein aber vor dem DJ Pult. Ich dachte mir schon beim Reinkommen, dass das keine gute Idee ist, hab den Gedanken aber schnell wieder vergessen, weil die Musik der Hammer war und ich raumgreifender als sonst getanzt habe. Interessanterweise war im Verlauf des Abends ich die Person, die dann versehentlich an diesen Altar rankam und ihn halb umgerissen hat. Ich war etwas perplex nach dem Reinkrachen, hab ein paar der Kerzen wieder aufgestellt, mich abgetastet und, als der Techniker ihn verschoben hatte, weiter gemacht.

Im Nachhinein kam mir das symbolisch vor. Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich in solider Outdoorkleidung auf einem soliden Berg saß und mich beim Betrachten eines gegenüberliegenden Bergmassivs nicht des Gefühls erwehren konnte, zu sicher zu sein. Mich zu sicher zu verhalten. Kontrolliert. Ich habe von diesem Moment ein Foto, das ein Freund machte, der schräg hinter mir stand auf dem Berg. Das Foto habe ich oft angeschaut und schließlich einen Satz darunter geschrieben, den Rilke oder Richard Rohr oder beide, ich weiß nicht mehr wo, gesagt haben:

Eins muss ich wieder können; fallen.

Mit den Veranstaltern spreche ich am Donnerstag nicht über das Fallen oder den Altar, Dichter und Symbole. Ich will wissen, welche Schwierigkeiten sie haben, wie oft sie sich finanziell ruiniert haben, was es ihnen abverlangt, jede Woche über Jahre gegen viele Widerstände eine aufwendige Logistik, Vision und Community zu unterhalten. Ob sie gern eine Pause hätten, Veränderung, Vertretung? Nein, sagen beide. Sie und er. Wir wollten das, vom ersten Tag. Bevor es da war. Bevor es all das gab.

Ein Gestirn werden. 4,5 Milliarden Jahre brennen.

Auf den Feldern kreisen die Milane tief. Am Wegrand gedeihen Kamillen, es duftet nach Heu und das Zirpen der Grillen begleitet mich. Zweimal werde ich an regenreichen Tagen komplett durchnässt, weil ich zu Terminen muss und nicht die 10 Minuten Zeit hab, mich unterzustellen. Das ist der Preis dafür, dass ich nie einen Schirm mitnehme, es fast immer gut geht und ich mir dieses kleine Gewicht spare.

Am Ende der Woche melde ich mich telefonisch bei Lydia, einer Nachbarin, die ich beim letzten Weihnachtsfest hier im Ort kennengelernt habe. Sie kommt noch am gleichen Nachmittag vorbei, bringt Rosen aus ihrem Garten und bleibt zum Kaffee. Lydia ist die einzig mir bekannte 86 -Jährige, die einen Kopfstand kann. Sie hat 25 Jahre mit einem Mann und im Anschluss 25 Jahre mit einer Frau gelebt. Sie sagt, beides war furchtbar, sieht dabei aber nicht aus, als ob irgendwas furchtbar war. Sie sieht großartig aus: geschmeidig und sehr schlau. Im Obergeschoss ihres Hauses befand sich bis vor Kurzem eine umfangreiche Sammlung hochwertiger Kostüme aus den Sechzigern und Siebzigern, die sie schließlich aus Platzgründen an einen Kostümbildner der Wiener Oper verkaufte, der extra dafür mit einem Transporter und zwei Helfern anreiste. Lydia macht jeden Morgen Yoga, ist als Teenager aus der DDR geflohen und hängt manchmal in merkwürdigen Verdrehungen aus dem Fenster, um ihre Rosen an der Hauswand festzuklemmen. Ich bin gespannt, wie es mit ihr weitergeht.

Morgen bin ich bei einem Workshop, in dem wir uns eine Stunde im Kreis drehen. Ich hoffe, mir wird nicht schlecht.