Neu in diesem Jahr sind bunte Trinkblasen, die junge Frauen am Schürzenband ihres Dirndl tragen. Ich weiß nicht, ob sich darin Alkohol zum Vorglühen befindet oder ob es darum geht, die Wasserzufuhr zwischen den Bierphasen zu gewährleisten. Mich erinnern die Trinkblasen in erster Linie an Beutel, die ich in Krankenhäusern an verschiedenen Patienten im Endstadium ihres Lebens gesehen habe.

Der Tag, an dem ich diesen Text schreibe fängt kalt an und wird dann immer heißer. Sie sind daher fest verschnürt und mehrlagig gewandet, die Menschen an diesem Morgen in den U-Bahnen. Die Bahnmitarbeiter tragen komplette Uniform mit Leuchtstreifen und Windjacke, die Jugendlichen von der Landwirtschaftsschule dicke Kapuzenpullover mit dem Logo der Ausbildungsbetriebe, während Leute wie ich mit Schal über Sommerkleidkompromissen den Herbst leugnen und Wiesngänger in unterschiedlicher Entschiedenheit darauf hoffen, dass ihnen später schon warm wird, in fünf oder sechs Stunden.

Relativ viele Münchner tragen Urlaubsspuren in diversen Verblassungsgraden am Leib; bedenklich dunkel gebräunte Haut zwischen T-Shirtausschnitt und Rucksack, nachblutende abgeklebte Tattoos auf Unterarmen, Sonnenbrillen, die in Campingshops am Mittelmeer gekauft wurden, nachdem die eigene irgendwo liegen geblieben ist - vermutlich in einer Tankstellentoilette am Brennero. Am untrüglichsten sind die Sommerwochen jedoch in den Augen zu sehen, in verwaschenen Blicken unter schweren Lidern, dem vielen Lehnen an Laternenmasten und Händchen halten, wenn grade jemand da ist zum Händchen halten. Eine deutlich auszumachende und in dem Ausmaß selten vorkommende Unterspannung in der Körpermasse dieser Stadt.

So kommt es dann auch, dass eine S-Bahn einfährt, während ich in der Sonne am Gleis stehe, in Gedanken bin, die S-Bahn betrachte, die Ein- und Aussteigenden, das Schließen der Türen und wie sie abfährt. Ohne mich. Erst als sie fast verschwunden ist am Horizont fällt mir auf, dass ich drinsitzen sollte in dieser S-Bahn und nun weitere zwanzig Minuten tatenlos hier verweilen werde. Ich schätze mich glücklich. Wann war ich das letzte Mal so neben der Spur, so ziellos, langsam, eine Tagediebin und Liebhaberin der Versunkenheit vor dem Herrn.

An einem kühlen Sonntag stehen wir auf einem Berg vor der Ruine einer bis auf die Grundmauern abgetragenen Alm, die Holzwände sind wohl schon vor Jahrzehnten eingestürzt oder verbrannt. Innerhalb des von Steinen umgrenzten ehemaligen Wohnraums hat sich ein Mikroklima gebildet, in dem rot und violett leuchtende Sträucher gedeihen. Sie scheinen nur die 2-3 Grad mehr Wärme und etwas Windschutz zu benötigen, um jetzt im Herbst ein Farbspektrum hervorzubringen, das hier sonst nicht existiert.

Unterdessen ist in der Institution ein neuer Kollege hinzugekommen. Er stellt sich als ein außergewöhnlich lachfreudiger Mann heraus, eine Kichererbse und zu trockenen Bemerkungen neigende Ungewöhnlichkeit in diesem Haus der ernsten und gründlichen Gesichter. Auch wegen ihm denke ich in den letzten Wochen häufig an Heinrich Heine, seine Reise von München nach Genua, die Postkutsche durch Norditalien und wie er dort an schwülen Nachmittagen in der jeweiligen Provinzkirche liegt und notiert:

„Man mag sagen, was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es lässt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, und die Madonnen nicken so verzeihend aus ihren Nischen.“

Es gab eine Zeit, in der ich mit toten, durch Europa reisenden Schriftstellern eine solch fortgeschrittene Obsession entwickelt hatte, Personal vergangener Epochen dem gegenwärtigen soweit vorzog, dass schließlich auch mir eine gewisse Schädlichkeit darin auffiel und ich meine mangelnde Kontaktbereitschaft der lebenden Umwelt gegenüber überdachte.

Meine Kontaktbereitschaft ist mittlerweile moderat bis gut ausgeprägt, vor allem wenn ich mit ein paar Vertrauten zwei Stunden durch Wald und Dickicht einer abgelegenen Gegend spazieren kann. Am erwähnten Sonntag folgte der Ruine ein selten begangener Pfad, der vorbei an feuchten, morschen Bäumen und dunkelgrünem Farn bis runter an das Wasserbecken eines Flussarms führte. Alleine wäre ich nicht hineingegangen, an diesem bewölkten und reichlich kalten Tag, die nackte Haut der anderen jedoch und ihre platzenden Münder als das Wasser ihren Bauchnabel erreichte…

Ich denke, das ist der Sinn von Herden, Sippen, Schwärmen und zusammen lebenden Säugetieren, auch den vernunftbegabten Säugetieren: mitzugehen, wenn die anderen ziehen, sich verführen zu lassen von ihrer Bewegung, reinzuschlittern in Zustände, Gefühle und Reifungsgrade, die allein nicht zu erlangen sind.

Und während das seit einigen Jahren mit zunehmender Bedeutung für mich gilt, ist parallel dazu für andere das genaue Gegenteil nötig; rauszugehen aus fremden, nicht gewählten Dynamiken und Zuständen, sich eine Weile zu separieren, das eigene Urteil zu schärfen und die Verführung in der Begegnung mit sich selbst zu suchen.

Es hilft nun mal nichts, wie zwei Hobbits bei ihrer Wanderung durch Mittelerde bemerkten, den Elben eine Frage zu stellen. Sie antworten immer mit: Ja und Nein.

In ein paar Tagen ist Oktober, es wird wieder dieses spezifische Herr der Ringe Licht über den Bergen flackern, die Sonne horizontal einfallen durch das Blattwerk und der erste Schnee auf den Zacken der Gipfel liegen. Ich wünsche mir Unsterblichkeit. Immer weiter eingesponnen zu sein in die Erscheinungen dieser Erde, zu dokumentieren, wie sie aufprallen an mir und den anderen, unsere Zeit auf dieser nicht endenden Rotation, Hand in Hand mit der dunklen Zeitlosigkeit.