Es ist warm. Der Winterhimmel an diesem Abend aprikosenfarben. Es wäre ein guter Tag gewesen, um nach der Arbeit auf einen der nahe gelegenen Berge zu steigen, den Sonnenuntergang abzuwarten, mit der Stirnleuchte runter zu gehen, während es dunkel wird.

Ein Freund hat sich ein Fernglas gekauft, wir schauen bei Tageslicht auf den Mond. Die Krater sind gut zu erkennen, die Mondhaut pockennarbig und kreidig. Ich habe, obwohl ich mich sehr für den Mond interessiere, bisher nie durch ein Fernglas oder Teleskop auf ihn gesehen und rufe einen Verblüffungslaut, als er ins Bild rückt. Er ist wirklich eine Kugel. Wie wir.

Planetenforscher vermuten, der Mond sei nach seiner Geburt in näheren Bahnen um die Erde gekreist. Nur ca. 200.000 Kilometer entfernt von uns. Das ist ungefähr die Hälfte seiner jetzigen Entfernung. Er wirkte größer und war deutlicher auszumachen. Leider bewegt er sich jedes Jahr 3,8 Zentimeter von uns weg. Ich finde das nicht gut.

Im Büro sitze ich einmal in der Woche neben einer etwas älteren Kollegin. Menschen wie sie gab es früher viele in der Institution. Sie sterben jetzt alle aus. Immer wenn die Kollegin für einen Moment den Raum verlässt, schaue ich auf ihren Schreibtisch und versuche mir alles einzuprägen; diese Art sich zu verwalten, diese Art sich am Arbeitsort wohnlich einzurichten - wird bald für immer verschwunden sein. Ich zähle 24 gespitzte Bleistifte in dem Keramikhalter neben ihrer Tastatur, zwei gerahmte Familienfotos, eine Weihnachtstassensammlung, eine Reisetassensammlung, eine Reihe kleiner Pflanzen in bunten Töpfen. Dahinter im Regal ein auf Servietten angerichteter Obstteller mit bereitgelegtem Obstschneidemesser. Daneben ein (vom Büromanagement verbotenes) privates Möbelstück, in dem 4 Handcremes, 5 Geschirrtücher, 6 Vasen, 3 Handtücher und eine Vorratspackung Gummihandschuhe aufbewahrt werden. An der Wand dahinter zwei Wandkalender mit erbaulichen Motiven und ein neunbändiges Lexikon, dessen Inhalt eigentlich auch digital vorliegt. Unsere Abteilung ist erst Ende November in dieses Gebäude eingezogen. Wann hat die Kollegin all das hier her gebracht?

Früher, als es noch kein Büromanagement und kein Verbot privater Möbelstücke am Arbeitsplatz gab, kam es regelmäßig zu Räumungen, wenn Mitarbeiter krank wurden und aus dem Dienst ausschieden oder aus anderem Grund nicht wiederkehrten. Es fanden sich dabei Kühlschränke, Toaster, Kassettenrekorder, Gartenstühle, Nachtkästen, fünfarmige Deckenstrahler, Wechselkleidung für alle Jahreszeiten und Hausschuhe. Viele der damaligen Mitarbeiter verbrachten ihr gesamtes Berufsleben, 40 Jahre, in der Institution. Ich glaube, sie rechneten einfach nicht mehr damit, dass das jemals vorbei sein könnte.

Es gibt immer wieder kleine Mondbeben. Meistens auf der Seite, die unserer Erde zugewandt ist. Was eventuell an der Gravitation der Erde liegt. Umgekehrt hebt und senkt sich die Erdoberfläche um ein bis zwei Meter, je nachdem wo der Mond gerade steht. Als der Mond der Erde noch näher war, bog und verformte sich unsere Oberfläche in erheblichem Maß.

In meiner anderen Aufgabe nage ich mich durch das Klassifikationssystem der psychischen Erkrankungen. Letzte Woche die Kapitel zum Formenkreis der Schizophrenien abgeschlossen. Es ist die erste Runde. In einem halben Jahr werde ich das alles noch einmal anders kennenlernen. Mein begleitendes Tier in diesen Wochen ist der Biber. Sein beharrliches Hineinraspeln in den Baum. Vielleicht habe ich schon einmal darüber geschrieben: Biber nagen den Stamm nie ganz durch. Sie hören rechtzeitig auf und lassen den Rest vom Wind erledigen. Ich mag diese Haltung. Selbstschutz. Und Vertrauen in die Elemente.
Nachtrag: Sie nagen die dicken Stämme nicht ganz durch, die dünnen schon.

Ich habe ChatGPT noch nicht ausprobiert, lasse mir aber gern von allen möglichen Leuten erzählen, was sie damit machen. Mehr als die Ergebnisse interessiert mich, welche Fragen die Fragenden stellen. Was die Person will, tut, erwartet, wie sie davon erzählt, worüber sie lacht, wie genau die Annäherung vor sich ging. Passenderweise lese ich gerade wieder Buber. “Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf. Wie werden wir von Kindern, wie von Tieren erzogen. Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.”

Angenagter Baum - Foto Simon Mer
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