Ich war mir der Verwöhnung bewusst, jahrelang in einem der schönsten Viertel Münchens gearbeitet zu haben. Es bestand auch im Kolleginnenkreis kein Zweifel über die Verschlechterung, die ein Interimsquartier, wo auch immer es liegen mochte, zwangsläufig sein musste. Und es hat in Gesprächen zum bevorstehenden Umzug niemand gejammert ohne den Hinweis auf das hohe Niveau der Jammerei, die zeitgleich anderswo stattfindenden Kriege, die schonungslose Zerstörung von Ökosystemen und Verarmung von Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Zu Letzeren habe ich bis vor gar nicht langer Zeit selbst gehört. Das ist der Kontext.

Innerhalb dieses Kontexts fuhr heute Morgen eine U-Bahn in den Stadtteil ein, in dem hundertfünfzig Mitarbeiter und ich nun eine Weile lang (5-10 Jahre) in einer Büroscheibe verräumt sein werden. Ja, so heißt das wirklich: Büroscheibe. Und wenn man drin wohnt, heißt es Wohnscheibe. So steht es geschrieben. Genauso wie: Gebäudespangen, Streckenast und Einkaufsriegel. Ich mag die Architektursprache und finde sie gleichzeitig so abartig, enthoben und kapitalismusversaut, dass ich sie nur benutzen kann, wenn ich sie nicht ernst meine. Ich sitze also heute Morgen in der U-Bahn, die auf diesem Streckenast oberirdisch fährt und sehe aus dem Fenster. Anstatt zu beschreiben, was in mir vorging, trage ich hier mal zusammen, wie es zu diesem Stadtbild kommen konnte.

Der Wohnungsnot in den 60’er Jahren antwortete der Münchner Stadtrat mit dem Bau von Entlastungsstädten. Satelliten im abgelegenen Norden, Westen und Süden der City. Die Planungsgruppe unter Egon Hartmann (Karl-Marx-Allee, Berlin) erarbeitete für das Areal im Süden einen vielschichtigen Entwurf sich wild kreuzender Bedürfnisse. Das heißt leben, trinken, arbeiten, auf Leute treffen, mit denen man gar nicht verabredet war, fürs Abendessen einkaufen, noch raus zum Fußball spielen, im Atelier versacken oder doch zum Konzert - war alles so verdichtet, dass es einer gewachsenen Stadt sehr nahe kam. Die Natur war in diesem Entwurf nicht in die kleinteilige Begrünung von Wohnanlagen verbannt, sondern rankte in großen Ringen und Flächen um die Stadt herum und über die Parks in sie hinein.

Dieser Entwurf wurde auf Wunsch der Stadt im Sinne einer wirtschaftlicheren Bauausführung erst zurückgeschnitten und dann zugunsten einer klaren Trennung von Wohn- Einkaufs - und Bürozonen komplett aufgegeben. Bürgerhaus, Volkshochschule, Bibliothek, Sportplätze, Kino, Musikkonservatorium, Künstlerhof, Eislaufen, Hallenbad entfielen ersatzlos.

Eugen Hartmann sagte die Degeneration dieses künftigen Stadtteils voraus, beteiligte Architekten distanzierten sich, noch während der ursprüngliche Entwurf abgeändert wurde, um den Prämissen einer autogerechten Verkehrsführung, gleichförmiger Gebäudeausrichtung und Ausdehnung der Wohnriegel zu entsprechen. Es half nichts. Es fand sich einer, der das umsetzte.

Der erste Künstler, der dann 1969 in dieser Entlastungsstadt etwas tun durfte, buddelte einen vier Meter tiefen Trichter in die Erde und nannte ihn: Munich Depression.
Stieg man in den Trichter hinab, verschwanden die Gebäude aus dem Blickfeld und nur ein Stück freier Himmel blieb übrig. Der Künstler hatte sofort verstanden, wie man hier nur zurechtkommen konnte. Den Trichter gibt es nicht mehr. Er wurde überbaut.

Zurück zu mir und meinen hundertfünfzig Kolleginnen und Kollegen. Die Stimmung ist gut. Sie ist geknickt, aber gut. Wir haben die Büros bezogen, wir haben den halbleeren Edeka gefunden, wir haben gefühlt, dass wir uns in einer nicht für Menschen gemachten Architektur befinden und das akzeptiert. In die neue Küche setzt niemand freiwillig einen Fuß rein, aber jeder bleibt an dem Teetisch in meinem kleinen Raum ein paar Minuten stehen und wärmt sich auf. Einmal sind es 9 Menschen gleichzeitig, was eine große Summe ist, eine dichte Zahl, eine synaptisch interessante Atmosphäre, die wir erschaffen, während sie draußen nicht existiert.