Ich hab eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass ich trauere. Dass die pauschale Bedrückung, die ich seit dem 07. Oktober empfinde nichts mit meinen konkreten privaten Umständen zu tun hat. Etwas in mir ist weiterhin entsetzt und am Boden zerstört. Vor dreizehn Jahren haben ein paar Freunde und ich in Tel Aviv zufällig eine kleine Gruppe Israelis kennengelernt. Wir waren nachts in einem etwas abgelegenen Viertel herumgelaufen und dabei in einer Ausstellung gelandet, in deren Rahmen verschiedene Künstler etwas vorlasen oder performten, ich erinnere mich nicht mehr genau an den Ablauf. Im Anschluss daran standen wir mit den Israelis vor der Galerie, sprachen miteinander und gingen dann zusammen essen. In den folgenden drei Tagen und Nächten trafen wir sie immer wieder, Tel Aviv ist ja nicht groß, einmal in einer Jazzbar, ein anderes Mal in dem einzigen Lokal, das an Pessach geöffnet hatte und ich glaube, in einer Nacht nahmen sie uns mit in einen Club. Keiner der Israelis war mit der Siedlungspolitik ihrer Regierung einverstanden, alle engagierten sich auf irgendeine Weise für gerechtere Lösungen in den aktuellen Konflikten, demonstrierten für bezahlbare Mieten oder schüttelten den Kopf über die Absurdität, gegen Menschen kämpfen zu müssen, in die sie sich unter anderen Umständen verlieben würden. In allen Gesprächen wurde differenziert zwischen Hamas und der restlichen Bevölkerung. Einer der Männer hatte, um während seines Militärdienstes nicht aktiv an Kampfhandlungen teilnehmen zu müssen, drei Jahre im Garten des Stützpunkts Gemüse gepflanzt. Andere hatten den Dienst regulär durchlaufen, kritisierten aber jeden Kurs, der die Rechte der Palästinenser nicht mit einschloss und deren Lebensgrundlagen weiter beschnitt. Die Biografien dieser Israelis und ihrer palästinensischen Kollegen und Bekannten waren damals schon derart kompliziert, zersetzt von Angst, in ständiger Bemühung eine heillos verfahrene Situation, die niemand von ihnen aktiv gewählt hatte, zu verbessern oder zumindest nicht zu verschlimmern, dass eine weitere Eskalation, weitere Gewalt, eigentlich nicht mehr vorstellbar waren. Ich denke in diesen Wochen häufig an sie und die Schwierigkeiten, die sie auf so vielen Ebenen meistern müssen.

Ich habe keine Palästinenser kennengelernt, während der zwei Wochen, die ich in Jerusalem und Tel Aviv verbracht habe, bin aber sicher, dass auch sie mehrheitlich in Bars sitzen, vor Galerien herumstehen, sich in Menschen aus der ganzen Welt verlieben wollen und im Grunde keine Lust haben, zu töten oder getötet zu werden.