Klaus
Am S-Bahngleis steht eine junge Frau, unterm Arm hält sie Habersacks Deutsche Gesetze - es ist nicht leicht, ein Buch von der Breite eines Toasters unterm Arm zu balancieren, aber sie macht das einigermaßen routiniert. Sie kann wenn sie will, zwei Minuten ins Leere starren und dann in einer einzigen flüssigen Bewegung das Buch nach vorne schwingen, um direkt auf einer der rund 35 Seiten, in denen abgegriffene Postits kleben, zu landen. Ich muss an den amerikanischen Gerichtsprozess denken, in dem Camille Vasquez, die Anwältin von Johnny Depp, im Kreuzverhör seine Exfrau so respektvoll und ausdauernd befragte/attackierte, bis von deren Aussagen keine drei glaubwürdigen Brösel mehr übrig waren.
Die Frau am S-Bahngleis ist sehr schön. Sie hat die symmetrischen Gesichtszüge und weit auseinander gezogenen Wangenknochen, die zufällige Betrachter mit dem Gefühl innerer Sammlung zurücklässt. Ich frage mich unweigerlich, wie man neben der genetischen Disposition, guter Ernährung und ausreichend Bewegung zu einem so unbeschadeten Gesicht kommt. Muss dafür biografisch überwiegend alles gut laufen? Neigt ihr Körper zufällig nicht zur Somatisierung/ belastende Gefühle physisch abzubilden? Lebt diese Person weitestgehend sorgenfrei?
Ich schaue gern Gerichtsprozesse an. Die Beweislast und Hergänge sind interessant, aber spannender finde ich die Kommunikationsanalysen und Auswertungen von Körpersprache-Expertinnen nach den Prozessen. In den Auswertungen werden selten Zuschreibungen gemacht oder eindeutige Schlussfolgerungen gezogen. In der Regel wird in einem ersten Schritt alles angeschaut und, falls es sich um Personen des öffentlichen Lebens handelt, verglichen mit Aufnahmen von Interviews, Vorträgen und Interaktionen der Vergangenheit. Die einzelnen Signale, Haltungen, Gesten und Mimik sowie die Wortwahl, Zögern bei der Wortwahl etc. werden anhand von Studienergebnissen zu Stressverhalten, usw. eingeordnet. Daneben wird unter anderem beobachtet und festgehalten, welche Körperhaltung, Sprechgeschwindigkeit, Kopfneigung, Kontaktbereitschaft die betreffende Person als Standardhaltung einnimmt und wann und in welcher Form sie davon abweicht. Einzelne Signale sagen erst mal gar nichts aus, nur in Summe und Kontext bekommen sie Bedeutung und zwar eine Bedeutung für diese eine Person. Verschränkte Arme vor der Brust sind zum Beispiel keine Abwehr, wenn jemand häufig und auf diese Weise bequem in seinem Stuhl zu sitzen pflegt.
Interessant daran ist für mich, zu verfolgen, warum ich das Verhalten eines Menschen für glaubhaft oder authentisch halte, weshalb bestimmte Gesten oder der Mangel an Gesten ganz konkrete Gefühle hervorruft und welche Strategien jemand wählt, um Sympathien oder Verbündete zu gewinnen, etwas zu verharmlosen, zu untermauern und dergleichen mehr. Des Weiteren in welchem Fall ein Mensch sich emotional mehr oder weniger bewusst distanziert oder eventuell als Ausdruck von extremer Belastung oder psychischer Erkrankung dissoziiert, also den Zugang zu seinen Emotionen verloren hat und daher unbeteiligt und abgeklärt wirkt.
Zum Schluss geht es natürlich auch in Auswertungen der Körpersprache um Interpretation und Annäherung an Wahrscheinlichkeiten. Im besten Fall Wahrscheinlichkeiten aufgrund valider Informationen zu menschlichem Verhalten und Ausdruck. Und Interpretation nach Austausch mit genügend anderen beobachtenden Menschen aus anderen sozialen, beruflichen, gesellschaftlichen Gefügen und mit weit gestreuter Erfahrung.
Ich war eine Woche krank und habe in den wachen, nicht-fiebernden Stunden hunderte Tiervideos angesehen. Überwiegend Biber, Füchse und Waschbären. Dazwischen streunende Katzen in einer chinesischen Provinz, denen jemand eine GoPro umgebunden hatte. Es geschah nicht viel, ich fühlte mich unterhalten. Einmal habe ich versucht, etwas über die Theorien zur Mondentstehung zu lesen und gab nach 20 Minuten auf im Bewusstsein, momentan das Fassungsvermögen einer Drittklässlerin zu haben. Vorgestern kam der Winter zurück. Vor dem Fenster den ganzen Tag Schneewehen, an der Dachrinne hängen wieder Eiszapfen. Ich nehme an, die Fuchsweibchen (Fähen) sitzen jetzt schwanger in ihrem Bau und warten ab. Im April werden die Jungen geboren. Im Sommer werde ich sie am Waldrand herumhüpfen sehen. Sie springen gern auf die Heuballen der angrenzenden Wiese. Rauf, runter, rauf, runter.
Neulich habe ich mal wieder Klaus per Anhalter mitgenommen. Klaus ist etwa 80 Jahre alt und wohnt im Nachbardorf. Ich glaube, alle hier kennen ihn. Wenn er zum Arzt muss oder was erledigen will in der nächst größerern Stadt fährt er immer per Anhalter, weil der Bus selten kommt. Für die Menschen hier auf dem Land ist das Ende des Lebens wie der Anfang; man hat wieder kein Auto und/oder Führerschein, wohnt da, wo eigentlich zu wenig los ist und kann aus finanziellen Gründen nicht umziehen. Klaus sagt jedoch, er würde, selbst wenn er Geld hätte, nicht umziehen können. Hier leben seine drei wichtigsten Freunde und wenn er nachts spazieren geht, ist der Mond so nah und schön.