Am Dienstag gehen wir auf einen der mir liebsten Berge in diesem Gebirge, eine gelbe Graslandschaft, stetes Gehen, 27 Grad, Schlaufe um Schlaufe, Serpentine um Serpentine, die immer gleichen trockenen Wendungen, ein vertikal aufgerichtetes Labyrinth, versengt von der Oktobersonne.

Ich denke an die 11 konzentrischen Kreise und 34 Kehren des Labyrinths in der Kathedrale von Chartres aus dem 13. Jahrhundert. Ein langer Weg zum Zentrum hin, in dessen Mitte der finale Kampf mit dem Minotauros wartet, das Mischwesen, das wir selbst sind, unsere größte Furcht, unser hellstes Licht. Ich bin vor zwei Jahren durch eine Nachbildung dieses Labyrinths gegangen. Die Kehrtwenden sind sehr eng, sie erfordern eine totale Umkehr und lösen manchmal eine Art psychomotorischer Irritation aus. Wenn andere Menschen gleichzeitig das Labyrinth begehen, treffen sich an den Umkehrpunkten die Arme, Schultern und Blicke der Menschen. Ich weiß noch, wie eine Frau in einer dieser engen Wendungen unvermittelt meine Hand in ihre genommen hat.

Am Wochenende zuvor hatte ich getanzt, ausgelassen, unruhig, rastlos, das hat mit dem Ende des Sommers zu tun, das kann ich mittlerweile einordnen. Die Halle war voller als sonst, ich ging absichtlich in das Epizentrum der Tanzenden, wo sich die größte Enthemmung einstellt, die Leute am wenigsten steuern, was sie tun. Gegen Ende, nach mehreren Stunden konstanter Bewegung, trat für einen kurzen Moment eine Form von Entgrenzung ein und für den Zeitraum von etwa zwanzig Sekunden war ich nicht sicher, ob ich in meinem Körper tanze oder in dem Körper der anderen.

This is a waltz thinking
about our bodies
what they mean
for our salvation

(Thom Yorke)

An den Vormittagen danach ist das Licht milchig, weiße Schlieren vor blauem Grund, die Nachbarin bringt einen Strauß geschnittener Dahlien aus ihrem Garten, weil in meinem Garten diese Blumen nicht gedeihen. Die Dahlien sind die florale Verbindung, die ich zu meiner nicht mehr lebenden Großmutter aufrecht erhalte. Alles andere, das ständige Backen, Singen, Kräuter Sammeln und Kinder Herumtragen ist bei mir nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, die Dahlien aber und die Hitze zwischen den langen Beeten vor ihrem Haus.

An einem dieser warmen Oktoberabende schlendere ich mit einem Freund durch die Straßen Richtung Schlachthofviertel, in T-Shirt, Rock und Turnschuhen als wäre es Mitte August. Ich bleibe eine Weile stehen unter dem verhaltenen Sound der Nachtbeschäftigung der Stadt, während mein Kopf die Diagnosekriterien, Ätiologie und Behandlungsoptionen für verschiedene psychische Erkrankungen wiederholt. Am Bahnsteig später und in der U-Bahn liegen die Manuale und Tabellen auf meinem Schoß. Ich weiß nicht genau, wie es gehen soll, aber auf irgendeinem Weg muss dieses Material in mich hinein. Während ich andere Sachen mache.

Bei der Fortbildung am nächsten Morgen erzählt die Dozentin, wie sie in den Neunzigern mit einer offenen Bauchwunde und Granatsplittern in den Eingeweiden 2 km übers Feld zu ihrem Team zurückrannte und dabei nichts wahrnahm, als ein gedankenloses, manisches high. Erst auf der sicheren Seite im Versorgungszelt fiel ihr Blick auf das blutgetränkte Hemd an ihrem Leib und schlagartig setzten die Schmerzen ein. Sie ist eine ziemliche Erscheinung, diese Dozentin und sie wird uns ein Jahr lang eine Methode lehren, um mit Menschen zu arbeiten, deren Sprache wir nicht sprechen, deren Geschichte wir nicht kennen, deren Werte wir vielleicht nicht teilen und die uns doch in der wichtigsten Angelegenheit gleichen: sie haben einen Körper und Gefühle.

Zu dem Zeitpunkt ist der Angriff auf Israel bereits in vollem Gange. Als wir in der Pause auf den Hof treten, schaut einer der Teilnehmer auf sein Handy und sagt: das kann doch gar nicht sein.