Ich wünschte, ich wäre eine Person, die den Winter schätzt. Für seine Kontraste. Oder die Optik. Als Pausetaste zwischen zwei Sommern oder irgendeinen Gedanken, der mir plausibel darlegt, warum ich sie brauche, diese Jahreszeit. Und hört mir auf mit Dankbarkeit. Ich bin dankbar. Ich war dankbar, lange bevor es ein mindset wurde, das in Onlinekursen und auf Bali-Retreats für 5000 $ die Woche gedownloaded werden kann.

Sehr früh an diesem Morgen stehe ich im Schneeregen vor einem Gebäude, in dem ich seit einiger Zeit druckbetankt werde. Neurologische Auffälligkeiten, zerebrale Krampfanfälle, Intoxikationsdelir, degenerative Erscheinungen im fortgeschrittenen Stadium. Ich weiß, das ist der Deal. Wer mitspielen will muss da durch; den Korridor des medizinischen und pharmakologischen Terminologie-Pressings. Der Gleichschritt dieser Wochen besteht folglich aus Arbeiten, Lernen, Schlafen, repeat. Ich versuche, meine Sinnlichkeit aufrechtzuerhalten, aber es gelingt mir nicht oft. Abends liege ich mit brennenden Augen im Dunkeln und will nichts mehr lesen, hören, sehen, wissen. Vor allem nichts mehr wissen. Gelegentlich überkommt mich der Anspruch, gesellschaftlich und politisch einigermaßen informiert zu bleiben, aber die Inhalte der Nachrichten ekeln mich an, die Gespräche meiner Mitfahrenden in der U-Bahn ekeln mich an, die Trailer dessen, was mir als Unterhaltung angeboten wird, ekeln mich an. Mir dämmert langsam; ich komme um die Reduktion nicht herum. Ich muss akzeptieren, in der folgenden Zeit als ein sehr zurückgestutztes, überwiegend kognitiv agierendes Wesen durch die Gegend zu steuern: ein Winter im Winter.

Ich kann auf einiges verzichten, aber was mir nicht abhanden kommen darf, ist die Nähe zu mir. Diese Schatulle - Haut, Blut, ein paar Bewegungen und darin ich - zu halten, zu betasten und zu tragen. Auch auf die Gefahr hin, vollends zu verkitschen steigere ich in diesen Tagen noch einmal die Häufigkeit meiner Umarmungen. Berühre Freunde, wenn ich sie denn irgendwo für 5 Minuten treffen kann, am Arm, an der Schulter, am Hals, einem von ihnen habe ich sogar ins Haar gefasst.

Our bodies and our hearts are given us only once.

Meiner neuen niederbayerischen Bekanntschaft sage ich, dass sie das schönste und hemmungsloseste Lachen hat, dass ich je gehört habe. Sie bringt es fertig, eine Anekdote, die ich aufgrund des Dialekts gar nicht richtig verstehe, so zu erzählen, dass erst sie selbst und dann ich in eine anhaltende Lachattacke ausbreche. Noch in der Woche zuvor war sie in einer der Pausen in dem schneeverregneten Gebäude auf dem Gang gestanden, buchstäblich nach Worten suchend in der Beschreibung der Tatsache, dass sie von ihren Geschwistern geschnitten wird, seit sie im Familienkreis etwas erwähnt hat, das alle wissen, aber niemand wissen will. Es ist immer das Gleiche. Schmerz verbindet nicht. Er trennt. Bis sich jemand findet, der seinen eigenen Schmerz zu Ende gefühlt hat. Dieser Mensch kann dann auch den Schmerz der anderen ertragen.

Als ich am Abend aus der Stadt zurück komme, hat die Nachbarin etwas vor die Tür gestellt. Kleine Rosen aus ihrem Garten, konserviert vom Frost in Verknospung und Blüte. Ich sehe sie gehen, meine Nachbarin, durch die kalte Luft vor schwarzem Himmel, das Ikebana ihrer Schritte im Schnee, den Geruch von November an den Händen. Es liegt, ich gebe es zu, in dieser Handlung eine Anmut und Miniatur, die eingebettet in die winterliche Landschaft, zumindest optisch, doch einen Reiz hat.