Erste warme Nacht in diesem Jahr, viele Frauen riechen nach Bergamotte und Weihrauch, manche Männer nach Armani. Auf den Bürgersteigen selige Enge, ein sich fast Berühren und aneinander Vorbeidrücken beim Anstehen vor der Bar.

Letzte Tage vor der Prüfung. Im Intensivkurs quäle ich mich durch acht Stunden gruppendynamische Anspannung, durch den Vortrag einer schnell sprechenden, hörbar gereizten Dozentin und hektisch eingeworfene Fragen von Teilnehmenden, die fürchten Grundlegendes falsch verstanden zu haben. In der Pause suche ich einen Sonnenfleck auf dem Grasquadrat im Hof, stelle mich da rein und ziehe die noise cancelling Kopfhörer auf.

Man rät uns, viel zu schlafen, Obst zu essen und genau nach dem bewährten Schema den Rest zu lernen. Ich halte mich an nichts davon und gehe tanzen. Zwei Stunden in der dunklen Halle mit meinen esoterischen Freunden, danach vier Stunden in einem Elektroclub allein. Die Akustik in dem Club ist so gut, wie alle gesagt haben, die minimalistischen Bewegungen der anderen in den schwarzen T-Shirts verbinden sich zu einem großen, samtigen Tier, das sich bewegt, weil wir uns bewegen, mit uns, durch uns, für uns: es gibt ein Wachsein, das dem Schlafen ähnelt. Ich kann nicht viel sehen, aber es ist fühlbar, wo die Hingabe am innigsten ist, wo zwei oder drei der Anwesenden eine Verabredung haben mit sich und diesem dunklen schönen Traum.

Im Januar habe ich mit Zen angefangen. Dafür verharre ich nun einmal die Woche am Abend mit 14 anderen auf dem Bretterboden einer ehemaligen Werkstatt in einer sitzenden Position, die mich sehr fordert, die ich mir leichter vorgestellt hatte. Es ist eine strenge Schule, individualistische Abweichungen sind nicht erlaubt. Während des zweistündigen Sitzens geht die Meisterin gelegentlich hinter uns vorbei und korrigiert mit einem Stock die Haltung von Rücken, Kopf und Schultern. Auf dem Kissen herumzurutschen oder den Blick zu heben soll vermieden werden, das Verlassen des Raums ist nur in Ausnahmefällen gestattet. An einem Abend im Februar als mir der Stress bis zum Hals steht, setzt sich die Meisterin, die nichts von meiner Situation weiß, während der Meditation hinter mich, legt ihre Hände auf meinen Rücken und sagt leise: Lehn dich an. Ich versuche es zögernd, meine Muskulatur verhält sich ungläubig, mehrere Minuten wechseln sich der Wunsch, die Kontrolle zu behalten und ihrer Wärme nachzugeben ab. Als sie ihre Hände löst und ich wieder allein bin, werde ich auf einmal butterweich. Es gibt Menschen, die mich unterstützen, Fremde und Vertraute, sie sind da und registrieren, was los ist, sie lassen sich hin magnetisieren zu mir und nähern sich auf eine Art, die mir gefällt. Meine Vergangenheit ist vorbei, meine Gegenwart ist hier.

Am Sonntag gehen wir auf einen Berg. Ich bin nicht in Form. Bei der erstbesten Gelegenheit schäle ich ein Ei und beschließe, nicht weiter zu gehen. Auch der Rest der Gruppe erlebt unterschiedliche Grade märzüblicher Trägheit. Eine der mitwandernden Frauen wirft sich vor der Hütte auf den trockenen strohigen Boden und döst sofort weg; ihr von der Sonne beschienenes Gesicht, der darüber gelegte Arm und die in ausladendem Winkel von ihr gestreckten Beine lassen mich an in Öl gemalte Darstellungen landwirtschaftlich arbeitender Bevölkerung denken; fix und fertige Leiber, Pause wie Koma, noch in Ruhehaltung griffbereite Hände.

Unter der Woche bin ich in der Praxis. Zwischen den Terminen versuche ich einen ruhigen Ort in einer der gerade öffnenden Kneipen zu finden, um Gesetzestexte in meinem Kurzzeitgedächtnis unterzubringen. Der Barkeeper in dem noch leeren und eigentlich geschlossenen Lokal macht mir einen Cappuccino, dreht ohne meine Aufforderung die Musik leiser, damit ich mich konzentrieren kann und will später kein Geld. Ich glaube nicht, dass er an mir als Person interessiert ist. Es ist ein schlichter random act of kindness, wie er mir in diesen Tagen häufig widerfährt.

O
ihr Zärtlichen
tretet zuweilen
in den Atem, der euch nicht meint.
Fürchtet euch nicht zu leiden.
Die Schwere,
gebt sie zurück an der Erde Gewicht.
Die Berge sind schwer, die Meere sind schwer. [Rilke]

Unterdessen entfallen mir Dinge, werden von der Menge prüfungsrelevanter Informationen verdrängt. Ich kann nicht unendlich lang lernen und parallel einen funktionierenden Alltag haben. Als ich in den Keller gehe, um die Waschmaschine zu füllen, entdecke ich, vor drei Tagen eine Ladung gewaschen und nicht aufgehängt zu haben. Mehrmals fahre ich mit der U-Bahn in die falsche Richtung und stehe dann am Zoo. Einem Kind aus meinem Umfeld schenke ich ein Buch, worauf das Kind sagt: das hast du mir vor Kurzem schon geschenkt.

Die sonnigen Stunden häufen sich, Vogellaute fast ununterbrochen von Morgens bis Abends, eine Floristin aus dem Bekanntenkreis bringt einen großen Strauß Weidenkätzchen und fransige Tulpen in ungewöhnlichen Nuancen. Ich erwäge zu einer Art Frühlingsritual zu gehen - die esoterischen Freunde - was genau dort passieren soll, weiß ich noch nicht. In der Nachricht steht: wir werden die Himmelsrichtungen anrufen.

Erstes Bild: Obłok von Ferdynand Ruszczyc. Zweites Bild: ?