Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so aufgeplatzte Gesichter gesehen habe. Ob ich überhaupt schon mal solche gesehen habe. Für den Zeitraum von etwa drei Stunden lag im Prinzip alles blank: Einsamkeit, Schmerz, Lust, Freude von etwa 150 Menschen, zusammengekommen in einem dunklen Raum, angetreten aus unterschiedlichen Motiven, vielleicht auch nur aufgrund einer kurzfristig sich bemerkbar machenden Schubkraft, dem dumpfen Wissen, hineingestülpt zu sein in diese Welt. Da.

Viele Mädchen können im Alter von 13 Jahren nicht mehr beschreiben, was sie fühlen, aber detailliert Auskunft geben darüber, wie sie glauben aussehen zu müssen, um eine Existenzberechtigung zu haben. Für Jungs muss es ähnlich schlimm sein, oder anders schlimm. Das kann ich nicht beurteilen. Zwanzig Jahre später und die ersten Bröckelerscheinungen im Gesicht bleibt eigentlich nur Verzweiflung und das Anrudern gegen die sichtbare Sterblichkeit. Wenn daher aus vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Gründen an einem verregneten Tag im Mai 150 Menschen mit ihren wie auch immer gearteten Körpern einen Abend lang Hingabe an diese vorgefundene Existenz praktizieren, ist das rar. Ein rares Ereignis.

Jedes Mal wenn ich für ein paar Sekunden die Augen öffne, krümmt, stampft oder zuckt eine andere Person an mir vorbei. Darunter Frauen, die aktiv und passiv viele hunderttausende Frauenbilder in ihrem Leben konsumiert haben und es dennoch für diese Zeitspanne schaffen, von ihrem Erwartungsgerüst herunter zu kommen, zu tanzen wie ein Schimpanse es tun würde, ein Insekt, ein Pferd, ein Walfisch, ein Erdrutsch, ein Kometenschauer.

Ich glaube wirklich, keiner der Anwesenden hat Drogen genommen. Zumindest sieht keiner danach aus. Ich schaue etlichen in die Augen und viele schauen zurück. Ich erkenne nüchterne Menschen, sie sehen roh aus und meist nicht souverän. Sie müssen durch sich durchwaten; die Bewertung, die Abwertung, den drängenden Impuls, manche Gefühle zu betäuben und andere zu verstärken und dabei ununterbrochen bleiben, nicht weglaufen. Dennoch passiert manchmal, was niemand tun oder herholen, wofür man sich nur bereit und bis dahin möglichst schadlos halten kann. Die Fassung springt, der Bewegungsfluss entgleist, schwappt über und gehört nicht mehr den Einzelnen selbst. When there is only dancing and no dancer.

Einmal, ungefähr in dem Moment, als irgendwo am anderen Ende des Raums eine Rotation beginnt, sich an den Körpern entlang fortsetzt, verdichtet und in Form pitschnasser Rücken, Arme und Laute an mir vorbei schrammt, drehe ich meinen Kopf nach links und schaue zu meiner Freundin. Sie lacht mit aufgerissenem Mund. Sie lacht so aufgerissen und enthemmt, wie es im Leben einer Erwachsenen nur nach grenzwertigen, eigentlich überwältigenden, Strapazen möglich ist. In der Sekunde der Erkenntnis, dass man nicht kaputt gegangen ist.