Unter der Woche
Ich mag das abendliche Tschilpen der Vögel, ihre gesteigerte Gesprächigkeit bevor sie einschlafen. Es reihen sich ein paar Nächte aneinander, in denen die Sichel gut zu sehen ist, dann zwei Tage Nebel und eine darin erahnbare Sonne kurz bevor sie untergeht.
Nach dem Wintereinbruch letzte Woche taut und tropft es von den Dächern, ich wache auf vom Gurgeln des konstant sich verflüssigenden Schnees. Ein Freund hat Geburtstag. Er ist einer der zwei Männer in meinem Umfeld, die sich explizit über Blumen freuen und sich auch selbst Blumen kaufen, daher gehe ich zur Floristin an der Hauptstraße und wähle weißen Ginster für ihn und blasslila Rosen für mich. Bei allen bleichen, welk wirkenden Farben muss ich regelmäßig an Egon Friedell denken, der 1928 so unterhaltsam den Hang des Rokoko zu Blutarmut, Niedergang und Stadien des Verfalls beschrieb:
“Das Rokoko fühlt sich krank und anämisch, die Tönung der Gewänder ist delikat, diskret: man wählt die Farbe der Pistazie, der Reseda, der Aprikose, des Seewassers, des Flieders, des Reisstrohs und gelangt bisweilen zu ganz abenteuerlichen Nuancen: ein neues Gelbgrün heißt Gänsedreck, ein Braungelb dem neugeborenen Thronfolger zu Ehren caca Dauphin… Gesundheit gilt für uninteressant, Kraft für plebejisch. Das aristokratische Ideal wandelt sich zum Ideal der Feinheit, Hypersensibilität und vornehmen Schwäche, der betonten Lebensunfähigkeit und Morbidität.” [Kulturgeschichte der Neuzeit]
Zurück in der Institution fallen alle drei Zimmerkolleginnen krankheitsbedingt aus, zeitgleich treffen mehrere Jahreslieferungen Literatur ein. Die Kartons und Transportkisten stehen in drei Reihen zwei Meter hoch gestapelt. Ich würde die Kolleginnen unterstützen, aber sie haben sich bei der Systematisierung eine spezielle Kodierung ausgedacht, die niemand außer ihnen selbst versteht, daneben habe ich andere Aufgaben und vertrete bereits genügend Leute. Daher sitze ich einfach in dem weiter zuwachsenden Büro und winke die Lieferanten heran, die keine zwei Schritte mehr ins Zimmer machen können, erschrocken schauen und mit entschuldigendem Lächeln weitere Pakete auf die vorhandenen oben drauf schieben.
Am Freitag ist die Klimademo, aber ich bin verhindert und muss zu Hause bleiben. Ich lerne noch mal die Diagnosekriterien für affektive Störungen und träume in der Nacht danach, dass jemand bipolar Typ 2 ist und mir seine Symptome ins Ohr sagt. Worauf ich erwidere: Ja, das sind Kennzeichen einer Hypomanie. Sie sind vermutlich bipolar Typ 2.
Ohne Witz, so flach und harmlos sind meine Träume mittlerweile. Einfach die Wiederholung des Gelernten. Als würde ich meinem Gehirn dabei zusehen, wie es den Gang runter zum Langzeitgedächtnis läuft, den Tagesinput darin archiviert, umkehrt und “fertig” ruft.
Ich habe seit ich klein war immer fürchterlich geträumt. Krieg, Flutwellen, verwaiste unterernährte Babys, verwundete Freunde auf dem Bürgersteig, Ringkämpfe mit Menschen, die mir physisch überlegen sind, von Hochhäusern herunterstürzen, schwarze Löcher, die mich schlucken. Einmal musste ich Alexej Nawalny in einer Altbauwohnung im Münchner Westend verstecken, ein ander Mal Auto fahren in einem Auto ohne Bremsen. Bis vor etwa zwei Jahren war das fast jede Nacht so. Dann bin ich aufs Land gezogen und die Albträume haben aufgehört. Die ländliche Umgebung ist aber sicher nicht der einzige Grund für die Besserung. Wenn ich jetzt morgens aufwache gibt es nichts mehr zu entschlüsseln, zu deuten, keine Verkleidung, Verzerrung, Metaphern und Traumreste, die mir bis zum Abend nachgehen.
Eine von mir geschätzte Lehrerin hat gesagt: Wenn der nicht selbst gewählte, aber doch selbst aufrechterhaltene Stress, nachlässt oder gar aufhört, wird einem die darauf folgende Stille komisch vorkommen. Vielleicht auch langweilig. Nach mehreren Jahrzehnten Adrenalin fühlt sich langsamer werden oder Stille nicht gleich nach Frieden an.
Ich unterscheide an dieser Stelle zwischen stressenden gesellschaftlich-politischen Bedingungen, die niemand im Alleingang wegoptimieren kann und Bedingungen, die tatsächlich von mir steuerbar sind.
Im Traum und im Wachzustand nicht mehr gegen Übermächte zu kämpfen ist immer noch eine eher neue Erfahrung für mich. In meinem Schlafkörper scheint sich die Gewissheit auszubreiten, gut aufgehoben zu sein, obwohl diese Welt kein sicherer Ort ist. Ich finds nicht langweilig. Ich habe Lust auf mehr von diesem Frieden.
Die blasslila Rosen sind jetzt aufgegangen. Im Laden an der Hauptstraße beschlichen mich noch Zweifel. Geschlossene Rosen sehen immer so hart konservativ aus. Aber nach 48 Stunden in lauwarmen Wasser: exaltiert und aufgeklappt bis zum grünen Stengel.