Während meines Spaziergangs über die Felder komme ich an einigen verpackten Heuballen vorbei, dazwischen steht ein Rehkitz und sieht mich an. Es hat noch keinen Fluchtreflex und lässt mich bis auf wenige Meter herankommen. Als ich mich ins Gras setze, legt sich das Kitz ab, schaut noch ein paar Minuten und wird dann schläfrig. Wir verweilen nebeneinander und die Sonne wärmt meinen Nacken.

Unter der Woche streife ich durch ein konventionelles Kaufhaus und entdecke dabei dieses Unterwäschenmodell. Das hätte es vor zehn Jahren noch nicht gegeben. Bei allem, was in letzter Zeit schlechter geworden ist - zumindest die in mancher Werbung dargestellten Frauenkörper sind etwas näher an der Realität dran.

Am Samstag entzündet ein Freund zwei Lagerfeuer in seinem Garten und lädt alle ein; die Geister der Vergangenheit, den harten Kern der Gegenwart, Versprengte und neu Hinzugekommene. Man sagt mir, dass ich in den ersten fünfzehn Minuten auf einem Fest immer recht überfordert und erschreckt aussehe. Hier decken sich Fremd- und Selbstwahrnehmung. Ich glaube nicht, einen vernünftigen Eindruck hinterlassen zu haben bei der Person, die mich gleich an der Tür in ein Gespräch verwickelte. Später am Abend, als ich etwas im Magen habe und behaglich in einem der Feuerkreise sitze, bin ich restlos eingegangen in diese selten vorkommende Vermengung verschiedenster Menschen und kann mich gar nicht mehr losreißen aus den Erzählungen, Fragen und Annäherungsversuchen. Der Mond in dieser Nacht ist voll, die partielle Finsternis bemerke ich erst auf dem Heimweg.

Wenige Stunden zuvor hatte ich, den Block auf meinen Knien, mitgeschrieben, während jemand weiter vorn im Raum zusammenfasste, mit welchen Botenstoffen ein synaptischer Spalt in der Akutphase diverser Erkrankungen geflutet wird, wie die Symptomkomplexe differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind und warum das Abklingen der akuten Phase nicht zwangsläufig eine Linderung der Beschwerden mit sich bringen wird. Die Informationsvermittlung zieht jetzt, in den letzten Monaten vor der Prüfung, auf die Überholspur und findet sehr verdichtet statt. Ich habe den Stoff vor etwa zwei Jahren einmal versuchsweise gelernt, greife auf ein paar erhalten gebliebene Segmente zurück und korrigiere anhand des Vortrags die alten Skizzen. In der Pause stehe ich mit einer jungen Frau zusammen. Sie spricht einen sehr derben niederbayerischen Dialekt. Ich finde sie sympathisch, hartnäckig und versehrt auf eine Art, die nur bestimmte ländliche Regionen und einschlägig dysfunktionale Familien hervorzubringen in der Lage sind. Wir beschließen, zusammen zu lernen. Ich will, dass sie durchkommt und ich will mit ihr befreundet sein.

Am Morgen danach ziehen wir früh los in eine weiter entfernt gelegene Gegend, einen Gebirgszug von samtiger Schönheit und hinterhältigen Härten. Gleich die erste Stunde des Aufstiegs scheint wie dafür gemacht, den Willen von unentschlossen hier her Gekommenen zu brechen. Geröllfelder und Scharten ohne eine einzige Windung, der Weg führt so direkt wie möglich aufwärts durch ausgespülte Rinnen zwischen Fels und Kar. Seitlich ragen Schichten des Alpinen Muschelkalks aus ineinander geschobenen Bergplatten. Der Muschelkalk stammt aus der ältesten Periode des Erdmittelalters und war einst Sediment des Meeresbodens. Es ist wie auf ein altes Organ unseres Planeten zu schauen, die versteinerte Form eines vor langer Zeit von Tiefseetieren bewohnten Lebensraums. Der Weg zieht sich eine Senke hoch, ein kilometerweit zu sehendes Band, eingebettet in den Kessel vor dem eigentlichen Joch. Als zum ersten Mal die im Wind kauernden Gämse an den Bergflanken in den Blick rücken, wird es leichter, ich lege meine Hand in rostig verfärbtes Gras. Steppenähnliche Wiesen und Flechten decken das Gestein, die Sonne leuchtet die Hügel in einem niedrig einfallenden Winkel aus. Wir werden später, in den eisigen Temperaturen am Gipfel, nah zusammenstehen, zitternd, mit tauben Fingern und Lippen, auf dem Foto jedoch ist lediglich gnädig ankommendes Licht zu sehen, die letzte schwach rosa Herbststrahlung auf sechs strapazierten und lachenden Gesichtern.