Ich treffe einen Bekannten, den ich seit etwa einem halben Jahr kenne. Wir trinken Tee mit Milch in kleinen Kannen in einem Lokal, das ich häufig aufsuche wegen der zuvorkommenden Kellner, freundlichen Begrüßung, dem gedimmten Licht und der, eigentlich unpassend zum restlichen Sound, über die Anlage zu hörenden Lieder von Sting, regelmäßig ein oder zwei pro Besuch.

Ich hatte erwartet, dass wir uns streiten, zumindest hart diskutieren, wir stehen in einer fachlichen Frage weit auseinander und haben es noch nicht aufgegeben, uns an dieser Frage abzuarbeiten. Der Austausch funktioniert dennoch gut und soweit ohne persönliche Verluste, weil wir etwa alle 20 Minuten zurückkommen zu einem Moment von Wertschätzung und Höflichkeit, ein bisschen Blödsinn reden, lachen und gestärkt in die nächste Runde gehen. Ich lerne von ihm und er von mir, zähneknirschend. Heute aber diskutieren wir nicht. Der Bekannte erzählt von sich. Mir dämmert langsam, während er es tut, dass er die letzten sechs Monate dafür gebraucht hat. Das Kreisen mit mir um den beruflichen Kontext, seine Positionierung und meine Reaktion, Schwächen und Aussichten unterschiedlicher Verfahren. Dass er damit vielleicht auch meine Zuverlässigkeit getestet hat, mein Gewicht. Ob ich umgehen kann mit dieser Erzählung.

Kurz darauf wird es sonnig, der erste warme Morgen in drei Wochen. Ich kann ohne hochgezogene Schultern auf dem Feld stehen, die Erde riechen, Grashalme, überhaupt etwas anderes riechen als Schnee. Zwei Tage wate ich durch den Luxus, niemanden zu sehen, nicht zu sprechen, ich suppe in meine Gedanken hinein, in noch Ungeklärtes und nicht zu Ende Gefühltes. Die Tage gehen wortarm dahin, was gut ist, denn Worte werden kommen, viele, bereits ab Mittwoch und ich möchte lieber bleiben, wo ich mich nicht herausreden kann. Nachts treffe ich auf Stella. Ihre schwarzen Haare, die zwei weißen Strähnen, Männer, die mit ihr tanzen wollen. Später liegen wir am Boden, ihr Kopf auf meinem Bein, ein gemeinsamer Freund kommt dazu. Über die holzvertäfelte Decke schwappt Licht in langsamer Verwandlung, in Wellen verlaufendes Blau zu Rot. Einmal sagt der Freund etwas über seine Tochter und bekommt wässrige Augen, ich lege meinen Arm um seine Schulter, um den grauen Kapuzenpullover. Eine Stunde lehnen wir so aneinander, eine Trinität der Vertrautheit.

Der Januar in der Institution verläuft ereignislos, fast irritierend, ohne Meetingmarathon und deadlines. Einmal liegen meine Finger mehrere Minuten auf der Tastatur ohne Bewegung, ein andermal schaue ich dem Sonnenuntergang durchs Fenster zu. Kollegen ziehen vom dritten in den vierten Stock, ich ziehe vom rechten Flügel des Korridors in den linken, Bücher wandern über meinen Tisch, ich lese in keine hinein. Am Wochenende will ich backen. Für das Frischkäse-Frosting informiere ich mich bei der 24-jährigen Assistentin der Geschäftsleitung. Sie sagt, natürlich weiß ich, wie das perfekte Frosting geht. Ich war schon immer eine alte Frau und lebe, seit ich in meine erste eigene Wohnung gezogen bin, in einer vollausgestatteten Küche. Dann zählt sie vier Zubereitungsvarianten für Frischkäse-Frosting auf und empfiehlt mir die mit wenig Butter. In jeder Mittagspause hoffe ich, die Assistentin im Pausenraum anzutreffen, damit ich neben ihr sitzen und mich an den Geschichten aus ihrem unaufgeregten Leben beruhigen kann. Ich glaube, sie wäre eine gute Mutter für verhaltensauffällige Kinder. Ich glaube, dass Menschen mit Bluthochdruck in ihrer Gegenwart genesen können.

Am Wochenende dann die Feier, für die ich gebacken habe. Freunde und Freundschaften, die so alt werden, dass die Kerzen nicht mehr auf den Kuchen passen. Ich wüsste nicht, was aus mir werden sollte, wenn ich nicht regelmäßig zwischen diesen Menschen stehen und in ihre Gesichter schauen würde. Die Playlist in der Kneipe besteht zur Hälfte aus Musik, die ich auch privat höre, beim S-Bahnfahren, Arbeiten, Herumlaufen. Das Inventar ist so dermaßen hässlich, dass ich mich sofort jung und in mit Wischtechnik gestrichene Jugendzentren der 90‘er Jahre versetzt fühle. Ich weiß nicht, ob es nur daran lag, aber ich habe jedenfalls lange nicht mehr so laut, infantil und inbrünstig Geburtstagslieder gesungen, mit Klatschen, Powackeln und allem Drum und Dran. Danke du hässliche Kneipe, danke Playlist, danke euch.