ruhen
Mein neues Leben ohne Zeitdruck breitet sich aus, ich werde geschmeidig und höre dem Vogelgespräch zu. An manchen Vormittagen tu ich nichts als im Bett Kaffee zu trinken und später Flieder in eine Vase zu schneiden. In der Institution vertrete ich zwei fehlende Teammitglieder ohne mich von der dreifachen Aufgabenmenge gehetzt zu fühlen. Allein zu wissen, dass abends keine mehrstündige Lerneinheit wartet, weitet mich bis an den Horizont und zurück.
Dann nehme ich in dem anderen Beruf an einer Weiterbildung teil, zu der viele vertraute Kolleg*innen anreisen. Wir befassen uns mit einem bestimmten Entwicklungsstadium vor dem 6. Lebensjahr und die damit einhergehende Verkörperung sowie das Ausbleiben der Verkörperung, wenn die Umstände diese verhindert haben. Es geht in dem Modul ans Eingemachte, auch für mich; nach den Übungen sitzen häufig Leute vor der Tür und versuchen, sich wieder zu fangen.
Am zweiten Tag kommt die Sonne raus. In der Pause legen wir Isomatten in den Hof, essen Nudelsalat, schauen den Handwerkern der Glaserei beim Abladen von Werkzeug und dem Cateringservice beim Verhandeln mit Kunden zu. Es gibt in dieser Stadt so wenig freie Flächen, dass Handlungen, Pausen, Erledigungen sehr gedrängt, manchmal fast gestapelt stattfinden. Kinder wickeln auf Einparkversuch auf Seniorengymnastik auf Videocall auf Flaschensammeln. Ein unendliches Teilen, Mithören und Mitansehen aller Bewohner und ihrer Bedarfsbewältigung; anstrengend, schön, oft zu nah.
An einem der nächsten warmen Abende finde ich mich mit meinem älteren Selbst auf einer Holzbank am Eingang der Halle sitzend. Hinter uns der dunkle Park, punktuell erhellt von weißen Lichtkegeln, vor uns Ikeatüten, in denen die Veranstalter Kerzen und Lampions transportieren. Aus der Halle kommen die letzten versprengten Gruppen von Tanzenden heraus, schließen Fahrräder auf, schnallen Rucksäcke an Gepäckträger, als einer der Vorbeikommenden zu uns rüber schaut, kurz inne hält und sagt: ihr zwei seht euch ähnlich.
An dieser Stelle muss ich einmal erwähnen, dass mein älteres Selbst sich optisch nicht deutlicher von mir unterscheiden könnte. Sie ist groß, dunkelhaarig und dunkeläugig, sie hat die Aura und Haltung einer Frau, die einundhalb Jahrzehnte in einer norditalienischen Metropole gearbeitet hat in einer der härtesten kreativen Branchen überhaupt. Was der Mann mit Ähnlichkeit vermutlich meint und erkennt, ist dass wir über die letzten Wochen zueinander hingewachsen sind, anders kann ich das nicht beschreiben. Zwei Mal standen wir in einiger Entfernung unter den Bäumen im Park, warfen uns verstohlene Blicke zu, verabschiedeten uns zögerlich, um schließlich beim nächsten Aufeinandertreffen ein vollwertiges Gespräch zu beginnen. Im Juli werden wir in den Bergen ein Zimmer mieten und drei Tage miteinander tanzen. Es wird daher Zeit, dem älteren Selbst einen eigenen Name zu geben. Ich nenne sie hier der Einfachheit halber Stella.
In der darauf folgenden Woche feiern zwei Freunde ihren Geburtstag an einem anfänglich bewölkten und dann sehr milden Tag im Mai. Sonnenlicht bricht durch das junge Laub, unter dem wir stehen, Kastanienblüten segeln von den Zweigen und verfangen sich in unserem Haar. Jede Person, mit der ich mich unterhalte, trägt diesen trocken knisternden Kopfschmuck aus rosaweißen Blüten. Ein japanisches Manga ist nichts dagegen - so viel überbordende Poesie - niemandem als der Natur selbst würde ich eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen. Obwohl. Nein. Ich würde allen eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen, inklusive mir selber. Auch dieser Tag und dieses Fest ereignen sich auf einer der gemeinsam genutzten freien Flächen. Ich kenne fast niemanden, der in dieser Stadt lebt und einen Garten oder auch nur größeren Balkon hat, private Feiern sind somit häufig öffentlich und nur wenn ich viele Kilometer entfernt an anderen Orten in anderen Zusammenhängen bin, fällt mir wieder ein, dass draußen auch anders gefeiert werden kann: in dicht eingewachsenen, von einer oder maximal zwei Familien genutzten Gärten, Hortus conclusus, Kleinode, florale Schatullen, von Pflanzen begrenzter eigener Raum.
Am Donnerstag sammel ich mich eine halbe Stunde durch das Brennnesselfeld am Waldrand und verarbeite die Ernte anschließend zu Pesto. Dann fahre ich zur Zenschule und trinke Tee mit einem pensionierten schwedischen Professor, der gruppendynamische Prozesse erforscht hat. Seine mit den Studierenden getesteten Interaktionsvorschläge inspirieren mich eine Abwandlung davon eventuell in der Arbeit zu verwenden. Eine der von ihm entwickelten Übungen besteht aus 5 Handlungen/Schritten, die verkörpert, d.h. mit eindeutig körperlichem Ausdruck durchlaufen werden:
how to know what you want
how to ask for it
how to make an effort
how to end the effort
how to accept the result