Samstag sitze ich in einer österlich leeren S-Bahn, höre sentimentale rumänische Musik und notiere Ideen für einen Workshop mit Kolleg*innen später am Tag. Es ist warm und es wird noch wärmer werden. Ich bin falsch angezogen, übermüdet und trage zu viele Bücher in meinem Rucksack - der krachend blaue Himmel aber und die auf dem Asphalt klebenden rosa Blüten - es ist real und plakativ Frühling und kein Kummer wird mir diesen Tag trüben.

Wir arbeiten eine Weile in der Praxis eines Freundes, ehe wir uns mit Kaffeetassen auf den Bordstein zur Straße raus setzen, blinzelnd in all das Licht von allen Seiten. Es ist, obwohl man ja schon eine Zeit lang auf der Erde verweilt und weiß, wie Jahreszeiten gehen, erneut verblüffend mit welchem Genuss es sich sitzen lässt auf einem Bordstein ab Ende März in dieser Stadt. Wie die winterliche Verrohung und Zusammengefaltetheit der Gedanken einem weiter gestreuten Sichtfeld weicht, sich Vorübergehende anplaudern lassen oder direkt dazusetzen, eine Schicht Kleidung nach der anderen ausziehend. Ach, unsere fabelhaften Körper. Da sind sie wieder.

Einige Stunden später, in der Nacht, stehe ich mit Menschen, die Teile einer Musikanlage in einen Sprinter räumen, an den Ausläufern eines kleinen Parks mit alten hohen Bäumen, die Magnolien sind nicht erfroren, die Dunkelheit riecht süß. Kurz vorher war mein zehn Jahre älteres Selbst durch die Menge gelaufen, in Eile, ihr in die Ecke gepfeffertes Shirt greifend, Tasche, Schuhe, mit einer Hand im Vorbeilaufen nach meinem Arm fassend, bist du nächste Woche da, hat sie gefragt, und ich hab mich umgedreht und sie angeschaut und genickt. Es hat uns beiden nicht gefallen, das Set heute, ich habe mich sogar eine Weile an die Wand gesetzt und nur zugeschaut. Am Ende jedoch, in der letzten halben Stunde ist es gut geworden. Der schlaksige Techniker, der nur selten hinter den Kabeln hervorkommt, mein älteres Selbst, ein gehörloser sehr höflicher Mann und ich fanden in einer Ecke der Halle zusammen und beendeten diesen Monat mit ausgestreckten Armen.

Am Mittwoch ist der erste Teil der Prüfung durch, einen Nachmittag lang liege ich in einer Art Erleichterungslähmung auf dem Wohnzimmerteppich und bewege mich nicht. Dann schaue ich in die verbliebenen Unterlagen, zimmere den restlichen Stoff in die freien Schlitze meines Kalenders und fange an. Es ist viel, es ist machbar, es ist bewältigbar, ich darf nicht nachlassen, der letzte Sprint, ich will das, ich kann das. Eine Kollegin erzählt, dass sie in der mündlichen Abnahme ohnmächtig geworden ist. Tatsächlich ohnmächtig, mittendrin. Die Damen und Herren des Prüfungsausschusses zogen sie vom Boden hoch, informierten sie darüber, jetzt ein Taxi zu rufen und die Befragung zu beenden. Nein, hat die Kollegin darauf erwidert, ich bleibe hier. Und dann hat sie den Fall gelöst: Diagnostik, Abgrenzung, Recht, Zuständigkeit, Behandlungsplan und Krisenintervention. Ich fühle mich gut unterhalten, als sie beim Dessert in einer Landgaststätte davon berichtet, hoffe für mich selbst aber nicht, in Kürze eine solch spektakuläre Anekdote auftischen zu können.

Die Nachbarfreunde kommen und andere Freunde und nochmal andere Freunde. Wir trinken Champagner, jemand kocht, jemand macht Tiramisu, es treffen Käseplatten ein, Hagebuttenmarmelade, Narzissen, es werden Eier gesucht, Gesichter in die Sonne gehalten, Pfadfinder- und Arielle die Meerjungfrau-Lieder gesungen, die Spülmaschine läuft dreimal am Tag, mehrere Personen tragen einen Sessel aus dem Haus und vor dem Fenster blüht die Zierquitte, korallfarben, als wäre das alles noch nicht schön genug.

Dann kracht der Auspuff ab, ein Bekannter bestellt Ersatzteile und repariert das Auto. In der Zwischenzeit fahre ich ohne Auspuff, das heißt ohne Schalldämmung übers Land, mit röhrendem Motor, wie die Dorfjungs hier, wenn sie 18 sind. An jeder Ampel möchte ich in Grund und Boden versinken.

Unter der Woche gehe ich ins Kino, um Dune zu sehen und ja, Wüsten und Science Fiction, eine Kombination, deren Wirkung für mich nie enden wird. Das Gelübde des Ordens: Ich werde mich meiner Angst stellen. Ich werde meine Angst über mich hinweg und durch mich hindurch gehen lassen.

Gelübde spielen auch beim Zen eine Rolle. Ich habe einige Wochen dem tief vibrierenden japanischen Chanten der Gruppe zugehört, ehe mir klar wurde, dass hier rezitiert wird, was ich vor zehn Jahren auf einem Zettel notiert und an die Küchenwand geklebt hatte: Wie zahllos die fühlenden Wesen auch sein mögen, ich gelobe, sie alle zu retten.

Der Größenwahn und die Unmöglichkeit des Einlösens dieser Worte; das interessiert mich natürlich. Gedehnt, gestretcht zu werden von einem Versprechen; übermenschlich und total. Es gibt viele Übersetzungen, Interpretationen und viertägige Seminare, um aus diesen Zeilen schlau zu werden. Ich weiß, ich werde es nicht. Und während einige Menschen beim Singen dieser Zeilen Leistungsstress kriegen, passiert in mir das Gegenteil. Ich fühle mich geliebt. Als hätte sich jemand entschlossen, alles erdenkliche für mich zu tun.