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You do not have to be good,
you do not have to walk on your knees
for a hundred miles through the desert repenting.
You only have to let the soft animal of your body
love what it loves.
[Mary Oliver]
Dann regnet es, Regen ohne Unterlass. Am Morgen das Geräusch der Tropfen, während ich am Schreibtisch der Institution sitze und Griechisch transliteriere, das Geräusch der Tropfen später, als ich übergehe zu Polnisch, am Abend das gleiche Geräusch unter dem Dach der Zenschule. Ich gerate in eine lang nicht mehr dagewesene emotionale Neutralität und betrachte die Vorkommnisse der Woche fast ohne Beteiligung.
Samstagnacht bin ich unterwegs, durch die schwimmenden Straßen Richtung Kolumbusplatz, die Hochwasser tragende Isar milchig grau und reißend an meiner Seite, angeschwollen zu ihrer maximalen Breite. Dass etwas innerhalb kurzer Zeit an Umfang und Geschwindigkeit so zulegen kann. Diese starke unpersönliche Bewegung mitten in der Stadt und nur eine Mauer, die mich von den Wassermassen trennt. Eine Weile stehe ich in der Dunkelheit, werde weiter nass und sehe zu ihr hin: die Isar. Um kurz nach 4 betrete ich leise die Wohnung einer Freundin, wasche mein Gesicht und ziehe die nach Cannabis riechende Kleidung aus. In dem Club waren viele Mittezwanzigjährige. Nur wenige schienen sich entspannen zu können, ehe verschiedene substanzbasierte Betäubungen Wirkung zeigten.
Mitte der Woche kommt für ein paar Stunden die Sonne raus, sofort springen die Pfingstrosen, flirrt der Asphalt, wabert der Lindengeruch klebrig über die Gehwege an der Universität. Nicht nur ich bin falsch angezogen und stehe in der plötzlichen Hitze schwächelnd an einer Ampel. Ich gehe in die Praxis, arbeite, zwei Stunden später rollt das nächste Gewitter heran. Der Mohn auf den Erdhügeln um die Kiesgruben wippt ungeachtet der Bedingungen in seinem papierenen Gewand im Wind, hat sich sogar ausgebreitet ins angrenzende Gerstenfeld hinein. In der Nacht darauf läuft mir ein Fuchs vors Auto, ich schaffe es, rechtzeitig zu bremsen. Etwa alle drei Monate kommt das vor. Bis jetzt ist es immer gut gegangen.
Wir planen einen Ausflug in die Berge, es wird schwierig dafür eine Regenlücke zu finden. In der Vorbereitung lege ich zwei Garderoben raus, für schwülheiß und für nasskalt, eine davon werde ich in Plastik gewickelt im Rucksack mittragen. Die Wanderung am Tag darauf verläuft sonnig, anstrengend und wird flankiert von blaulila Enzianwiesen. Auf der Bergspitze benennen wir die gegenüber liegenden Gebirgsketten, essen Semmeln und fallen in die gipfeltypische mentale Lähmung: satt, fertig, zusammen. Später rutschen wir die nassen Steine zum kleinen Wasserfall runter und gleiten, japsen, tauchen in die Kälte ein. Egal wie salzig und verausgabt mein mäßig fittes Gestell ist, 30 Sekunden in diesen Wassern machen die Schinderei wieder gut. Auf dem Rückweg im Auto bin ich Beifahrerin und realisiere in einem Moment nahezu vollständigen Gewahrseins die fleischliche Wonne, meine Beine auf dem Armaturenbrett abzulegen, die vom Eis schmierigen Hände am Rock abzuwischen und rüberzusehen in die Gesichter meiner Gefährten. Da sind sie. Da seid ihr.
Zu Hause ruhe ich mich eine Stunde aus, fahre zur Station und nehme die U-Bahn Richtung Innenstadt. Die Menschen riechen nach Schampoo und ihren frisch gewaschenen Wochenendoutfits, die schwarzen Technohosen der Mädchen zwischen den Leinenkleidern erwachsener Frauen. In der Halle ist es dunkel und warm, nach dem Tanzen liege ich lange erschöpft am Boden und schaue zu den auf die Decke projizierten rot kreisenden Punkten. Jemand spricht leise in ein Mikro. Dass wir Menschen auch das sind. Am Boden liegende Körper, fähig zu Konsens und Gemeinschaft, mit tausenden Jahren von Übung darin, um ein Feuer zu sitzen, Verletzungen zu verarbeiten, einen Weg zurück zueinander zu finden. Der Mann am Mikro benennt kein Detail aus den Nachrichten, den Bildern, den Konflikten in denen jede und jeder von uns auch steckt. Er spricht nur davon, was wir noch sind. Mir kommen die Tränen. Weil ich eine solche Sehnsucht habe nach diesem noch.
Als ich nach Mitternacht zurückkehre schaukeln die Pfingstrosen im nächtlichen Garten, rosa Glühbirnen vor der schwarz glänzenden Rückwand des Schuppens. Ein paar von ihnen hole ich rein und schaue ihnen beim Öffnen zu.
You must be able to do three things:
to love what is mortal,
hold it,
your own life depends on it,
and when the time comes, to let it go,
to let it go.
[Mary Oliver]