Am Morgen schillert die kristalline Schneedecke von den Gipfeln des Karwendels. Ich trage meinen langen, schwarzen Mantel, den pelzigen Kragen hochgeschlagen, schwer um die Beine flatternden Stoff; dunkler Kontrast zum weißen Massiv. Ich kann eine mongolische Prinzessin sein, wenn ich so gehe, im ersten Morgenlicht, mit Kälte vertraut, Steppenbewohnerin und Hüterin von Herden, ohne inneren Zwist, ohne den Versuch, woanders zu sein.
Es sind diese wenigen Tage am Ende des Jahres, wenn der November in den Dezember kippt, an denen ich Ja sage zum Winter, die eisige Luft akzeptiere, das Enden und Verschwinden von allem will.

I have hope for your people,
but I keep none for myself.

Aragons Worte vor der Schlacht. Ich denke oft an ihn und was es bedeutet, ein Kapitel zu schließen, zu handeln und dabei nichts mehr für sich selbst zu erwarten. In den Nächten stehe ich vor dem Haus, die Sterne wie mit Klingen geschnitten, nur nördlich der Alpen sind diese Erfahrungen möglich; splitternde Finsternis, schmerzende Haut, eine präzise Vorstellung davon, von solchen Temperaturen dahingerafft zu werden.

In der Nacht zuvor beim Tanz in der Halle gab es einen sehr stillen Moment. Minuten, in denen die Bewegung der 200 Anwesenden verebbte, beinahe zum Erliegen kam. Die meisten standen zu diesem Zeitpunkt fast reglos, lediglich schwingend, passiv bewegt, subtilste Form. In diese Stille hinein schob sich ein junger Mann, ich kenne ihn und weiß, dass ein hartes Jahr hinter ihm liegt, es Tage gab, an denen er zu schwach war, die Wohnung zu verlassen. Eine graue Decke auf seinen Schultern, die nackten Füße am Boden, tanzte er mit gesenktem Blick, die Arme erhoben, in der Mitte der Mitte. Langsam erst, behutsam, dann stark, während wir ihm zusahen, Zeugen waren für ihn und das. In solchen Nächten wird alles verhandelt. Ob wir leben oder sterben. Ob wir allein sind oder zusammen. Was in uns brennt und was daraus wird. Niemand hat Worte dafür. Es ist nicht sprechbar, es bedarf einer Tat. Kein Intellekt, keine Theorie, nur ein Körper kann das tun, eine verkörperte Seele. Und ja, es muss da draußen geschehen, vor Freunden und Fremden, es muss verdichtet werden, ein glimmender Punkt auf dem Zeitstrahl in die Unendlichkeit.

…denn wir wissen und fühlen, dass das Grenzenlose schon in uns ist.

Mit einer Decke zu tanzen ist wie ein Schwert zu führen. Ich hab es versucht, es ist nicht leicht. Es geht nur mit großer Kraft und Demut. Schultern, Arme und Nacken müssen entschlossen sein. Die Verletzlichkeit, der Wunsch nach Schutz, im Gleichgewicht mit der Fähigkeit, sich aufzubäumen, etwas zu töten, die eigene Macht zu nutzen.

Die gute und revolutionäre, psychische Leistung etwas zu integrieren, anstatt es auszuschließen, kann dazu verleiten, sich vorbei zu mogeln an den archaischen Momenten, wenn wir Kante zeigen müssen, schreien, kämpfen, etwas niederringen und sei es nur im rituellen Akt. Es kommt selten genug vor, dass jemand das überhaupt will und kann und noch seltener, dass jemand es tut. Das Risiko der Beschämung und Lächerlichkeit ist hoch, die Wirkung fraglich. Es gibt kaum Vorbilder dafür, im besten Fall eine Ahnung. Der Mann in der Mitte tanzt mit seiner Rohheit, er gibt sich preis. Wer sich so zeigt steht am Abgrund oder ist schon tot oder auferstanden.

Später treffen sich unsere Augen. Ich geb ihm ein Zeichen durch den Raum. Ich suche den Blick, betaste die Unsterblichkeit. Wenn ich nicht regelmäßig in solche Augen sehen kann, fühle ich mich sehr allein. Dann gehe ich raus, nachts, tags, bleibe wach und halte Ausschau.