Sterndeuter
In der Nacht Schnee. Am Morgen biegen sich die Zweige der Sträucher unter der Last bis zum Boden. Ich gehe zum Hof mit den Ziegen, die sich dazu bequemen etwas Gestreicheltwerden entgegen zu nehmen. Ich mag den talg-fettigen Film auf meinen Fingern hinterher. Die Wolken in der Dämmerung ziehen wie große, alte Tiere, eine gigantische Herde, einander schiebend und überholend, in die Nacht. Im Süden geht eine messerscharf geschnittene Mondsichel unter, eine Handbreit darüber Venus.
Zwei Tage liege ich mit Halsschmerzen im Bett und habe Glück oder doch genug Vitamin C konsumiert, es verläuft jedenfalls glimpflich und ist bald vorbei. Es folgt ein tauender, milder 6. Januar. Auf den Pfaden ums Feld fließt der Schnee zu Rinnsalen, Bächen und temporären Teichen zusammen; ein Delta des Auflösens und Schmelzens.
Als ich später vor dem Haus stehe, um Holz herein zu holen, ziehen gerade die Heiligen Drei Könige vorbei. Sie kommen heran, segnen mich mit verschiedenen Versen und halten dabei die ganze Zeit Blickkontakt. Alle vier Kinder schauen mich über mehrere Minuten hinweg unentwegt an. Es sind vier, ich weiß nicht warum. Eines hält den Stab mit Pappstern oben drauf, eines schwenkt das Gefäß mit Weihrauch, eines hat eingerissene Mundwinkel und eines hat sich eine interessante Frisur gemacht. Alle tragen eine Art Brokatvorhangstoff und darunter mit Kordeln zusammengehaltenes weißes Leinen. Als der Moment gekommen ist, die Buchstaben auf die Tür zu schreiben, bringe ich einen Stuhl aus der Küche, damit das Kind mit der Kreide in der Hand raufklettern und nach oben reichen kann. Das Kind sagt: Aber ich hab doch Straßenschuhe an. Das macht nichts, erwidere ich und stütze es, bis der Schriftzug an die Tür gemalt ist. Dann segne ich die Kinder zurück und wir verabschieden uns.
Darüber denke ich noch lange nach. Vier Kinder haben sich als Wahrsager und astrologische Gelehrte verkleidet, ziehen um die Häuser, schwören eine unsichtbare Macht auf mich herunter. Anstatt an der Playstation zu sitzen. Was motiviert sie an diesem Ritus? Fühlen sie eine glitzernde Halloween/Faschings-ähnliche Lust minus den Zucker? Oder befriedigt es eine kindliche Spiritualität, Teil zu sein eines Zusammenhangs, ein Partikel im aufgeladenen Raum, ein Signal, eine Sendung, die älter ist, als Eltern und Großeltern und alle Toten auf dem Friedhof? Und falls sie nichts von all dem empfinden und doch lieber zu Hause an der Playstation sitzen würden, bemerken sie dann trotzdem, dass ich und vielleicht auch andere sie empfangen, als wären sie eine Sendung, ein Brief, Mondsichel und Venus, das kosmische Zeichen, ein Kontaktangebot?