Marmor
Brenner. Die verlässliche Dynamik zwischen vier in einem Auto sitzenden Menschen. Drei schlafen, einer fährt. Aufgrund äußerer Umstände (Tanken, Mautstation…) gemeinsam wach werden, nach den Keksen greifen und eine der vor dem Einschlafen geführten Unterhaltungen weiterführen – welche Jobs hätten wir in diesem Land, wie würden wir wohnen, wo einen Samstagabend verbringen, auf welche Art gegenüber was abstumpfen?
Weinberge ziehen vorbei, die Flussebenen, Industrie und Höfe. Die Bäume werden klein und knorrig, das Gras hellbraun. Am Nachmittag sind wir da.
Es ist die eine Woche im Jahr, in der ich lebe wie in einem tschechowschen Theaterstück. Aufwache in einem Landhaus, den weitläufigen Garten betrete, hinüber gehe zu der Gruppe Menschen, die in noch etwas fröstelnder Morgenhaltung Tee trinkt, auf die Sonne wartet, und wenn sie rauskommt, den ganzen Tag ihren Strahlen folgt, von einer Laube und Terrasse auf die nächste. Später wird jemand kochen. Später wird jemand etwas vorlesen. Später wird Wäsche gewaschen und auf die Leine gehängt.
Eine Madonnenstatue soll es hier geben, aus weißem Marmor, dem hier abgebauten Marmor. Eventuell führt der Weg dorthin direkt an unserem Haus vorbei. Es wird lange überlegt, ob man sich bequemen will. Eine Person sieht in Karten nach, die andere schätzt Distanz und Abkürzung durch die Olivenhaine. Wir können doch nicht, kaum hier, schon wieder wandern? Ich bin sehr unentschlossen und schaue zum Meer. Eventuell gehe ich mit. Falls ich es tue, werde ich die Madonna auf den Mund küssen.
Das ist auch eine neue Erfahrung; ständig den in diesem Haus, in dieser Gegend überall verbauten Marmor unter den Händen zu haben. Spülbecken, Tischplatten, Vogeltränken, Fenstersimse, Anrichten, Badezimmerfliesen; alles aus dem weißen ewigen Stein. Ich kann daran eine sensorische Brücke schlagen, zurück fassen bis ins 16. Jahrhundert, ich glaube zu wissen, was sie gefühlt haben, die Menschen auf diesen Hainen, dass sie wirklich hier waren und ihre Fingerkuppen auf den Dingen lagen.
Am andern Tag brechen wir auf zu der kleinen Stadt am Wasser. Dort ein angenehm langsames Fußgängertempo. Es drosselt einen herrlich runter von der Raserei, in der man sich manchmal bewegt. Wir gehen zu fünft in den verwinkelten Supermarkt, bestellen salziges Gebäck an der Theke und betreiben brüchige, scheue, höfliche Konversation mit diesen ungehetzten Leuten, die es einem so leicht machen. Geparkt haben wir vor einem Altstadtgebäude, das sich als Einrichtung für geistig nicht gesunde Menschen herausstellt. Aus den Fenstern lehnen Bewohner, winken und rufen Sätze, die vielleicht uns gelten oder jemand anderem oder allen.
Am Strand in der Septembersonne liegen die einheimischen Paare in ihrer eingespielten, sandigen Zärtlichkeit, lassen ihre Hunde von uns streicheln und schauen freundlich solidarisch, als wir uns in der Nähe niederlassen. Wir backen eine Weile fest auf dem weichen Untergrund und blinzeln in die Sonne. Die ersten Schritte, die ich seit der Fraktur barfuß draußen gehe, finden hier statt, auf den zwanzig Metern zwischen Handtuch und Welle.
Abends bleiben wir beim Rotwein sitzen und drücken uns vor dem Schlafengehen, denn die Betten sind ein wenig wacklig und das Bettzeug nicht richtig und die Matratzen erst recht nicht, wie es manchmal so ist. Einmal muss kollektiv eine halbe Stunde über den mangelnden Schlafkomfort gejammert werden (der so einfach herzustellen wäre! wo doch das restliche Haus so toll ist! was ist denn daran so schwer zu verstehen!) - anschließend fügt es sich leichter in diese seltsamen Laken und unbezogenen Überdecken. Es ist wirklich eines der sehr spürbaren Probleme des Lebens mit Vierzig plus. Nicht mehr überall schlafen zu können.
Am anderen Morgen, die Sonne geht auf, die Freunde sitzen im Olivenhain und schauen aufs Meer. Alle wieder ganz froh und friedlich, einer der Männer trägt auf dem Tablett den zweiten Kaffee heran und reicht die Tassen in die Runde. Wir sprechen über Napoleon und Verfilmungen und Bücher und ahmen Charaktere nach und hangeln uns durch halb vergessene Liedtexte. Eine Freundin streift im roten Kleid ums Haus und sammelt etwas, ich mache am Rand des Grundstücks Qi Gong und bekomme dafür von einer vorbeiwandernden älteren Dame einen Daumen hoch. Dann ist es Abend, wir kneten Gnocchiteig, das Wasser sprudelt, Salbeibutter bruzelt auf dem Gasherd. Im zweiten Stock des Hauses findet sich eine Küchenwaage aus den Siebziger Jahren, die zu dem Zweck herbei getragen und eingesetzt wird.
Die Tage vergehen. Manchmal stehe ich allein im Garten und denke nichts und bin nichts als ein Gewächs unter anderen Gewächsen. Einmal deklamiere ich ein Gedicht den Hügel hinunter.
Am letzten Tag vor der Abfahrt gehen wir in die Pasticceria, trinken Kaffee und frühstücken süß. Von der Barista, einer Muttergestalt von überfließender Herzlichkeit, wird jede Hereinkommende mit großer Geste und guten Worten empfangen. Am Tisch beugen wir uns zu viert über das regionale Käseblatt und setzen uns mit vereinten Sprachkenntnissen über die Vorkommnisse des Umlands ins Bild: eine explodierte Gasheizung in einem Einfamilienhaus, Eröffnung der Wildschweinjagd, Fußball, Statistik zu Verkehrstoten, die Gewinnerin des Schönheitswettbewerbs heißt Ofelia und betrachtet ihren Titel als „Chance, um ihrer Passion nachzgehen“ (Welcher? Wird nicht erwähnt). Wir trinken aus und verabschieden uns von der Frau hinter der Theke, die uns mit beiden Händen winkt. Wie ein Kind. Als ich im Auto sitze muss ich deswegen fast weinen.
Auf dem Rückweg übernachten wir in einem Dorf, hoch gelegen, neblig, altes Gemäuer, gut hergerichtet und spazieren am nächsten Morgen noch über die eine Kreuzung mit Metzgerei, Bar und Kirche. In der Mitte des Dorfplatzes findet sich etwas, das ich für Reste einer Viehtränke halte. Zwei Wochen später, wieder zurück in Deutschland, beim Durchblättern alter Stadtbilder erkenne ich, dass es sich dabei um eine öffentliche Waschküche handelte.