Am Samstag stürmt es den vierten Tag in Folge, ich lerne ein paar Stunden, anschließend gehe ich tanzen. Weil es der Tag vor Weihnachten ist haben sich die Veranstalter, die im esoterischen Spektrum verankert sind, ein Special ausgedacht. Ich habe das befürchtet, gehe aber trotzdem hin, weil ich mich bewegen muss und es sich in diesem Setting (ohne Drogen, ohne Handy, barfuß…) ziemlich gut bewegen lässt. So gut, dass es mir mittlerweile schwer fällt, in normalen Clubs vergleichsweise gut zu feiern.

Die erste halbe Stunde gestaltet sich für mich dann auch erwartungsgemäß zäh. Von dem Organisationsteam werden besinnliche Worte gesprochen, es ist viel von Licht und Zartheit die Rede, wir sollen dem in Pappbechern an uns ausgeteilten Kakao eine Frage stellen und einander an den Händen halten, während der Kakao vielleicht unsere Frage beantwortet. Wenn nicht, nehmen wir das gelassen zur Kenntnis und senden unsere Widerstände auf eine Reise, die uns zur Erkenntnis führen wird. Rechts und links von mir stehen und sitzen durchschnittlich aussehende und ich wage zu behaupten, auch durchschnittlich unesoterisch veranlagte Leute - wie können die sich das so ruhig anhören? Ich habe den Eindruck, auf nicht gerade subtile Weise veräppelt zu werden. Zwei Mal muss ich mir die Nase zuhalten, um ein Lachen zu unterdrücken. Im Anschluss wird ein Mantra gesummt, währenddessen ich über die Inneneinrichtung meiner Wohnung nachdenke.

Das passiert mir gelegentlich in religiösen Zusammenhängen. Sowohl in dem von mir präferierten Glauben, als auch in mir eher fremden Kontexten. Das gesamte Gebäude kann von einer Sekunde auf die andere abstrus und zusammengezimmert wirken, die Rituale, die Versenkung, das Vokabular. Meine Spiritualität und mein Atheismus wechseln sich schnell ab, ich habe mich daran gewöhnt und verlange keine Eindeutigkeit mehr. Mich in 80% der Zeit einigermaßen geliebt und in Beziehung mit dem das was ich für Gott halte, zu fühlen, ist denke ich mehr als genug.

Das Tanzen ist dann gewohnt großartig und (das muss ich den Veranstaltern lassen) eine Ausnahmeerscheinung in dieser manchmal so vernagelten Stadt. Es gibt nicht viele Locations, in denen nüchterne Menschen derart albern, hingegeben und uneitel miteinander durch die Nacht rauschen. Ich kann mich mit diesen in, eingebildetem oder realem, Licht gebadeten Leuten tatsächlich immer wieder hervorragend vergnügen. Unter den Anwesenden sehe ich meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, insbesondere eine Frau in der Mitte des Raums betrachte ich eine ganze Weile und nehme, unbemerkt von ihr, die Bewegung ihrer Arme und Beine auf. Später auf der Toilette treffen wir zufällig vor dem Waschbecken aufeinander. Du tanzt sehr schön, sage ich zu ihr. Unter ihren langen ins Gesicht fallenden Haaren befinden sich zwei schneeweiße Strähnen. Du auch, antwortet sie und schaut mich an. Einen Moment lang habe ich den starken und befremdenden Eindruck, meinem 10 Jahre älteren Selbst gegenüber zu stehen. Wir nicken uns zu und gehen wortlos auseinander.

Am Tag darauf ist Heiligabend, es kommen Freunde, der Sturm tobt weiter, es rüttelt an den Fenstern, die Zweige der Eibe schlagen gegen die Hauswände, die Mülltonnen der Nachbarn rollen über die Straße und verteilen Verpackungsmüll im ganzen Viertel. Ein nicht endendes Dauergetöse und Dinge befestigen, die sich wieder losreißen. Am nächsten Morgen offenbart ein Spaziergang im nahe gelegenen Moor Baumschäden. Beschienen von der Sonne sitze ich im Pullover auf einer umgelegten Esche und schaue auf die junge Birkenkolonie in einiger Entfernung. An den Bienenstöcken schwärmt es, ansonsten ist es ruhig. Abends lese ich ‘Orbital’ von Samantha Harvey und ein paar Zeilen meines Lieblingsfranziskaners. Der Mond wird voller, die Nächte sind blaugrau, nur wenige Tiere sind zu sehen.

Der Freitag danach beginnt verhangen, wendet sich gegen Mittag ins sonnige und bietet ausreichend Wärme, damit wir ohne zu frieren einen kleinen Berg erklimmen können. Die letzte Wanderung ist zwei Monate her. An der Kuppe oben packt ein Freund blaue Plastiktüten aus, auf denen wir die vereiste Schneedecke herunterrutschen. Der Winkel ist steil genug, Angst und Lust in etwa gleichem Ausmaß zu erzeugen. Einmal über die Kante gesteuert ist es unmöglich, noch irgendwas zu beeinflussen, das Tempo zu regulieren, die Laufbahn zu ändern. Ich lasse den anderen den Vorrang. Als sie verletzungsfrei unten ankommen traue ich mich auch.