jagen
Dann findet die letzte Prüfung statt, ich stehe im sechsten Stockwerk eines Innenstadtgebäudes und liefer die komprimierte Version des angesammelten Wissens ab. Ich beschließe, richtig dick aufzutragen und keine Eventualität unerwähnt zu lassen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Beisitzer und Protokollführende ob meines Tempos sehr schnell mitschreiben müssen, was mir eine perverse, kleine Lust verschafft und mich veranlasst, einen Abstecher in die somatoformen Störungen zu unternehmen, nur um auszuführen, warum der darliegende Fall nicht auf eine solche zurückzuführen ist. Ich sehe die Vorsitzende lächeln und weiß, dass sie weiß, was ich hier tue und dann baue ich extra für sie ein Benzodiazepinabhängigkeits-Szenario und den Abriss zweier krankhafter Persönlichkeitsakzentuierungen in die Diskussion ein, damit wir uns weiterhin anlächeln und verstehen können.
Dann schneeregnet es die ganze Woche, ich mache Feuer, werfe mehrere Kilogramm Papier weg, koche jeden Tag und schlafe. Vor dem Ofen liegend bewege ich mich langsam zu einer Tonbandaufnahme aus den 80’er Jahren, auf der eine schwedische Feldenkraislehrerin mit hypnotischer Stimme sagt: If you want to learn something new, don’t take it serious. Allow yourself to play.
Es ist daneben auch die Woche der ausfallenden S-Bahnen, gesperrten Streckenabschnitte und des eisigen Windes. Ich hätte nichts dagegen in lauen Sommernächten an unüberdachten Stationen im Nirgendwo stundenlang auf etwas zu warten, in diesem Wetter aber; es macht einen kaputt. Es macht einen kaputt bis ins Mark. Ich bin so überzeugt von und angewiesen auf den Öffentlichen Nahverkehr und deswegen hasse ich ihn manchmal zutiefst und gründlich.
Eine Freundin, die immer schon viel gewagt hat, um weniger privilegierte Menschen zu unterstützen, berichtet von einer Entscheidung, mit der sie sich nun die nächsten Jahrzehnte auf einen sehr herausfordernden Weg einlassen wird. Ich bin fasziniert und sprachlos, woher sie diese Bereitschaft zur Aufgabe ihrer Bequemlichkeiten nimmt. Neben ihr komme ich mir manchmal vor, als würde ich Pampers tragen.
Ab Mitte der Woche kündigen sich anreisende Kolleg*innen, eine Weiterbildung und wärmere Temperaturen an, ich liege vorm Fenster und schaue in den Sonnenuntergang. Da geht er hin, der graupelige April.