Nach dem Homeoffice fülle ich Pfefferminztee in eine Flasche, packe den Rucksack und gehe auf einen der näheren Berge. Das erste Drittel ist mühsam, der Schnee ist teils getaut und wieder überfroren, ich hadere mit den Bedingungen und erwäge umzukehren, um die Zeit fürs Lernen zu nutzen. Ich bin bei den Kapiteln zu dissoziativen Störungen angekommen, aus gegebenem Anlass brauche ich das Wissen aktuell häufig in der praktischen Arbeit, recherchiere und lese erneut die Sekundärliteratur. Ich merke aber auch, dass meine Instinkte nach 8 Jahren Auseinandersetzung damit einigermaßen gereift sind, einspringen und die Lücken füllen, wo ich noch nicht alle Fakten zusammen habe. Es ist befriedigend, das zu erleben. Im Zweifelsfall reicht manchmal ein Blick zu einem anwesenden Kollegen oder einer Kollegin für die Zweitmeinung Es kommt im Moment einiges zusammen, was über einen gewissen Zeitraum parallel und ohne Verknüpfung koexistiert hat.

Weiter oben am Berg wird es milder und einfacher zu gehen, die Vögel in den Fichten befinden sich bereits in ihrem Abendgespräch. Auf der Kuppe lehne ich mich an eine Schuppenwand, wärme die Finger und schaue zu, wie die Farbe des Himmels von Eisblau nach Lavendel kippt. Nach dem Lila kommt ein blasses Rosa, das sich 20 Minuten mit dem kalten Gelb im Westen die Waage hält, bevor es an den Zacken der Karwendelkette anfängt rot zu glühen. Ich steige in der Dunkelheit ab. Wo der Lichtkegel meiner Stirnleuchte den Schnee trifft funkelt es. Der Halbmond ist nicht zu sehen, die Venus mit ihrem orangen Schein deutlich zu unterscheiden von den silbernen Sternen. In den dichten Waldstücken dringt kaum Himmelslicht nach unten, es ist so finster, wie ich manchmal will, dass es finster ist.

Ich glaube, die Füchse sind jetzt durch mit der Paarung. Man hört sie nicht mehr schreien, kläffen und kichern auf diese irritierende Weise, mit der sie im Janaur und Anfang Februar die Geräuschkulisse des Waldes vervollständigen. An zwei Tagen treffe ich Freunde und freu mich daran, was sie machen und erleben. Dass ich manchmal darin involviert sein darf und manchmal nur vorbeischramme, während ihre Erzählung stattfindet.

Später in der Woche werde ich krank, schreibe in der Minute, in der es mir auffällt, eine Mail an die Vertretung, lasse den Stift fallen und fahre nach Hause. Es war kein leichter Weg für mich zu verstehen, wohin verschleppte Grippen führen und ich bin nicht gewillt, den Weg noch mal zu gehen. Ich erinnere mich an das Gesicht der Ärztin in der Notaufnahme, die meine entzündeten, zugeschwollenen Augen untersuchte, den Kopf schüttelte und mich neun Tage an einen Antibiotikatropf im Krankenhaus hängte. Im Zimmer lag ich mit einer Graphikdesignerin, die sich in einer Werbeagentur mit 16-Stunden-Tagen in einen Burnout plus Hautreaktion gearbeitet hatte und einer blutjungen Erzieherin, die monatelang unterbesetzt und damit alleinverantwortlich Kinder aus prekären Verhältnissen betreute, ehe eine Autoimmunerkrankung und/oder Panikattacken etwas in ihrer Lunge regelmäßig zuschwellen ließ.

Die Erziehering bekam auf der Station jeden zweiten Tag Besuch von ihrer alkoholisierten Mutter. Wenn die Mutter weg war, stand das Mädchen auf, öffnete ein Fenster und legte sich wieder ins Bett, mit dem Gesicht zu Wand.

Mit diesen zwei Zimmergenossinnen habe ich zusammen sehr viel Joghurt gegessen, die Gänge nach ruhigen Plätzen zum Telefonieren abgesucht und auf einen Bildschirm gestarrt, als es in Fukushima nach dem Tsunami zur Kernschmelze in den Reaktorblöcken des Kraftwerks kam. Und weil die Realität oft dichter und schräger ist als Ausgedachtes befanden wir uns dabei die ganze Zeit auf der Kinderstation des Krankenhauses, da die Stationen für Erwachsene alle belegt und überbelegt waren. Das heißt, die Pfleger, die morgens und abends reinkamen, um Blutdruck zu messen und Infusionen zu legen, waren manchmal als Pumuckl verkleidet und sprachen dann auch so wie er. Die Türklinken der Zimmer hatte man höher gesetzt, um das Weglaufen kleiner Patienten zu verhindern. Die Klinken befanden sich etwa auf Höhe meines Halses. Ich bin aus dem Krankenhaus gegangen mit dem Entschluss, dies die letzte Erfahrung dieser Art sein zu lassen. Wenn ich beim nächsten Mal eingeliefert werde, will ich völlig schuldlos sein an was auch immer mir dann passiert sein wird.