Es gibt ein spezifisches Herr der Ringe Wetter und eine spezifische Herr der Ringe Jahreszeit.
Während dieser Jahreszeit muss ich häufig über die einzelnen Figuren der Tolkienwelt nachdenken, nachlesen, was sie genau gesagt haben und wie ihre Entwicklung verlief.
Wenn ich während dieser Zeit mit Freunden wandern gehe, verstricke ich alle in ein mehrstündiges Abwägen darüber, wer von uns Aragorn, Gandalf, Frodo, Eowyn, Gimli usw. ähnelt, was das für unser weiteres Leben bedeuten könnte, welche Leiden vor uns liegen, welche Wendungen und Aufgaben.
In dieser Zeit kann ich dann auch meist 3-4 Sätze Elbisch sprechen und eines der Waldelbenlieder singen, ich kenne die Zweit- Dritt- und Viertnamen der wichtigsten Beteiligten und weiß was ihre Vorfahren im Second Age getan haben.
Der Herr der Ringe hat viel zu bieten, aber eindeutig zu wenig unterschiedliche Frauen, zu wenig nichtweiße Figuren und keinen einzigen Ork, der nach reiflicher Reflexion die Seiten wechselt. Und natürlich das Hauptproblem: die eindeutigen Seiten. Insgesamt ist der Herr der Ringe so wenig gesellschaftskritisch, so furchtbar hierarchisch, pathetisch und fixiert auf Geburtsrechte, dass es einem immer wieder den Magen umdreht.
Es reicht dann als Märchen, Seelenreise und Geschichte menschlicher Pfade aber doch weit genug, um mich seit zwanzig Jahren zu trösten, wenn Freundschaften eine schwierige Kurve nehmen oder ich mich mit mir selber im Unbekannten wiederfinde. Ich habe sie immer vor Augen - die Neun. Und die anderen darum herum. Ihre Waffen, Schwächen, Talente und Verluste. Und die Verbindungen, die sie eingehen, ohne zu wissen, was daraus wird.
Samstagabend tanzen gegangen, vier Stunden, ohne Alkohol, ohne Drogen, ohne Reden, in einem Raum mit 170 Menschen, die wegen dem Tanzen kommen und Lust auf diese Einschränkung haben. Ich interessiere mich für meine Nüchternheit. Ich kann nüchternen Gefühlen etwas abgewinnen; meine Unsicherheit am Anfang, meine Angst vor Ablehnung, meine Angst vor Zuwendung, meine Aufgeregtheit vor jeder körperlichen Begegnung, selbst wenn sie berührungslos verläuft. Wenn ich an meiner Seite bleibe, mich nicht betäube, nicht ablenke, verwandeln sich die schwierigen Gefühle. Ich habe diese Erfahrung oft gemacht, ich weiß, dass sie sie eintritt. Ich weiß, der Rausch kommt. Ich bin der Rausch, der Rausch bin ich.
Nach dem Tanzen esse ich ein Snickers, trinke Wasser und steige in die S-Bahn. Es ist Mitternacht und ab jetzt alles gleichzeitig: Wiesn, Messe, Security, von Regen und Zuckerwatte heruntergewirtschaftete Kinder mit abwesenden Augen zwischen sturzbetrunkenen Erwachsenen in teuren Trachten und Jugendlichen in Brathendlkostümen. Eine Weile höre ich minderjährigen Engländerinnen dabei zu, wie sie rekapitulieren, wer wen wann auf welcher Bierbank angefasst hat, dann schweift mein Blick zu einem Mädchen, das einen Bund Radieschen aus ihrer Rocktasche zieht und mitfahrenden Männern zur Verköstigung anbietet. Die Männer essen die Radieschen und lachen. Ungefähr da merke ich, dass etwas nicht stimmt.
Ich bin schon oft in Ohnmacht gefallen. Es fängt mit Hitze an. Ungewöhnliche Hitze. Ab da habe ich noch circa 2 Minuten, um die richtige Entscheidung zu treffen. Die richtige Entscheidung ist immer, mich an Ort und Stelle hinzulegen, die Füße gegen die Wand zu lehnen und jemanden zu bitten, kurz mal auf mich aufzupassen. Leider aber lässt die Fähigkeit, rational zu handeln, sofort nach Auftreten der Hitze, rapide nach. Ich habe mich daher nicht auf den Boden sinken lassen und nicht die Beine hochgelegt, sondern eine Gruppe schwer lallendender junger Erwachsener angesteuert, um mich einen Moment auf dem freien Sitz neben denen auszuruhen.
3 Stationen später haben mich diese jungen Menschen aus der S-Bahn gezogen, ihre Strickjacken unter meinen Rücken geschoben und den Notartz gerufen, was nicht nötig gewesen wäre, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr erklären. Was ich trotz partieller Abwesenheit registrierte war, dass ein sehr liebevolles, besoffenes Mädchen namens Anna auf dem Asphalt saß, meinen Kopf hielt und dabei ihren schweren kühlen Busen auf meiner Stirn ablegte, dass jemand wiederholt versuchte, mich in die stabile Seitenlage zu drehen, während ein Mann namens Tobi sagte, er sei Ersthelfer in seinem Büro und die stabile Seitenlage sei falsch, dass darauf Anna mein Handy aus meinem Rucksack kramte und mehrmals: PIN, was ist deine PIN, rief, um dann die Bezugsperson anzurufen, die ich ihr nannte, um dann mit dieser auf sehr süße betrunkene Weise Denglisch zu sprechen, obwohl meine Bezugsperson einwandfrei Deutsch antwortete, wie sie das immer tut und immer getan hat.
Der Notarzt kam und meine Bezugsperson kam und die Nachbarfreundin kam und alle Werte waren okay und nichts Schlimmes passiert und Anna und Tobi und noch ein Anderer winkten und torkelten weiter und alles wurde gut und nächste Woche kaufe ich einen Tragerl Bier und bring das meinen Rettern vorbei, weil die Nachbarfreundin die kennt und weiß wo die wohnen.
Und so ist das. Manchmal gibt man viel Liebe und manchmal empfängt man viel Liebe. Und während 170 Leute nüchtern nach Hause gehen, wanken Hunderttausende ohne Impulskontrolle durch die Stadt. Und alle begegnen sich und keiner weiß, was an diesem Abend noch passiert.
Zwischendurch beansprucht eine Schreibaufgabe meine Aufmerksamkeit. Jetzt passt das schlechte Wetter wieder, denn ich muss mehrere Stunden Nachdenken und Notieren im Wechsel, was bei Sonnenschein eine Qual ist und nervt und nicht geht.
Am Montag auf einen sehr beliebten Berg gegangen, Apfelschorle getrunken und wieder runter getrabt. Kurz vorm Gipfel das für mich neue Phänomen; der Fels von hunderttausenden Händen, die sich daran raufgezogen haben, abgerundet und speckig. Wie Heiligenstatuen an Pilgerstätten.
Zurück im Garten pflanze ich Weiden und antizipiere das Geräusch, das ihre Blätter im Wind machen werden in 3-4 Jahren.
Im Bauernhaus nebenan ist ein Mann ausgezogen, den ich für so was wie den Hoferben und eine Instanz im Dorf hielt und der mir noch vor meinem Einzug über den Zaun seinen Namen zurief und sagte: Wenn du mal eine Motorsäge brauchst, sag Bescheid.
Es stellt sich heraus, dass er weder Hoferbe noch Instanz war, was eine Art kleine Erschütterung in dem eng gehäkelten Gefüge meines Bildes von dieser Nachbarschaft ist, die nicht so eng gehäkelt ist, wie ich das manchmal fantasiere.
Was aber genauso idealisiert ablief wie erwartet, war die Versorgung und Aufpäppelung der älteren Dame mit Oberschenkelhalsbruch, wohnhaft in dem gleichen Bauernhaus nebenan. Wochenlang rückten Verwandte, Bekannte und scheinbar von der Kirche abgestellte Helfer mit Fresskörben, Getränkekisten und Medikamenten ein, kochten, putzten, plauderten und rauchten anschließend eine Zigarette auf dem Balkon der Dame. Sie kann jetzt wieder gehen.
Derweil gibt es für mich bei weiter prognostiziertem Starkregen und Dauerregen keine Ausrede mehr, nicht mit dem Lernen anzufangen. Der Sommer kommt nicht zurück, auch wenn ich bockig die Tasche mit den Büchern ignoriere. Ich weiß, es wird mir wieder Spaß machen, sobald ich die erste Seite im Kopf habe, doch der von Mai bis August angemästete Schlendrian deutet auf die Wetterapp und sagt: Morgen, 12 Grad, trocken bis heiter, da könnte man doch noch mal baden gehen.
Mit dem zur Seite kippenden Wetter komme ich schlechter zurecht, als erhofft. Ich bin noch nicht bereit für den Rückzug in Räume, zweifel aber auch an meiner Robustheit, d.h. der Fähigkeit bei weiter fallenden Temperaturen länger als 1-2 Stunden täglich draußen zu sein. Es gibt hier noch echte Winter, echte Kälte, Schnee schippen, Schneeverwehungen, wochenlang vereiste Straßen. Ich darf mich nicht reinsteigern.
In der Institution sind zwei Paletten fremdsprachiger Bücher eingetroffen. Am Dienstag sind die Bulgarischen über meinen Schreibtisch gewandert, Französisch und Türkisch folgten. Seit dem Frühjahr sitzt gelegentlich eine französische Kollegin im Büro. Ich mag ihr Seufzen und Lächeln, wenn sie die Stapel auf meinem Tisch entdeckt und in ihre eigene Sprache hineinblättert.
Mit Freunden an dem einen schrecklich aufgemotzten und uferverbauten See vorbei gefahren, um in das dahinter liegende abseitige Tal zu gelangen, wo eine kleine Bergkette mit teilverwilderten Aufstiegen zu einer unauffälligen Anhöhe führt. Dort im Gras gesessen. Geredet. Später Wasserschlacht.
Wertstoffhof. Ähnlich irrealer Moment wie beim ersten Einkauf in den Supermarktfilialen hier. Vor allem die Leere, Weite, die Neutralgelauntheit und Kontaktfreudigkeit des Personals. Es ist eine Umkehrung meiner Erfahrung mit öffentlichem Raum der letzten 10 Jahre in München. Niemand schreit, dreht durch oder beschallt einen mit politischer Gesinnung und schlechter Musik.
Daneben die Frage: Wo sind die psychisch Kranken hier? Wo sind die Instabilen, Gefährdeten, zu Grunde Gerichteten? Gibt es insgesamt weniger Gebrochenheit in dieser Gegend? Ist sie anders gedeckelt oder besser aufgefangen? Ist alles mehr heil? Drehen die Menschen in Großstädten nur ständig durch, weil sie zusätzlich zur individuellen Belastung auch konstant reizüberflutet werden?
Zumindest ich werde normaler in diesem Umfeld. Es ist noch nicht lange her, dass ich 1-2 Nächte pro Woche gar nicht oder kaum schlief. Wach lag bis 4 oder 5 Uhr, total übersteuert. Aufgescheuert bis an den Rand der Aufnahmefähigkeit, trotz Atemübung, Yoga und dem ganzen anderen Kram. Ich war überzeugt, ich kann besser werden, ich kann mich optimieren, die Nachbarn ausblenden, den Verkehr ausblenden, die Hubschrauber, Straßenfeste, die Geschwindigkeit und Baustellen. Ich wollte so gern stadtfähig bleiben.
Was hätte ich gemacht ohne meine relative finanzielle Stabilität, meine Hautfarbe und kulturelle Angepasstheit, die es mir erlauben, einen Gebrauchtwagen und Gartenmöbel anzuschaffen und mit offenen Armen von konservativen Vermietern zur Besichtigung ihrer kleinen renovierten Landhauswohnug eingeladen zu werden? Ich hätte die Nerven verloren. Wie die Kinder meiner Nachbarn in der damaligen Stadtwohnung, die jeden Tag stundenlang brüllten. Jeden Tag. Jeden Tag. 5 Jahre am Stück.
Je länger ich hier bin, desto lebendiger werde ich. Ich habe sogar wieder Lust auf Lautstärke. Ich tanze bei sich bietender Gelegenheit, ich drehe die Musik lauter, wen sie ohnehin schon laut ist, ich gehe vermeidbare Konflikte ein, provoziere Wasserschlachten, halse mir komplexe Aufgaben auf und will rangeln. Manchmal sage ich es mir, vor dem Einschlafen im Bett, immer noch etwas ungläubig: I’m back to my old self.
Alle paar Jahre sagt Brad Pitt etwas, das mich nachhaltig prägt. Oder aufklärt über einen Sachverhalt, den ich bis dahin nicht dingfest machen konnte.
Vor Kurzem hat er zum Beispiel auf die Frage, warum er jetzt immer Leinenanzüge in ungewöhnlichen Farben trage, geantwortet, dass wir ohnehin alle sterben und es daher egal ist, was wir anziehen oder ob wir überhaupt etwas anziehen. Was ja eigentlich eine eher plumpe Betrachtung kollektiver Vergänglichkeit und unserem Verhältnis zur Mode ist. Ich weiß auch nicht, ob mir die Antwort gefallen würde, hätte sie jemand anderes geäußert.
Seit diesem Sommer gehe ich häufig in einem langen wehenden Rock spazieren. Es ist ein auffälliger Rock. Man kann ihn nicht nicht bemerken. Er fühlt sich gut an. Ich mag die Bewegung im Stoff und wie er fällt. Ich hätte ihn bis vor wenigen Wochen nicht tragen können, ohne mich zu winden unter dem Gefühl, eine lächerliche Schablone in einem lächerlichen Landlustkostüm in einem absurd idyllischen Abschnitt meines Lebens zu sein.
Aber jetzt denke ich: gönn dir.
Das hat Brad Pitt in mir bewirkt.
Ich wohne in einer Gegend, in der Kinder alleine draußen spielen. Auf dem Feld und im Wald, auch wenn sie erst sechs oder sieben Jahre alt sind. In den Bollerwagen, die sie hinter sich herziehen, sitzen ihre Kaninchen, Katzen und Lämmer und werden mit Gras und Salzstangen gefüttert. Diese Kinder nun haben mich und meinen Rock bemerkt. Sie sind fasziniert davon, sie schauen mich an und schauen mir nach. Ihre Irritation ist offensichtlich, sie wissen nicht, was ich bin und was sie mit mir anfangen sollen, suchen aber Gründe, mit mir ins Gespräch zu kommen. Manche trauen sich nicht her, können aber auch nicht anders, als von ihren Bollerwagen herüberzurufen: So ein schöner Rock!
Ein anderes Mal wurde Brad Pitt zu seiner Vergangenheit in einer amerikanischen Kirche befragt. Was er von den Phänomenen halte, die dort den Gottesdienstbesuchern widerfuhren; das Lachen, Zittern, Weinen, die Spontanheilungen und Enthemmung. Ob er diese Erfahrungen im Rückblick für Gruppentherapie halte, für körpereigene Drogenräusche, schamanische Reisen oder als das tatsächliche Handeln einer übergeordneten Gottheit. Brad Pitt sagte, er könne auch heute nicht beurteilen, was die Menschen da erlebt hatten, …I mean the people, I know they believe it. I know they’re releasing something. God, we’re complicated. We’re complicated creatures.
Heute war ich allein im Büro. Alle anderen im Homeoffice. Der Umzugstermin steht: 14. November. Ich werde diese Wände so vermissen! Der Raufaserteppich, das Waschbecken neben dem Schreibtisch, die braunen Türen, diese ganze 70‘er Jahre Gebäudedunkelheit. Ich fürchte, wenn wir zurückkommen, nach der Sanierung, wird hier alles clean und lichtdurchflutet sein.
Mittagsonne, Abendsonne, grell, gelb, mild. Der träge Wind. Das kühle Wasser. Wie es seine Kälte behält und gespeist wird von kalten Orten; weit, aber nicht sehr weit von hier. Ich liege an diesem Wasser, immer wieder. Betrachte die Weiden am Ufer, die Steine im Kiesbett, zehntausend, hunderttausend Steine. Während ich nichts tue, nichts lese, nichts lerne, nichts spreche findet eine Verwandlungen statt. Ich kann ihr noch keinen Namen geben. Ich bin nicht im Kopf und kann mich sprachlich nur schwer verständigen.
Ich bleibe wach, während dieser Umbau stattfindet. Er war überfällig. Ich habe ihn zu lange aufgehalten. Ich weiß nicht, was ist, wenn er vorbei ist. Wie ich dann bin. Als was ich rauskomme.
Parallel dazu bricht einiges auf und durch. Manchmal blättere ich in ein Buch rein, finde aber keinen Zugang, alle meine Zugänge sind belegt von mir selber. Ich bin das einzige Buch, für das aktuell Platz ist.
Erstaunlich verlässlich zeigt sich daneben die Arbeit. Am Tag meiner Rückkehr in die Institution gibt es ein kleines Welcome back Onlinemeeting für mich, bei dem wir uns freundlich, introvertiert und etwas betreten (so wie wir durch die Bank alle sind) anlächeln, um dann möglichst bald zurückzukehren in unsere Dateien.
Ich bin so gottfroh über meine unaufdringlichen, schüchternen Kollegen.
Wir gehen bei Regen in die Berge. Es tropft vom Blätterdach und von unseren Haaren, es läuft in die Schuhe und den Rücken runter. Am Wasserfall sind wir kurz unschlüssig, bevor einleuchtet, dass es jetzt um Hingabe geht. Wir ziehen uns aus und springen rein, der Endorphinausstoß folgt auf den Fuß, wie gut das alles eingerichtet ist. Es braucht diese verregneten Wanderungen, man muss sie manchmal machen, im Juli oder im August; sich einmal mittendrin befinden, aufweichen, aufquellen, keine Kontrolle haben, kein gutes Wetter.
Und dann wird es doch sonnig. Es wird heiß und dampft, der Wald kippt ins Tropische, schwarze Salamander und Blindschleichen kommen raus, alles perlt und trocknet in dieser abartigen Wärme, die nichts verlangt und nur gibt.
Wir sitzen und liegen lange auf den Steinen um die Gumpen herum, es werden Tankstellensemmeln gegessen und ein aus Schwäbisch Hall importierter Dialekt verhandlungssicher einstudiert. Jemand glaubt einen Aal zu sehen, aber dann ist es doch nur eine Forelle, es werden wieder Zecken aus den Beinen gezogen, Baumstämme am Wasser entlang geschleppt und Steine den Hang hinunter geschmissen, was man in den Bergen nicht machen soll und darf.
Ein Kind, das immer mit den Männern vorneweg läuft, verkündet: Vorne die Coolen, hinten die Schwulen. Worauf einer der Männer an seiner Seite erwidert, dass nichts dabei ist, schwul zu sein. Worauf das Kind eine halbe Stunde überlegt und dann sagt: Wir sind die Coolen und die Schwulen.
Es ist ein guter Tag. Es fließt an diesem Tag.
Man kann den Fluss nicht anschieben. Man kann ihn aber auch nicht aufhalten. [Zitat Gottlieb und viele andere Meister]
Ich liebe dieses Kind und schaue ihm zu, wie es zwischen den Erwachsenen hin und her pendelt. Das ist meine Gabe an diese Erde. Dass ich lieben kann, was mir nicht gehört. Und dass ich mitkriege, was passiert.
Der Mond heute ist eine weißgraue Marmorscheibe. Ich stehe unter ihm und will seine Herkunft in mich hineinschlürfen.
Im letzten Winter habe ich die fiktionale Nasa-Serie “For all mankind” gesehen. Die zweite Staffel ist draußen, aber ich spare sie auf für die kalte Jahreszeit. Ich kann nicht drinnen sein und den Mond auf meinem Laptop anschauen, während er in echt draußen hängt und es Sommer ist und alles schreit und krümmt sich: Ja
Die blauviolette Bergkette unter der Marmorscheibe. Das gemähte Heu, liegen gelassen zum Trocknen.
Am Montag bekomme ich Bescheid, dass bereits Ende der Woche mein ‘Ukraineeinsatz’ in der Behörde beendet ist. Es geht alles sehr schnell. Danke, Blumen, eine Runde, um mich zu verabschieden von diesem Haus der eAkten und Geflohenen. Ich gehe zurück in meine Institution.
Der kranke Freund ist jetzt in Lebensgefahr. Ich laufe über die Felder und winde mich unter der Machtlosigkeit, nichts tun zu können. In meinen Knochen steckt ein robuster Größenwahn, der anspringt, wenn sich Gelegenheit bietet. Ich bin überzeugt, wenn ich mich anstrenge, finde ich einen Weg, ich finde ein Wort, eine Tat, einen Satz und der Freund wird bleiben und nicht so früh gehen.
Er nüchtert aus, dieser mein Größenwahn, seit ein paar Jahren nüchtert er aus. Er ist nur noch ein halbstarker Wahn – aber er ist noch da und kämpft.
Ich glaube, dass wir Menschen uns gegenseitig retten können. Aber nicht jeder jeden. Und nicht oft. Und nicht umfassend. Vielleicht können wir punktuell einen anderen retten. An einer Stelle auf seinem Zeitstrang.
Eine Freundin war im Kloster und hat dieses Bild gemacht. Ich sehe sie sitzen in dieser Kammer vor einer Kammer. Und möglicherweise ist hinter ihr noch eine Kammer und sie musste viele durchschreiten, um fast bis ins Innerste vorzudringen. Dann denke ich an Jesus, wie er seinen bevorstehenden Tod ahnt und sagt, er wird drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.
Immer will ich sie vermeiden, meine Ohnmacht. Trotzdem wird sie es sein, die mich in meine innerste Kammer führt.
Und daneben Sommer. Ein Kofferraum voll Melonen. Grashüpfer in der hohlen Hand fangen. Nichts lesen oder lernen, weil zu jeder Tageszeit die Sinne in die Natur hinein aufgespannt sind und auch nachts beim kurz Wachwerden und Umdrehen in den Laken die Vogellaute und der Wind mich wecken, wecken, wecken, rufen.
Man kann betrunken werden von diesen Nächten. Von der Frequenz, auf der die Grillen zirpen, der Üppigkeit, mit der alles wächst, sich ineinander verschlingt und verrankt. Daneben bin ich auch betrunken von der georgischen Musik, von den cineastischen Bildern Levan Akins und der Art, wie meine Großmutter den Namen der Hauptstadt aussprach, manchmal Tiflis und manchmal Tbilissi sagte: Ja, in Tbilissi haben wir gewohnt, eine Weile.
Warum sie da gewohnt haben, wie lang, freiwillig, unfreiwillig - das ist nicht mehr einfach zu klären. Es war ein solches Durcheinander.
2019 waren auf einmal alle möglichen Freunde und Bekannte in Georgien. Alle sagten: Fahr hin. Es ist großartig.
Ich bin nicht gefahren, ich war beschäftigt. Es war kompliziert zu der Zeit und ich wollte keine weiteren Kompliziertheiten: Patriachat, Berge, Klöster, Homophobie, hineinzugeraten in Landschaften, an denen emotional zu viel dran hängt.
2011 hatte ich eine georgische Kollegin, die über Kafka schrieb. Sie lernte, noch in Georgien, Deutsch, um ihn im Original lesen zu können. Irgendwann reichte das nicht mehr und sie wanderte aus, um in seiner Sprache über ihn schreiben zu können. Ich konnte das nachvollziehen; sich in eine Kunstform so zu verlieben, dass man am Ende das Land wechseln muss.
2004 wurde ich von einem kanadischen Lehrer unterrichtet, der hatte sich in das japanische Theater verliebt. Er musste alles verkaufen, seine Karriere aufgeben, hinfliegen und in den Bergen eine Kampftechnik lernen, die Grundlage der Theaterform war und ohne deren Beherrschung man gar nicht erst aufkreuzen brauchte. Zwei Jahre lang wurde er von dem Meister der Kampftechnik keines Blickes gewürdigt und erst kurz vor Schluss mit einem stillen Nicken als äußerstes Zeichen des Lobes weitergeschickt. Mein Lehrer hat dann tatsächlich an japanischen Bühnen gespielt. Er hat auch eine Japanerin geheiratet und mit ihr und seinen japanischen Schwiegereltern in einem traditionellen Haus gelebt. Es hat nicht glücklich geendet.
Ein ungutes Gefühl verdichtet sich. Gleich am Morgen habe ich den Eindruck, es an der Peripherie wahrzunehmen. Eine Stunde Aufräumen schafft Ablenkung. Doch das Gefühl scheint mich in enger werdenden Zirkeln einzukreisen. Ich weiß, dass es um eine diffuse Angst geht, kann sie aber wegen mangelnder Bereitschaft, mich ihr gegenüberzustellen, nicht genau erkennen. Der Versuch einigermaßen sinnvolle Handlungen an diesem Vormittag auszuüben scheitert. Ich ziehe die Schuhe an und laufe ziemlich zackig über die Felder. Erst als die gröbste Spannung rausmarschiert ist, kann ich stehen bleiben und mich umdrehen. Ich sage: Okay, komm.
Die Angst ist sofort da und redebereit. Wir unterhalten uns eine Weile. Dann schauen wir uns an, ohne Worte. Den Rest des Weges fühle ich sie an meiner Seite, ihr Gesicht gleicht meinem. Ich kann im Nachhinein nicht verstehen, warum ich sie ignorieren wollte.
Es ist so viel einfacher, sich vernünftig zu ernähren, wenn man Urlaub hat. Abends Kraft und Zeit übrig haben, einen Salat zu waschen oder Gemüse zu kochen. Das Wasser auffangen und damit die Blumen gießen. Was für ein Krampf es im Gegenzug ist, während einer normalen Arbeitswoche wenigstens nur jeden zweiten Tag convenience food herzunehmen. Aber man muss Prioritäten setzen und ich kann nicht auf alles gleich viel Wert legen.
Laut des Kamelführers, der uns vor einigen Jahren über seinen Hof führte, vertragen die Tiere den Winter sehr gut. Sie sind aktiver, spielfreudig und rennen absichtlich in Schneehaufen rein. Ich habe jetzt schon eine Weile keine Kamele mehr gesehen. Vielleicht wird es wieder Zeit für eine Wanderung an der Mangfall.
Noch ein Urlaubs-Special. Vormittags ins Gartencenter gehen. Den Wagen mal so richtig langsam den Gang entlang schieben. Bei jeder Malve ungebührlich lang überlegen, Handy rausholen, recherchieren, ob die wirklich winterfest ist usw. Danach keinen Termin mehr an dem Tag.
Die Fortbildung endet. Wir feiern den Abschluss, essen Paella, forsten durch die letzten Theorie- und Praxisblöcke. Ein Teilnehmer, der mir vor 2 Jahren vor versammelter Mannschaft einen schweren Vorwurf gemacht hat, nimmt alles zurück. Dass er dazu in der Lage, ist schon toll. Noch besser, dass er dafür 2 Jahre brauchte. Ich hatte reichlich Gelegenheit zu ergründen, was an den Vorwürfen dran ist, während er zögerlich Vertrauen zu mir fasste. Ich habe aufgrund der Kollision mit ihm etwas überdacht und geändert, was ich vorher für absolut richtig hielt. Daneben habe ich etwas beibehalten, was weiterhin Sinn macht und einschließt, manche Menschen punktuell gegen mich aufzubringen. In den letzten Modulen saßen wir abends ganz einträchtig bei einem Glas Wein zusammen. Weder ich noch er konnten diese Entwicklung beschleunigen. Es hat 2 Jahre gebraucht.
Langsamer, sagst du, wie immer.
Sei langsam.
[H. Domin]
Dann habe ich Urlaub, schiebe alles Anstehende auf die lange Bank und fahre zu den Kiesufern. Dort bin ich allein, lege mich ins Wasser und halte mich mit den Händen an Steinen im Flussbett fest. Die Strömung hebt meinen Körper. Ich verharre eine Weile in der Spannung zwischen Halten und Gezogen werden. Bevor ich mich wegtragen lasse.
Ich darf zwei Kolleginnen jeweils 30 Minuten beim Arbeiten zusehen. Beide stehen während diesen 30 Minuten. Beide sind aufgeregt. Beide müssen eine konfliktreiche Situation aufnehmen, verarbeiten, lenken und zu einem tragbaren Ergebnis führen. Die erste Kollegin steht konstant leicht nach vorn gebeugt, also mit dem Gewicht auf den Zehen. Sie wirkt unter Zugzwang. Hilfsbereit auf nicht immer hilfreiche Weise, obwohl sie insgesamt eine kompetente Person ist, die viel drauf hat.
Die zweite Kollegin steht auf dem ganzen Fuß; zentriert. Sie trifft eindeutig bessere Entscheidungen. Sie lässt sich Zeit, zu fühlen was passiert. Sie kommt zu präzisen Beobachtungen. In ihrem Beisein scheint sich der Raum auszudehen und mehr Optionen zu beinhalten, als vorher.
Mein Körper ist eine Ausgangssituation. Er determiniert und begrenzt mich. Er ist auch die Manifestation meiner inneren Haltung und Zustände. Und die Möglichkeit, meine innere Haltung von außen zu kitzeln. Sie neugierig zu machen auf eine neue Erfahrung.
Im Garten läuft es so mittelmäßig. Der dreißig Jahre alte Apfelbaum ist morsch und produziert schlecht schmeckende Äpfel. Die Äpfel fallen unreif auf die Erde oder verfaulen noch am Zweig. Die Schnecken kommen zu Hunderten und ernähren sich und ihre Nachkommen, besaufen sich am Vergorenen und zeugen noch mehr Nachkommen. Der Baum muss weg. Ich will aber kein Mensch sein, der Bäume fällt, nur weil sie mir nicht passen. Ich fürchte auch ein wenig, welches Licht das in der Nachbarschaft auf mich wirft. Im Sinne von: kommt hier her, übernimmt den Garten der verstorbenen Frau und haut sofort die schönen Bäume um.
Ich will einen anderen Baum. Einen Tulpenbaum oder eine Weide oder den Baum mit diesen Blättern, dessen Namen ich vergessen habe.
Wir sitzen auf einem Berg und schauen zu. Ein paar Meter entfernt stehen die Kühe und schauen zu. Dahinter die Gämse, Ameisenhaufen und Alpensalamander - alle schauen ihm zu. Er kann Kung Fu.
Es ist der Tag, an dem ein Freund uns an seinem 7 Jahre währenden Kung Fu Training in Form einer kleinen Kampfeinlage vor Bergpanorama teilhaben lässt.
Es ist der Tag, an dem 2/5 der Gruppe nackt in die Gumpe springen, Gedichtfragmente aufgesagt werden und 40 Zecken an einem einzigen Mann hängen. Der Tag des Kreislaufs, der flüssigen Schokoladenkekse und nachgeholten Erzählungen. Es ist vor allem der Tag des Zurückschauens auf den elendlangen Weg hin zu dieser heute okayen Körperlichkeit. Sich einigermaßen eingerichtet, vielleicht sogar mal kurz Zuneigung gefühlt zu haben für diese Gefährtin, die überall dabei war und alles bezeugt.
Ich muss, eigentlich immer, wenn ich eine demenzkranke Person treffe, daran denken, wie das Gehirn dieser Person jetzt nicht mehr weiß, was war. Ihr Körper aber schon. Und wie auch ich, als kognitiv noch intakte Person, nicht mehr weiß, was vor meinem 3. Lebensjahr war. Mein Körper aber schon.
Wie mein Körper alles fühlte und nicht abhauen und sich nicht rausfantasieren konnte. Wie er alle Emotionen ausgetragen hat und dies weiterhin tut und abbildet.
Wir sind erst spät zu Hause an dem Abend. Es reicht nur noch für Rucksack leeren und Licht ausmachen. Die Kühe, die Ameisen und Alpensalamander - sie werden noch bis tief in die Nacht von ihm reden. Martial Arts, werden sie sagen, once in a lifetime.
Einmal im Jahr wird hier für die Pferde gebetet. Dazu werden ihnen Frisuren geflochten, Bänder und Rosen in die Mähne gesteckt, die Schweife gekämmt, das Geschirr mit Schellen behängt. Manche der Pferde ziehen Holzwagen, die einzig zu diesem Zweck seit Jahrzehnten gewartet, gestrichen, lackiert und am Morgen der Segnung mit Blumenbouquets gekrönt werden. Der Maximalismus, mit dem in dieser Gegend die Mensch-Tier-Beziehung (oder Mensch-ehemaliges-Arbeitsgerät-Beziehung) gefeiert wird: ich bin sehr angetan.
Ich war nie ein Pferdemädchen, kann mir aber vorstellen, wie erhebend es für 15-Jährige ist, auf einem großen schwarzen Wallach zur Kapelle zu reiten und dabei von allen gesehen zu werden. Die Mädchen an diesem Tag. Sie sind noch stärker als die Pferde.
Auf den Bänken vorm Haus sitzen die Alten, daneben Eltern mit Kindern, fast alle in Tracht. Jugendliche springen auf die Trittbretter der Wagen, führen Ponys an der Leine oder lenken Kutschen. Die Sonne kracht vom blauen Himmel herunter, es liegen Frechheit, Stolz und Kulturgläubigkeit in der Luft, wie ich sie, so entschlossen zelebriert, nur aus Bayern kenne.
Als der Umzug vorüber ist fahren wir zum Fluss. Er sieht harmlos aus an dieser Stelle. Das täuscht. Die Strömung in der Mitte ist reissend, ich kann nicht gegen die Fließrichtung anschwimmen. Zwei Bachstelzen hüpfen am Ufer herum. Können Steine in der Sonne bleichen? Sie wirken wie Wäsche, die ihre Farbe verloren hat.
Im Kiesbett liegend denke ich an das Wenglein-Gemälde Kalksteinsammlerinnen im Isarbett…
In unserem Rücken bewegen sich Weiden, ein weißer Schmetterling von der Größe meiner Hand landet auf der Schafgarbe. Ich weiß nicht wie ich das sagen soll: Es ist, als hätte ich mir dieses Leben vor langer Zeit ausgedacht. Und als sei ich dann da hineingegangen.
Und daneben die Gewissheit: Ich habe mir den Zustand, in dem ich jetzt bin, diese Gefühlslage, diese Beziehungen, diesen Ort weder nur erarbeitet, noch nur Glück gehabt. Wenn ich es beziffern wollte und das will ich manchmal, würde ich meinen Beitrag daran auf etwa 10 Prozent festlegen. Den ganzen Rest haben andere geleistet, erarbeitet, mir geschenkt, mir überlassen, auch ohne mich zu meinen. Es ist eine solche Legierung, in der man lebt. Eine Legierung aus wirklich allem.
Auch merke ich hier: Ich bin so viel Gutes nicht gewohnt. Dass meine Sinne fast konstant offen bleiben können und ich mich nicht mehr oft verschließen muss. Dass es genug Raum und Schönheit gibt. Erreichbar für mich.
Wir gehen zu einem See, der nicht mehr lange ein See sein wird, denn sein Boden wächst der Wasseroberfläche entgegen. Tief und klar genug zum Baden ist der See aber noch, das scheinen die alten Frauen des angrenzenden Dorfes genau zu wissen. Mit hundertjährigem Katholizismus und Gicht in den Gelenken und nichts als ihrem Badeanzug am Leib wackeln sie die Dorfstraße entlang zum Wasser.
Wir liegen an einem Steg und hören zu. Was die erwähnte Generation ja sehr gern macht ist schwimmen und gleichzeitig reden. So auch hier die badenden Damen. Sie redem vom Hans, der einen Schlaganfall hatte und jetzt halb tot ist. Von der letzten Beerdigung, die irgendjemand nicht angemessen ausgerichtet hat, was eine Schande ist. Von dem anderen Hans, der eine Affäre im Nachbardorf hatte, aus der ein Kind hervorgegangen ist und das Kind ist jetzt eine erwachsene Frau und macht irgendwas.
Dann sind die beiden genug geschwommen und steigen aus dem Wasser. Tropfnass wackeln sie zu ihren Häusern zurück. Ohne Handtuch. So heiß ist es heute.
Am See ist es jetzt still, wir liegen auf den morschen Stegbrettern, das Schilf rauscht im sachten Wind. Nach einer Weile packen wir zusammen und fahren zum Fluss. Am Fluss weht mehr Wind, das Wasser ist kälter und genau richtig, eine kleine schwarze Schlange schwimmt vorbei, die Kiefern am sandigen Ufer riechen nach Kiefer. Sonst fällt nichts vor. Die Schlange und eine kurze Aufregung darum ist alles, was der Tag an Adrenalin zu bieten hat.
Am Abend komme ich im Kapitel ‘Organische psychische Störungen/Demenzen/Alzheimer’ an. Die Reisberg-Skala, der graduelle Abbau kognitiver Fähigkeiten, die Wesensveränderungen, und warum frühe Symptome einer Demenz häufig mit Depression und Affektstörung verwechselt werden. Mir wird klarer, warum neulich die Ärzte zu einer Freundin sagten, sie wissen noch nicht, ob die Mutter der Freundin Demenz oder Depressionen oder einen Schlaganfall oder einen Hirntumor hat. Im Moment sei alles möglich.
Die Tendenz der letzten Jahre, sich mit Bienen und Imkerei zu befassen, Maja Lunde zu lesen und Insektenhotels zurecht zu sägen ist an mir vorbeigegangen. Daher erkenne ich erst jetzt, im Angesicht des Lavendels, dass es einige Dutzend (?) verschiedene Bienenarten in dieser Gegend geben muss. Es landen pelzige und wenig behaarte, schlanke und beleibte Tiere, manche fliegen taumelnd, andere orientiert, es gibt gute Kletterer neben Verwandten, die ständig von lila Skabiosablüten herunter stürzen.
Nachts sind die Fenster weit geöffnet. Es riecht nach Heu. Der Mond geht auf, ich will wach bleiben und ihn lange anschauen, aber die Müdigkeit ist größer und der nächste Tag beginnt um 6, damit ein Stapel ukrainischer Kindergeldanträge nicht noch länger liegen bleibt. Das Arbeitspensum ist in diesen Tagen sonderbar unstet. Entweder es flutet unkontrolliert herein oder zerrinnt zu einem buchstäblichen Nichts. Ich kenne in meiner temporären Aushilfstätigkeit die Prozesse nicht gut genug um zu verstehen, an welcher Stelle es hängt, wo es sich aufhält oder aufgehalten wird, das Pensum.
Ein Freund war ziemlich mitgenommen, jetzt geht es ihm besser, ich freue mich. Ein anderer Freund ist sehr krank, ich habe Angst, ihn zu verlieren. In letzter Zeit ist häufig plötzlich etwas für immer vorbei gewesen. Das bringt eine gewisse Dringlichkeit in alle meine Begegnungen und Gespräche. Ich weiß nicht, ob es meinem jeweiligen Gegenüber auffällt. Ob das gut ist. Ob es nervt. Ich dachte, ich hätte einen Umgang mit der prinzipiellen Vergänglichkeit aller Erscheinungen gefunden. Aber das war wohl nur first level.
In der Pause finden ein Kollege und ich Zugang zur Dachterrasse. Wir essen ungetoastete Toastsandwiches mit Essiggurken und Keksen, weil das Kantinenessen schlechter ist als das. Der Kollege erzählt von etwas, das ihn seit Langem verfolgt. Ich erzähle von den letzten Tagen meiner Mutter. Wir haben nicht bewusst darauf zugesteuert. Das Dach scheint isoliert und entrückt genug, um altes Segment in einem sicheren Rahmen hochschwemmen zu lassen. Dann wechseln wir zu Science Fiction.
Ich habe jetzt doch Obi Wan angeschaut. Es kann nicht immer Premium sein. Man muss sich auch mal mit Zweitklassigem zufrieden geben.
Jede Stadt hat ihre Schnecke. Bis ich die Schnecke in meiner Heimatstadt gefunden habe, hat es eine Weile gedauert.
An diesem Juliwochenende gibt es häufig Gelegenheit, auf aufgeheizten Steinen zu sitzen, butterweich zu werden, zu verschwimmen. Die Pappeln werfen weiße Wolle in den Bordstein, an den Tischen wird leise in die Dunkelheit geredet.
Es ist eine Erlösung vom Gehirn in den Körper zu rutschen. Der Sommer hilft. Wenn doch immer Sommer wär.
Es ist nicht für jeden Menschen eine Erlösung, in den Körper zu rutschen. Für manche ist es das Gegenteil. Abhängig davon, was dieser Körper erlebt hat, welche Gefühle in ihm gespeichert, d.h. verkörpert sind.
In dieser Stadt wurde häufig roter Sandstein verbaut. Wären nicht 98% weggebombt worden, es wäre heute eine sehr rote Stadt. Geblieben ist Restrot. Manchmal in einem Turm, manchmal am Boden.
Es ist mir, zumindest im Juli, hier, unter Freunden und auf den aufgeheizten Steinen, viel klarer, dass jedes nachhaltige Wachstum langsam geschieht. Und ich nur punktuell beteiligt bin.
Ganz langsam krieche,
Schnecke,
am Fuß des Fuji
den Hügel
hinan.
Heute Morgen in der S-Bahn einer Frau 25 Minuten lang dabei zugeschaut, wie sie sich schminkt. Wenn man aus der Pubertät raus ist, hat man gar nicht mehr oft Gelegenheit, jemandem in echt dabei zuzusehen; also nicht auf Youtube oder als Teil einer Performance.
Die Frau stieg am gleichen Bahnhof wie ich ein, warf sich in den Sitz und begann mit der Einrichtung ihres Gesichts: Grundierung, Abdeckung, Kontur, Puder, Rouge, Lidschatten, Lidstrich, Wimperntusche, Lippenstift und zum Schluss etwas, das ich als Augenbrauenliner bezeichnen würde. Sie war mittleren Alters, trug weiße Jeans und eine Businessbluse. Ich glaube es war Moritz von Uslar der das den Düsseldorflook genannt hat. Ich habe mich in den 25 Minuten gut unterhalten gefühlt. Schade war, dass sie mit dem Make-up nicht mehr so nahbar wirkte. Sie sah vorher sehr charmant aus, mit ihrem leicht verpennten Blick.
Wie mir eigentlich immer bei den Vorher/Nachher - Fotos die Leute vorher besser gefallen. Den Rest des Tages gehadert, ob ich aus der Beobachtung am Morgen schlussfolgern soll, selbst kein Make-up mehr zu nutzen. Gemerkt: nein. Geht noch nicht. Fühle mich doch recht gezeichnet von den vergangenen und bestehenden Krankheiten und will dem nicht konstant in die Augen schauen. Eine dünne Schicht Puder scheint genau den benötigten Schutz zwischen mich und die Umwelt zu schieben, damit ich mir nicht völlig roh vorkomme. Lieber wäre es mir anders. Lieber wäre ich in diesem Areal okay. Abwarten. Weitermachen.
Dann flaut in der Arbeit plötzlich alles ab. Nach der Raserei der letzten Wochen habe ich zum ersten Mal Zeit, mit einem Kollegen länger Pause zu machen, überflüssige Daten zu vernichten, Eiskaffee zu trinken.
Die spießige Blume habe ich auf Dauer doch nicht toleriert und wollte sie schon kompostieren. Der Nachbar, der gleichzeitig ein Freund ist, hat sie angeschaut und bestätigt: Ja, sie ist hässlich. Aber sie könne ein Loch im Sichtschutz auf seiner Seite füllen. Er hat die Blume ausgegraben und versetzt.
Die Schafe sind wieder ausgebüxt. Jetzt stehen sie vor unserer Tür. Man darf ihnen nahe kommen - aber nicht streicheln!
Am Wochenende Fortbildung. Die Fortbildungen finden in einer Gärtnerei statt, die 80% der europäischen Print und Online Gartenzeitschriften mit Bildern versorgt. Daher stehen überall auf dem Gelände Kulissen. Hausfassaden ohne Haus dahinter, Zaunelemente, die nichts einzäunen, gut aussehende Hühner vor einem Tiny House, in dem niemand wohnt.
In, auf und über den Kulissen bersten Rosensträucher, wachsen Pfirsichbäumchen im Kübel, leuchten Walderdbeeren vor ins Gras gelegten Weidenkörben.
Ich bin nicht hier, um Fotografieren zu lernen. Ein Teil des Gewächshauses wird für Tagungen und Seminare vermietet. Die Inhalte der Fortbildung weichen drastisch ab von dem hier geschaffenen hortus concluses. Die Theorie ist dicht, die Praxisübungen noch dichter, es wird präzise beobachtet, umgesetzt und von Ausbilderinnen geprüft. In mehreren Runden wird jeder Schritt auf seine Wirkung hin analysiert, weitere Optionen angeschnitten, kleinteilig von den Teilnehmern rückgekoppelt.
Um so froher bin ich, in den Pausen und an den Abenden zwischen Fenchelbeeten zu streunen, an allem zu riechen, unter rauschenden Linden zu liegen. Der Chefgärtner läuft heiter und original mit Hut, Shorts und grüner Gießkanne durchs Bild und fordert uns auf, bitte viele Erdbeeren zu essen. Er ist kein Statist.
Ich denke hier oft an Tschechow, Sokolow, Anna Achmatowa. In Tschechows Gesellschaften werden mit Vorliebe an heißen Sommertagen Theaterkulissen in den Garten des Landguts gezimmert, ein Pappmond in den Baum gehängt, den Zusammenkommenden ein Text ausgehändigt. Und da stehen sie dann.
Irina: “Als ich heute erwachte, aufstand und mich wusch, schien es mir plötzlich, als sei mir alles klar auf der Welt, und ich wusste, wie man zu leben hat.”
Platonow: “Aber trotzdem begann der Kummer der allgemeinen Lage Woschtschew wieder zu quälen, er spürte manchmal das gesamte äußere Leben als das eigene Innere.”
Achmatowa: “Wir werden nicht aus einem Glase trinken, kein Wasser und auch keinen süßen Wein, des Morgens nicht in einem Kuss versinken, noch aus dem Fenster sehen im Abendschein.”
Sokolow: “Da kommt ein Soldat mit einer Feldmütze, nimmt ein Stück Kreide und geht auf den Waggon zu, er schreibt: Noch zwei Monate beim Barras. Da kommt ein Bergmann, seine weiße Hand schreibt lakonisch: Säue. Ein Sitzenbleiber der fünften Klasse schreibt: Marija Stepanna - Hure. Eine Bahnhofsarbeiterin in einer organgefarbenen Weste zeichnet auf den Waggon eine Wellenlinie. Ein Bettler mit Ziehharmonika nur zwei Worte: vielen Dank. Schließlich verlässt der Zug das Abstellgleis und rattert durch die Weiten Russlands.