Aktuell werden ein paar junge Menschen durch das Büro geschleust, deren berufliche Laufbahn ihnen nicht erspart, vier Wochen in meiner Abteilung hospitieren zu müssen. Zu jedem einzelnen von ihnen möchte ich sagen: aufrichtiges Beileid. Sie sind bemüht, die jungen Menschen. Sie versuchen die Augen offen zu halten, streichen ihre Haare aus der Stirn und geben gelegentlich einen Laut von sich, um wenigstens vokal anwesend zu bleiben. Es hilft nichts. Ihr Körper ist zu jung für das hier.

Die für die Vermittlung zuständigen Kollegen sind seit dem Sommer in einer task force organisiert, in der sich vierzehntägig der Kopf darüber zerbrochen wird, wie man Hospitierenden vorgaukeln kann, die Tätigkeiten in unserer Abteilung würden Spaß machen. Die Körper der jungen Menschen lassen sich aber nicht belügen. Ich sehe sie sitzen unter dem Gewicht ihrer Langeweile, sie können nicht fassen, der Schule, der Uni, dem letzten Praktikum entkommen zu sein, um jetzt schon wieder durch eine Masse aus Daten zu waten, die keinerlei Emotion in ihnen hervorruft.

Und doch ist es so. Die Institution ist auf Menschen angewiesen, zur Not auch auf gelangweilte. Wie überall gibt es aber keine Menschen mehr, jedenfalls keine, die sich bewerben. Manchmal treffe ich auf dem Gang die Leute vom Recruiting. Sie winken nur ab, wenn man nach den unbesetzten Stellen fragt. Ich will unter diesen Umständen nicht wissen, mit welcher Verzweilfung Krankenhäuser, Pflegeheime und Bildungseinrichtungen den Fachkräftemangel verwalten.

Jetzt zum Mond. Ich muss mich korrigieren. Ich hatte geschrieben, auf dem Mond gäbe es nur flache Erhebungen. Das ist falsch. Es gibt einen 5.500 Meter hohen Berg auf der Vorderseite und einen fast 10.800 Meter hohen Kraterrand auf der Rückseite. Auf der Rückseite ist auch der tiefste Punkt des Mondes. Ein rund acht Kilometer tiefes Einschlagloch.

Der blauweiß marmorierte Trabant im unteren Bild ist einer der 82 Monde des Saturn. Seine Oberfläche ist bedeckt mit Wassereis, weshalb er 99 % des bei ihm ankommenden Sonnenlichts reflektiert. Er hat das größte Rückstrahlvermögen im Sonnensystem, das heißt er reflektiert Licht stärker als frisch gefallener Schnee.

Unterdessen schneit es auf der Erde, da wo ich wohne. Es fängt am Morgen an, es schneit den ganzen Tag und dann bis in die Nacht. Die Felder verwandeln sich in eine japanische Kalligrafie. Ich verbringe etliche Stunden in einer Veranstaltung, aus der ich mich vorzeitig in gebückt - gesenkter Haltung hinausschleiche, eine U-Bahn nehme und der Beschreibung in den Park folge, um den Ort zu finden, an dem heute getanzt wird.

Eine kleine Turnhalle unter kahlen Bäumen, beim Betreten knarzen die schweren Holztüren. Es gibt in diesem Stadtviertel einige alte, allein stehende Turnhallen, gebaut um die Jahrhundertwende, kaum größer als zwei Klassenzimmer, oft mit Bühne an einem Ende des Raumes, manchmal in Jugendstiloptik. Als ich eintrete ist es dunkel und es wird dunkel bleiben, die Anwesenden nur gelegentlich rot erhellt von der zurückhaltenden Lichtanlage. Durch schmale Fenster sind die unbewegten Bäume des Parks zu sehen und überall in der großen schwarzen Luft weiße Flocken. Die starken farblichen Kontraste des Januars werden in dieser Nacht getoppt von den akustischen Polen, draußen still, drinnen laut. Ich tanze einigermaßen vorgekocht, da in den Stunden zuvor bereits einiges geboten war an grenzwertig intensiven Gefühlen, Forderung und menschlichen Aufgaben. Es wundert mich daher nicht, dass ich mich gegen Ende an den Rand der Menge stelle und eine Minute lautlos weine, weil eine junge Frau in meiner Nähe ein Lied singt, dessen Inhalt ich aus Kitschgründen eigentlich ablehnen müsste. Sie singt lauthals, mit offenen Augen und mehrmals hintereinander:

Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.
Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.

Am nächsten Abend sitze ich mit Freunden in einem Lokal, in dessen durchgewetzten, hellgrünen Polstermöbeln wir seit zwei Jahrzehnten alles feiern, was Menschen widerfahren kann: sich verlieben, heiraten, älter werden, sich verlieren, die anderen verlieren, krank werden, ratlos werden, wieder auf die Beine kommen, von vorne beginnen, weitermachen. Es ist mir mittlerweile recht egal in welchen Ansichten, schlechten Gewohnheiten, politischen Vorlieben und charakterlichen Schwächen wir uns unterscheiden, solang ich gelegentlich Flanke an Flanke zwischen diesen Leuten in die Runde schauen kann, während mein Heimatplanet durch den Weltraum fliegt.

Nachtrag: Die Toiletten der Turnhalle im Park wurden vermutlich in den 70’ern saniert und befinden sich in einem Zustand, den ich noch aus meiner Schulzeit kenne. Auch die eigentlich großartige Vorrichtung, um nachhaltiges Händeabtrocknen zu ermöglichen, versagt auf die gleiche Weise wie damals.

Alle Mondfotos: Mondlandschaften, Thorsten Dambeck, 2022