Aus dem Auto tritt eine Flüssigkeit aus. Der junge Mann, der zwei Häuser weiter in seiner Garage eine Hebebühne mit Notfallservice betreibt, versichert, es sei keine Bremsflüssigkeit, sondern das Kontrastmittel der Klimaanlage, kein akuter Handlungsbedarf. Er macht das umsonst und lächelt, als ich auf dem Glatteis in seiner Einfahrt umherschlittere. Ich mag diese Nachbarschaft. Jede und jeder kann irgendwas oder hat irgendwas. Werkzeug, Anhänger, Leitern, einen Vogelschutzverein, eine Blaskapelle, einen kleinen Knall oder eine Meditationsgruppe, die das Meditieren aufgegeben hat und sich nur noch zum Backen trifft.

Schräg gegenüber lebt eine Französin ein unauffälliges Leben mit dem Kirchenmusiker und ihrer Katze. Nur einmal hat sie einen Stein in das Schuppenfenster des Nachbarn geschmissen, weil ihre Katze in ebendiesen Schuppen eingestiegen war, der Schuppenbesitzer (ein Grantler, wie man hier sagt) die Katze darin einschloss und sich weigerte, wieder aufzusperren. Die Katze wurde befreit, die Polizei kam, das zerschmissene Fenster musste von der Französin bezahlt werden. Das hat sie mir erzählt, während ich ihre Katze streichelte. Ich kann mich erinnern an den Abend, als das geschah. Ich sah die Französin rübergehen zum Schuppen und davor schreiend vor Wut in ihrer Wohnung toben. Die Katze hat das gut verkraftet. Sie ist weiterhin neugierig und voller Elan.

Normalerweise ist jetzt die Jahreszeit, in der ich webe. Nichts Aufwendiges, lediglich eine hellbraune Reihe nach der anderen aus Ziegenhaar und Schafwolle. Aber der Webrahmen steht im Keller und wird dort bleiben müssen, bis der Prüfungsstoff in meinem Kopf ist. Ich kriege es jetzt einigermaßen hin, zwischen Theorie und Praxis zu wechseln und meine Gedanken zu stoppen, wenn sie kurz vorm Einschlafen noch mal zu den bedrückenden Fakten mancher Inhalte zurückkehren. Ich habe dieses Stoppen intensiv trainiert, nachdem ich im Anschluss an die Auseinandersetzung mit menschlich sehr leidvollen Situationen manchmal in einen unangenehmen Zustand gerutscht bin.

Etwas nicht zu denken, was denkbar ist, aber mich inhaltlich noch überfordert, hat überraschenderweise viel damit zu tun, eine körperliche Grenze zu markieren. Ich mache also vor dem Einschlafen manchmal Bewegungen, die unter anderem in Selbstverteidigungskursen geübt werden. In Hinblick auf die somatischen Stufen der Entwicklungspsychologie ist das nicht verwunderlich. Wer sich traut, körperlich etwas abzuwehren oder zu stoppen, kann auch eigene Gedanken in die Schranken weisen. Die äußere Bewegung ist der inneren Bewegung verwandt. Mir ist dabei wichtig, nicht in einen offenen Kampf mit meinen Gedanken einzutreten. Ich bedanke mich für ihre Anregung und vertage sie auf später - zum Beispiel auf den Zeitpunkt, ab dem ich in der Lage sein werde, mich ihnen zu widmen ohne dabei Schaden zu nehmen.

Meine Tanzlehrerin musste während der Pandemie ihr Studio aufgeben. Jetzt treffen wir uns in dem schlecht beheizbaren Erdgeschoss einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik. Es fühlt sich nicht so industrial-romantisch an, wie das Wort Nähmaschinenfabrik suggeriert. Das Gebäude ist marode, die Toiletten stinken, die Wände wurden mit oranger Wischtechnik bemalt, ein Fenster lässt sich nicht vollständig schließen, der Vermieter hat den Schlitz mit Gaffer Tape “repariert”.

Die Kälte nervt. Nachdem ich den Tag über in den öffentlichen Verkehrsmitteln gefroren habe, dann im Büro und wieder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, friere ich in der Nähmaschinenfabrik weiter. Die körperliche Betätigung kommt kaum dagegen an. Aber was sollen da erst Leute sagen, deren Infrastruktur weggebombt wird. Oder der Bekannte einer Freundin in der Unterkunft für Geflüchtete, der sich für jede Minute, in der er Privatsphäre braucht, in den Schneeregen vor die Unterkunft stellt. Wegen der Residenzpflicht - dem eingeschränkten Bewegungsradius von Asylbewerbern innerhalb der ersten drei Monate in Bayern - können wir den Bekannten nicht einmal für ein Wochenende zu uns einladen. Selbst wenn wir ein Zimmer hätten, müsste er in der Unterkunft wohnen. Das muss man sich mal vorstellen. Es gibt Momente, da möchte man einen Stein nehmen und Schuppenfenster einschmeissen.

Die Freundin fährt regelmäßig 150 km zu der Unterkunft, um den Bekannten organisatorisch und emotional zu unterstützen bei dem was hinter ihm liegt und was vor ihm liegt. Daneben gibt es Studierende der juristischen Fakultät, die den Bekannten unentgeltlich in Rechtsfragen beraten, was bitter nötig ist, will man verhindern, dass er zurück in seinem Herkunftsland direkt vom Geheimdienst einkassiert wird.

Unterdessen hat ein anderer Freund für die Ukrainer, die ein 3/4 Jahr bei ihm gewohnt haben, eine Wohnung gefunden. Weiterhin verbringt er wöchentlich einige Stunden damit, ihnen beim Abschluss von Verträgen, Jobangeboten und der Kommunikation mit Behörden zu helfen.

Ich schreibe das auf, um mich daran zu erinnern, dass dieses Leben nicht gerecht ist, es darin aber immer wieder Menschen gibt, die ihr Mögliches tun, um die Härten der Ungerechtigkeit abzufedern.