Vollmond. 21 Uhr.

Über der gesamten Länge der Hackerbrücke sitzen Jugendliche auf den genieteten Querstreben der Eisenträger, lassen ihre Beine in Richtung der Gleise hängen, Alkohol aus Plastikbechern, am Boden liegt zerbrochenes Glas, aber niemand hat es böse gemeint. Die Stimmung ist insgesamt gut, das geglückte Erklettern der Eisenstreben, der Akt des sich hinauf Schwingens und von helfenden Händen hochgezogen Werdens, hat bereits einiges an Berührung mit sich gebracht.

Brüder Karamasov

Aber was soll mir solche Rache, was soll mir die Hölle für die Peiniger, was kann die Hölle da korrigieren, wenn die Opfer schon gemartert sind?

Deine andere Form

Vor einigen Wochen bin ich umgezogen. Mitten im Lockdown. Mitten im Schneetreiben. Ich bin in eine Gegend gezogen, in der nicht viele Menschen leben. Im Winter ist es hier ab 17 Uhr finster. Wenn es schneit, ist kein Weg und keine Straße zu erkennen. Nachts trete ich vor das Haus und pflüge zu den weißen Hügeln. Nichts bewegt sich. Nichts mit menschlichem Auge Auszumachendes. Es ist zu windig, um länger auszuharren.
Dann ist es Februar. Die Wiese dampft.
Wo im Vorjahr Heu geerntet wurde, liegen nass und gebogen die gelben Halme. Dazwischen steht, direkt auf dem Feld, ohne Versteck und leuchtend weiß; ein Hermelin. Ich habe lange darauf gewartet, an einem Ort zu leben, wo so etwas existiert.

Durchhalten

Geträumt, dass ich Alexej Nawalny in einer Altbauwohnung verstecke, die ich extra zu diesem Zweck angemietet habe. Aufwendige Sicherheitsvorkehrungen (Schlüssel, Code, Klopfzeichen) werden von mir getroffen.
Dummerweise verschaffen sich ein Dutzend Feiernde aus dem Erdgeschoss Zugang zu der Wohnung. Sie finden die Idee, jemanden zu verstecken, witzig, wollen auch behilflich sein, verkennen aber den Ernst der Lage.
Als Alexej Nawalny eintrifft, überreisst er mit einem Blick die Situation und sagt: Hier kann ich nicht bleiben.

Foto: Alexej Nawalny © Simonovsky District Court/​Reuters, Zeit online, 02.02.21

(Saadi)

Alles ist schwierig, bevor es leicht wird.

Du

Lieber Lieferando-Mensch,

ich weiß nicht, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Ich nehme dich als beides wahr. Von meinem Platz in der Bibliothek sehe ich zu dir hinüber ins Geschichtsregal. Du machst deine Pause hier, nehme ich an. Der orangefarbene Rucksack zu deinen Füßen ist zusammengesackt, während du, versunken wie ich es selbst nicht sein kann, deinen Blick nicht hebst vom Buch in deinem Schoß. Du schläfst nicht. Das Seitenblättern ist hörbar, selbst als jemand einen Gang weiter verbotenerweise telefoniert. Ich kann den Titel deines Buchs nicht erkennen, weiß aber, dass es sich um den 1. Weltkrieg handelt, in den du dich vertiefst. Die Umschläge der Bücher sind mir vertraut, ich kenne alle himmelblauen, zumindest vom Sehen. Lass dich nicht stören. Auch nicht von mir. Sie sei dein Ruhekissen, diese Bibliothek, Zuflucht vor den Straßen der Stadt, und Beschreibung der Kriege, die hinter uns liegen.

Foto: blimami-bringen.com

Hier

Baustelle

Ich mache eine Verwandlung zur Baustellenbeobachterin und an Baustellen Herumsteherin durch. Kann mir vorstellen, mich demnächst zu einer Gruppe Männer zu gesellen und ihnen die Baustelle zu erklären.

Der erste Morgen

Die Kiefernwälder hinterm Strand sind ausgeräumt von Bewegung, vor zugenagelten Campinghütten liegen tausend Zapfen auf dem Sand. Ich steige die Anhöhe hinauf, gehe auf die Lichtung zu; trockener Grasbewuchs, noch mehr Sand. Zwischen den Zapfen auf dem Rücken liegend mache ich kein Foto, weil es nicht wiedergeben wird, was hier vor sich geht. Licht in den Kronen, Wärme am Boden gestaut. Es ist leise.

Das Meer - laut und lächerlich groß.
Ich bin in der Nähe eines Waldes aufgewachsen.
Der Versuch das Meer in mir unterzubringen misslingt, ich schaue immer wieder hin, verstehe es aber nicht. Ich habe kein eindeutiges Gefühl zu dieser Menge Wasser. Automatisch entferne ich mich davon und gehe zu den Kiefern.

Eine wohlgenährte Hummel lässt sich auf mir nieder, rund und pelzig.
Kiefern sind im Gegensatz zu Tannen von solcher Erhebung. Der leichte Bewuchs beginnt erst sehr hoch, im oberen Viertel des Baumes. Bis dorthin steht der rote Stamm ohne Astwerk. Lichtbahnen fallen ungestört bis runter auf mich, die ich an der Wurzel liege.

Kiefern. Es ist doch klar, dass bei solchen Bäumen andere Menschen herauskommen, als in den Tannengrüften Süddeutschlands.

Der Waldboden sinkt unter meinen Schritten ab und stellt sich hinter mir wieder auf. Hier deckt kein nasses, verschleimtes Laub die Erde unter Farnen.
Das ist ein Wald auf einem Strand.

Bei Einbruch der Dunkelheit die Diskothek Hyperdome. Keiner feiert. Ob überhaupt noch Strom fließt? Schatten vor den geschlossenen Türen. Ein leerer Parkplatz. Der Himmel kippt, Wolken schieben sich rein, Horizontfiktion.
Die Freundin und ich laufen hier herum. Es ist alles gerade so durcheinander in ihr. In mir gerade nicht. Das kann beim nächsten Mal anders sein, wenn wir uns sehen.

Am andern Tag.

Sandbänke, die Freundin, ich.
Wir sind rosa. Dann gelb. Pastellgekörntes Land. Winter, der sich zum Frühjahr wendet. Ich kann es jedes Mal kaum glauben, dass nach Kälte und Monaten der Nässe doch alles wieder gut wird, etwas kommt, dass all die große Luft um uns mit unaussprechlicher Wärme füllt. Das ist Verlässlichkeit, die kein Mensch einem anderen sein kann.
Ein Gestirn werden. 4,6 Milliarden Jahre lang jeden Tag brennen.

Am frühen Morgen rauche ich, allein, wie man hier immer ist, am Bahnhof eine dünne Zigarette. Huste. Nichts mehr gewöhnt.

Als der Hustenanfall vorbei ist und ich mich aufrichte stehe ich geblendet von Licht, das den Hang herunter auf mich zufließt - ein vom Hang auf mich herunter fließendes Licht, gelb aufgeladen in der Feuchtigkeit des Nebels, Phänomen, wie es eine Seele immer erleben will, aber fast nie erleben darf, hier passiert es einfach, es passiert wirklich, ich denke mir das nicht aus, es passiert außerhalb meiner Gedanken.

Der Zug kommt.
Nach Tagen, während derer ich in Kilometern gedacht und geschaut habe zurück in die Zudringlichkeit.

Noch nicht. Noch bin ich in der Ebene, sehe aus dem Zugfenster Füchsen und ausgewachsenen Vögeln beim morgendlichen Ablaufen ihres Reviers zu. Ein, zwei Stunden wird das so gehen, durch blasse Landschaften werde ich fahren, frühstücken, lesen, Kahnemann, und mich langsam, langsam mit jedem nächsten Halt, den schon nicht mehr in großer Distanz liegenden Orten annähern, den zusteigenden Jacken, Mündern und Geräten, den Menschen, die reinpendeln, die davon reden, vom Pendeln, und deren Aussagen ich so gern noch drei Monate missen möchte.

Mir fällt ein, wie zutreffend die Freundin gestern auf dem Rückweg von der verlassenen Diskothek von Cliffhängerfrauen gesprochen hat, Frauen Ende Dreißig, die sich noch mit einer Hand am Fels der potentiell möglichen Mutterschaft halten, und wie kurz darauf sehr schnell alle Entwürfe auf die finale Option der Lebensfortführung zusammen schnellen. Und das bleibt dann so.