Februar
Mitte des Monats ein genau in der Mitte durchgeschnittener Mond. Dämmerung um 19 Uhr. Es geht aufwärts. Die Lauheit dieses sich ausbreitenden Februar gefällt mir. Sie ist nicht gut - das blende ich aus. Für die halbe Stunde, in der ich zwischen den Häusern und dem aufgewärmten Asphalt entlang gehe, blende ich es aus. Die Sorge um die weiter unter unseren Fingern zerfallende Erde…wird nicht mehr aufhören, so lang ich lebe.
Nawalny tot. Ich hatte in den Tagen zuvor oft an ihn gedacht. An den Traum vor drei Jahren. Keine Sicherheit, nirgends, in diesem verdammten Land. Ich hatte so gehofft, dass er überlebt und dabei sein kann, wenn sich etwas ändert, falls sich etwas ändert.
Zwei Wochen bin ich in einem absurden Loop zwischen Behörden gefangen, niemand erreichbar, niemand zuständig, niemand weiß was. Dass Menschen, für die es um deutlich mehr geht, Jahre in solchen Unendlichkeitsschleifen verbringen müssen.
Ich höre eine Playlist voller alter Songs, es ist energetisierend und verstörend, ich bemerke, die Texte, etwas, mich vollständiger zu verstehen. Es ist kein glückliches Verstehen, eher eine illusionsarme Realität, die ich jetzt näher ranlassen kann als beim letzten Mal.
Wir Erdenkörper verglühen noch während wir miteinander sprechen, aneinander vorbei schweifen in den Clubs, Großraumbüros und entlang der unterirdischen Verkehrsadern der Stadt. In einer Nacht sitze ich mit einem jungen Mann an die Sprossenwand einer Turnhalle gelehnt und tausche mit ihm Worte des Franziskaners, die ich von den Zetteln aus meiner Jackentasche ablese - drei DIN A4 Blätter vollgeschrieben mit Notfallgedichten, Gebeten und Dingen, die ich nicht vergessen will.
I can’t hold reality or god.
Reality and god are holding me.
Der junge Mann wird in der Woche darauf in eine buddhistische Gemeinschaft ziehen, dort arbeiten, auf einem Holzboden sitzen, kochen. Auch das eine Option, sich in den Jahren zwischen 20 und 30 gründlich zu verräumen, vermutlich nicht die schlechteste. Wir tippen Nummern in unsere Telefone, er verspricht, mich auf dem Laufenden zu halten. Eine andere Person, neu kennen gelernte Kollegin auf einer Fortbildung, nutzt die gleiche therapeutische Methode wie ich, allerdings in einer Psychiatrie und mit Menschen, die sich maximal 5 Minuten lang auf ihre Emotionen einlassen können. Ich sauge alle verfügbaren Informationen aus ihr heraus, sie verspricht, mich zwei Mal im Jahr wiederzusehen und mehr zu erzählen.
An einem für wenige Minuten sonnigen Nachmittag sitze ich in einem Gewerbehof auf einer gelben Metallbank und rauche eine Zigarette mit einer Frau, zu der ich vier Tage lang keinen Zugang gefunden habe. Es wird auch mit der Zigarette und der dabei entstehenden Konversation eine brüchige und störungsanfällige Beziehung bleiben. Gymnastik für meine Frustrationstoleranz und ein Ausloten des Möglichen.
Nach einem auf anderer Ebene ebenfalls frustrierenden Seminar, an dem ich formal viel auszusetzen habe und das nicht billig war, stehe ich mit zwei Kollegen im Flur und öffne ein Bier. Den Arm um die Schulter eines anderen Menschen legen und den Tag als einen Scheißtag abhaken zu können, welch Erleichterung und Genugtuung. Ich kann direkte konstruktive Kommunikation und Kritik und werde erst sarkastisch, wenn ich auch nach dem dritten Anlauf nicht gehört werde. Die restliche Zeit sitze ich ab, wie in der siebten Klasse, male in meinem Skript herum und flüster mit den Nachbarn.
Ich bin häufig unterwegs in diesem Februar. In meinem Rucksack befinden sich Schlüssel zu zwei verschiedenen Wohnungen von Freunden, die ebenfalls häufig unterwegs sind, bei denen ich übernachte, wenn nichts mehr fährt oder der Tag danach sehr früh beginnt. Instinktsicher finde ich in jedem Haushalt die Wärmflasche, fülle sie auf, lege mich hin und schlafe sofort ein. Es ist ein mittlerweile recht unkompliziertes Verhältnis, das der Schlaf und ich miteinander unterhalten. Falls es Sonntag nicht regnet, werde ich in die Berge gehen. Ansonsten harre ich aus. Warte auf das Ende des Winters, das Ende der graubraunen Farben und hochgezogenen Schultern.