Am Samstag bin ich auf einem Straßenfest. Die Musik ist zu laut und das Bier lauwarm, aber das Beisammensitzen auf aufgeheiztem Asphalt und in vertraute Gesichter Schauen, nachdem so viele Umwälzungen, Umzüge und Neuanfänge über uns hinweggegangen sind, ist unbezahlbar. Ich bekomme Lust auf ein zweites lauwarmes Bier.

Am Tag danach gehen wir zu fünft auf einen Berg. Es ist sehr heiß, als wir am Gipfel essen. Jemand aus der Gruppe hat sich aufs Brotbacken verlegt, eine andere aufs Gemüse Ziehen, es fehlen nur noch Sachkundige für Quittengelee und vielleicht ein, zwei Personen, die eine kleine genossenschaftlich geführte Molkerei betreiben. Der Abstieg ist ein langwieriger und gelenkabnutzender Loop aus scheinbar genau gleich bemessenen Serpentinen zwischen scheinbar genau gleich aussehenden Fichtengruppen, es ist ein Abstieg wie die Träume, die ich hatte, als ich einen Sommer lang an einem Fließband gearbeitet habe. Unten angekommen sind wir zu faul und erledigt, eine idyllische Badestelle zu suchen und springen direkt unter der Autobrücke in den See. Das Wasser ist astrein, auch wenn am Parkstreifen die Plastiktüten rumfliegen. Ein interessanter Kontrast, nach vielen Quadratkilometern Natur den Tag so trashig enden zu lassen.

Es folgt Arbeit in der Institution und ein Handvoll Auszubildende, die ich mit Statistik quälen muss. Immer wenn ich ihnen eine Aufgabe übertrage, den Raum verlasse und den Gang runtergehe, fühle ich mich einen Moment lang porös und seltsam gerührt von ihren Schmetterlingstattoos, den schlecht gefärbten Haaren und der Wackerheit, mit der sie durch die Institution stolpern. Im Nachgespräch lasse ich ich dann auch die kleinen Nachlässigkeiten, die ihnen bei der Erledigung der Aufgaben unterlaufen sind, unter den Tisch fallen. Es ist mir ohnehin ein Rätsel. Ich weiß von mir selbst, in diesem Alter in einer wasserdicht abgeschotteten Privatwirklichkeit gelebt und mich selten mit äußeren Tatsachen befasst zu haben. Die Auszubildenden scheinen mir im Vergleich dazu recht gut verortet und einigermaßen orientiert durch die Gegend zu steuern. Kein Grund, wenig von ihnen zu fordern…Ich bin da wohl zu weich.

Wieder zu Hause stehen vor dem Pflegeheim ein Stück die Straße runter zwei junge Pflegerinnen in türkisen Kitteln und Hosen. Die eine gibt der anderen Feuer, dann rauchen sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Es ist eines der guten Pflegeheime, angeschlossen an ein Mehrgenerationenhaus mit Gemeinschaftsgarten und nicht völlig heruntergewirtschaftet aussehendem Personal. Die zwei Pflegerinnen erzählen sich etwas, die eine ist parallel zum Rauchen damit beschäftigt, ihren Zopf neu zu flechten, die Sonne geht unter, im horizontal einfallenden Licht leuchtet das Türkis der Uniform auf. Wer legt die Farbe der Pflegekleidung fest? Die Betreiber des Heims, die Verwaltung, das Team miteinander in einer Teamsitzung?

In einem früheren Job bekam ich jeden zweiten Tag Besuch von einer Dame mittleren Alters, die von Kopf bis Fuß in Türkis gekleidet war. Die Dame hatte eine leichte Lernbehinderung, glaube ich, und las bzw. betrachtete mit Vorliebe Bildbände zu Steppentieren des afrikanischen Kontinents. Ich lieh Dutzende Bücher aus verschiedenen Bibliotheken aus, um den Bilderdurst der Dame zu stillen. Als Dank bastelte sie regelmäßig kleine Zettel, auf denen mit Schreibmaschine getippt die Ankündigung des nächsten Sendetermins von Reich-Ranickis „Literarischem Quartett“ zu lesen war. Einen der Zettel bewahre ich bis heute in meinem Geldbeutel auf. Darauf steht:

Frau Unendlichkeitsfiktion,
am Dienstag, 11.05.
ab 23:15 Uhr
der ZDF Bücheropa!

Gegen Ende der Woche bemerke ich eine eigentümliche unbegründete Unzufriedenheit. Alles kommt mir eng, verschnürt und klamm vor. Ein Blick auf das Thermometer offenbart, dass die Wohnung seit Tagen immer weiter auskühlt. Nach zehn Tagen Regen ist keinerlei Restwärme mehr in den Räumen gespeichert. Ich laufe einen weiteren Tag unzufrieden herum, dann hole ich Feuerholz rein und schüre den Ofen. August.

In dem anderen Beruf sehe ich einen Tag lang einer Kollegin beim Arbeiten zu. Die nächste Woche verbringe ich damit, zu prüfen, welche Puzzlestücke ihrer Herangehensweise ich für meine Arbeit verwenden kann. Die Kollegin ist auf einem bestimmten Gebiet spezialisiert, sie arbeitet mit Menschen, die als Kind in Täterkreisen aufgewachsen sind, hält Vorträge dazu und unterrichtet Studierende. Obwohl ich die Theorie und Teile der Praxis kenne, fallen mir ihre besonderen Interventionen, ihre Art der Zuwendung und ihre Scharfsinnigkeit auf. Sie weiß, dass Menschen, die eine solche Kindheit überlebt haben, Sicherheit und Kontrolle brauchen. In einem weitaus größeren Maß als verschont Gebliebene. Diese Sicherheit und Kontrolle stellt die Kollegin für ihr Gegenüber immer wieder her, alle paar Minuten steckt sie neu ab, wo man sich gerade befindet, was hier passiert, wer welche Rechte hat und dass in diesem Raum nichts gegen den Willen eines anderen Menschen getan oder gesagt werden darf. Mit ihrer Körpersprache und der eigenen emotionalen Aufgeräumtheit vermittelt sie dem Nervensystem ihres Gegenübers immer wieder die Botschaft von Annahme, Würde und Entscheidungsfreiheit. Innerhalb dieses Rahmens tritt nach einer Weile eine erste Entspannung ein und macht das eigentliche Arbeiten an der Verbesserung eines leidvollen Zustandes erst möglich.