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Entlang des Bahnsteigs werden die ersten Hagebutten reif. Beim Warten auf die S-Bahn pflücke ich eine Handvoll, öffne die Schale und esse das Mark. Eine Woche lang nebelt es über den Mooren, Füchse halten sich darin auf, Schafe, Rehe; grau in grau. Wenn die Sonne rauskommt, liegen die Kühe auf der Weide und blinzeln ins Licht. Sie sind jung und müde vom Verdauen.
Aus Göttingen und Wien treffen Kolleg*innen für eine Fortbildung ein. Am Abend gehen wir auf die Alte Utting, es ist noch warm genug um draußen zu stehen und Bier zu trinken, erst später wechseln wir in den Innenraum des Schiffs und sitzen unter den gelben Lampen. Einmal noch pflügen wir mehrere Tage gemeinsam durch die Materie, beobachten Gruppenprozesse, unsere Rolle darin und welche Taten und Worte in welche Richtung führen. Dann verabschieden wir uns voneinander unter dem karmesinroten Laubdach der Bäume an dem kleinen Stadtsee, es wird dunkel und kalt, aber wir können nicht aufhören zu erzählen und uns zu begleiten, bis zur Ampel, bis zur Kreuzung, bis zum Gleis, wissend, dass wir uns in dieser Konstellation nicht wiedersehen.
Es folgt Arbeit in der Institution und Arbeit in der Praxis. In meinem Umfeld eskaliert eine seit Langem prekäre Situation, die eine minderjährige Person einschließt, auf die nächste Eskalationsstufe. Zwei Tage rennen meine Gedanken im Kreis und ich muss mich festhalten an allem, was ich kann und gelernt habe, um nicht reflexhaft zu reagieren. Ab dem dritten Tag wird mir klar, wie ich handeln will. Ich bespreche mich mit zwei Vertrauten und gehe die Schritte, einen nach dem anderen. Zu meiner Überraschung und entgegen der sonstigen Entwicklung sind manche der Beteiligten zur Kooperation bereit. Und ich verorte mich neu in einem tragfähigen Gewebe aus Menschen, die mich halten und beschützen, während ich andere halte und beschütze.
Die Gärten hier im Dorf sind ein großes Thema im Herbst. Alle Nachbarn, egal wo man sie trifft, fragen danach, berichten davon. Wie viel Arbeit die zu beschneidenden Obstbäume machen, an welcher Schuppenwand noch Platz für das zu trocknende Holz ist, wo das meterhohe Schnittgut der Sträucher bloß hin soll, wer öfter als fünf Mal mit dem beladenen Anhänger beim Wertstoffhof war, welche Motorsäge etwas taugt, ob die Leiter stabil steht, wer aufgibt und nur noch wachsen lässt. Ich mag die Jahreszeitengespräche. Es ist ein verbaler Kalender, an dem alle teilhaben. In Kürze geht es wieder um Raureif und Eis.
Der kleine schielende Kater (Schiagli) scheint verstorben zu sein. Über vier Wochen hat ihn niemand gesehen. Er war eine der verwilderten Katzen der Umgebung, die zwei Mal täglich an der Futterstation von der Catlady des Dorfes versorgt werden. Schiagli wurde von vielen Bewohnern des Viertels geliebt, hat sich aber auf niemanden eingelassen. Er schlief oft in der Sonne mit dem Gesicht zur Hauswand oder im Schafstall beim Hof gegenüber. Er war befreundet mit anderen Katzen, die immer an seiner Seite waren und hat sich so gut wie nicht bewegt. Als ich einmal mit meinem gebrochenen Fuß an Schiagli vorbei gehumpelt bin, hat er mich lange und eindringlich angeschaut.
Samstagnacht liege ich nach dem Tanzen mit Stella auf einer Decke und fühle den Herbst durch mich durchziehen. Es ist nicht so schlimm, wie es schon mal war. Es hilft, die heranrollende Kälte mit anderen gleichzeitig zu erleben. Es hilft, Kürbisse zu essen, deren Farbe ich nicht mag, und Maronen zu rösten, deren Farbe ich sehr liebe. Morgen gehe ich zu dem kleinen Fest einer Freundin, das sie jährlich ausrichtet, um mit uns an einem Tisch zu sitzen, der Erde zu danken, dem Wachstum, der Freundschaft.
Mehr passiert nicht. Es ist November und weiterhin neblig.