Kurz darauf werde ich 42 und entschließe mich, den Tag allein zu verbringen. Es ist ungewöhnlich warm, ich ziehe Sandalen an und gehe übers Feld ins nächste Dorf und von dort an den Kuhweiden vorbei den Hang hinunter. Eine kleine Weile laufe ich unter Fichten und Buchen, dann öffnen sich die Baumgruppen und das Schilf beginnt.

Das Schilf ist eigentlich ein Moor oder ein unterirdisches Delta oder ein Moos. Jeder, der in der Nähe wohnt, bezeichnet es anders. Am Rand des Schilfs leben Tagpfauenaugen und Zitronenfalter zusammen mit einigen Tausend Bienen entlang einer sehr feuchten Wiese. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese verläuft ein Bach. Dieser Bach wird von einem Biber bewirtschaftet. Der Biber staut und verlegt seit mehreren Jahrzehnten das Wasser, was neben den Bodenbedingungen vielleicht das unterirdische Delta, Moos, Moor oder Schilf erst hat entstehen lassen.

Stellenweise ist das Schilf verlandet, hier wachsen Schlüsselblumen, niedrige Birken und Weiden und hier führt ein Weg in eine Gegend, in der meine Definitionen ermüden und versickern. Vielleicht liegt es an dem unklaren Untergrund, dem Nachgeben des Bodens, dem ungewöhnlich warmen Tag. Ich lege mich an das Bachbett und verhalte mich ruhig im vagen Wunsch, der Biber möge an mir vorbei schwimmen und ich ihm dabei zusehen können, wie er einen Baum fällt.

Während ich mich ruhig verhalte schlafe ich ein. Als ich aufwache habe ich einen leichten Sonnenbrand und fühle mich mir selber nah. Ich fühle mich eindeutig innerhalb meines Körpers und eindeutig innerhalb meines ichs. Ich betaste meine Wangen und meine Arme. Ich bin ganz klar umrissen und aufgehoben auf sehr leibliche Art. Aufbewahrt.
Nach vier Wochen, in denen ich jeden Tag mit Schmerzen an den verstorbenen Jungen gedacht habe, bemerke ich, dass ich selbst noch hier bin. Auf der Erde. In mir.

Auf dem Rückweg bin ich durstig und hungrig. Ich bin viel länger im Schilf geblieben als geplant und kann mich auch jetzt nur schwer losreißen. Im Wald biege ich aus einer Kurve kommend an den Fichten ab und zum Feldweg ein.
Im Gras, rund dreißig Meter von mir entfernt, steht ein Fuchs und sieht mich an. Ich bleibe stehen und schaue zurück. Er ist unfassbar schön. Sehr rot. Und auf elastische Weise entspannt.
Einen kurzen Moment stehen wir beide so. Dann entscheidet etwas in ihm, das Weite zu suchen, er dreht sich um und verschwindet im Unterholz.