An einem der ersten sonnigen Novembertage vor etwa zwei Wochen ist eine Schar Wildgänse laut rufend in Formation über mein Haus in Richtung der Bergkette gezogen. Gestern Abend sah ich in einem Video einen Mann vor seinem Steinhaus in den norditalienischen Alpen inne halten und vorbei ziehenden Wildgänsen nachsehen. Ich konnte nicht anders, als zu wünschen, es handele sich um die gleiche Vogelgruppe.

Dann folgen Tage in denen viele Verbindungen ausfallen, Baustellen auf drei Strecken, die verbleibenden Züge und S-Bahnen sehr voll. Eine Woche auch, in der andere Fahrgäste meine herunter fallenden Handschuhe aufheben, freundlich nicken, während sie sich vorbei quetschen müssen und nicht deutschsprachigen Personen die kryptischen Hinweisschilder erklärt werden. In den ebenfalls übervollen Restaurants der Stadt, wo ohne Reservierung auch unter der Woche nichts mehr geht, nimmt ein Kellner meine Kollegen aus Berlin und mich bei der Hand und zieht uns durch die Menge bis hinten ins Lokal, um doch noch einen Tisch klar zu machen. Später am Tresen des Vereinsheims in der Occamstraße ein seliges Bier ohne Alkohol - wenn der Alltag so stimulierend ist, dass keine Substanz mehr oben drauf passt.

Wir gehen rein ins nächste Dickicht. Die Trainerin mit dem Nato-Hintergrund ist wieder da. Eine Frau, die mit Geiselnehmern verhandelt und während des Balkankrieges bei einem Einsatz für Flüchtende mit offener Bauchwunde übers Feld rannte. Ich traue charismatischen Leuten prinzipiell erst mal nicht. Dass sie bei manchen der jüngeren Teilnehmer Bewunderung auslöst, macht es nicht besser. Ich kann dennoch von ihr lernen und mich dabei gegen sie stemmen. Für diese Reibung und dass sie ein Gegenüber ist für meine Stärke, respektiere ich sie wiederum sehr.

Am vierten Tag des Training gehen wir abends tanzen. Rutschen von der Durchleuchtung in die Dunkelheit, vom grellen Licht der Präzision in den schwarzen Fluss. In der Halle kann ich Stella lange nirgends finden. Ich weiß nicht, ob sie kommt, wir sprechen uns nicht vorher ab. Mit dem Nichtwissen und Nichthaben in die Nacht zu gehen ist genauso wichtig, wie nach einer Stunde oder länger in einer halben Drehung zwischen den anderen ihren Rücken zu entdecken oder an einem bestimmten Bewegungsmuster in der Menge zu erkennen, dass sie es ist. Dass sie da ist. In den Tagen danach dann oft eine haptische, fast skulpturale Erinnerung an Stella. An sie oder an eines der namenlosen Gesichter, die ich in der Halle manchmal lange ansehe und die zurücksehen ohne Scheu. Warum ist das in diesem wortlosen Raum so einfach und überall sonst so schwer?

Als ich Montag aus der Zenschule trete riecht es nach Schnee. In den Tagen danach liegt morgens Raureif auf den Mooren, das Gras knistert, der thrill einer frierenden Landschaft. Der Mond ist noch nicht untergegangen, er streift die obere Kante der Fichten und seine weiße Haut ist groß und nah. Auf der Anhöhe der Frost bedeckten Wiese wird eine Herde Pferde von der aufgehenden Sonne angeleuchtet, der sichtbare Atem der Tiere im Gegenlicht. Am Wochenende darauf folgen mehrere Stürme, Minusgrade und ein Morgen in komplett weißem Winterkleid. Ich gebe zu, der erste Spaziergang durch knietiefen Schnee ist schön, lediglich die 70-80 weiteren, strengen mich sehr an. Der Winter in Bayern nahe den Bergen - das schleift wie Schmirgelpapier.

Gewiss ist jetzt auch: der kleine, schielende, wilde Kater Schiagli hatte einen Hirntumor. Die Catlady des Dorfes hat es bestätigt. Nachdem er immer kränker wurde, hat sie ihn zum Arzt gebracht und einschläfern lassen. Ich bin sehr traurig. Schiagli hat mich geprägt, obwohl er nie direkten Kontakt zugelassen hat. Es ist wichtig, dass es diese Wesen gibt; die langsamen, schiefen, kranken. Und es ist wichtig, dass es eine Catlady gibt, die einen im Blick behält und handelt, wenn es nicht mehr anders geht.

Die andere Nachbarin, die zwei Jahre lang das Asylverfahren begleitet hat, berichtet von dem nun glücklich in Ausbildung und bald auch eigener Wohnung untergebrachten iranischen Freund, seinem neuen Umfeld, in dem ihn alle schätzen, wie wir es von Anfang an wussten und geglaubt haben. Dieses vorläufige gute Ende ist, das behaupte ich, ganz und gar auf dem Mist der sich zwei Jahre kümmernden Nachbarin gewachsen. Sie hat den Preis gezahlt, sie allein. Mehrere Stunden pro Woche neben ihrem Job am Telefon gehangen, in überfüllten Zügen zur tschechischen Grenze gestanden, in der lauten Unterkunft Informationen zusammengetragen und Beistand geleistet, über Gesetzestexten gesessen, Geld gesammelt, vor Gericht ausgesagt, mit Arbeitnehmern verhandelt und erweiterte Sprachkenntnisse vermittelt.

Parallel dazu hat eine andere Freundin ein Jahr lang eine schwerfällige Behörde und selbstgefällige Einrichtungsleitungen beackert, um zwei kleine Jungs in ihre Familie aufnehmen zu dürfen, die aufgrund neurologischer Einschränkung und Alter als schwer vermittelbar galten. Heute Morgen kam das Foto der Freundin mit den Jungs in ihrem Haus. 

Man kann nur am Boden liegen und heulen, dass es so viel Gutes in den Menschen gibt.

Während manche Menschen sich nach dem Untergang ihrer Rechte und Freiheit sehnen und nichts besseres zu tun haben, als ihn herbeizuwählen, gibt es auch noch das: Liebe, Liebe, Liebe.