Jede Stadt hat ihre Schnecke. Bis ich die Schnecke in meiner Heimatstadt gefunden habe, hat es eine Weile gedauert.
An diesem Juliwochenende gibt es häufig Gelegenheit, auf aufgeheizten Steinen zu sitzen, butterweich zu werden, zu verschwimmen. Die Pappeln werfen weiße Wolle in den Bordstein, an den Tischen wird leise in die Dunkelheit geredet.
Es ist eine Erlösung vom Gehirn in den Körper zu rutschen. Der Sommer hilft. Wenn doch immer Sommer wär.
Es ist nicht für jeden Menschen eine Erlösung, in den Körper zu rutschen. Für manche ist es das Gegenteil. Abhängig davon, was dieser Körper erlebt hat, welche Gefühle in ihm gespeichert, d.h. verkörpert sind.
In dieser Stadt wurde häufig roter Sandstein verbaut. Wären nicht 98% weggebombt worden, es wäre heute eine sehr rote Stadt. Geblieben ist Restrot. Manchmal in einem Turm, manchmal am Boden.
Es ist mir, zumindest im Juli, hier, unter Freunden und auf den aufgeheizten Steinen, viel klarer, dass jedes nachhaltige Wachstum langsam geschieht. Und ich nur punktuell beteiligt bin.
Ganz langsam krieche,
Schnecke,
am Fuß des Fuji
den Hügel
hinan.
Heute Morgen in der S-Bahn einer Frau 25 Minuten lang dabei zugeschaut, wie sie sich schminkt. Wenn man aus der Pubertät raus ist, hat man gar nicht mehr oft Gelegenheit, jemandem in echt dabei zuzusehen; also nicht auf Youtube oder als Teil einer Performance.
Die Frau stieg am gleichen Bahnhof wie ich ein, warf sich in den Sitz und begann mit der Einrichtung ihres Gesichts: Grundierung, Abdeckung, Kontur, Puder, Rouge, Lidschatten, Lidstrich, Wimperntusche, Lippenstift und zum Schluss etwas, das ich als Augenbrauenliner bezeichnen würde. Sie war mittleren Alters, trug weiße Jeans und eine Businessbluse. Ich glaube es war Moritz von Uslar der das den Düsseldorflook genannt hat. Ich habe mich in den 25 Minuten gut unterhalten gefühlt. Schade war, dass sie mit dem Make-up nicht mehr so nahbar wirkte. Sie sah vorher sehr charmant aus, mit ihrem leicht verpennten Blick.
Wie mir eigentlich immer bei den Vorher/Nachher - Fotos die Leute vorher besser gefallen. Den Rest des Tages gehadert, ob ich aus der Beobachtung am Morgen schlussfolgern soll, selbst kein Make-up mehr zu nutzen. Gemerkt: nein. Geht noch nicht. Fühle mich doch recht gezeichnet von den vergangenen und bestehenden Krankheiten und will dem nicht konstant in die Augen schauen. Eine dünne Schicht Puder scheint genau den benötigten Schutz zwischen mich und die Umwelt zu schieben, damit ich mir nicht völlig roh vorkomme. Lieber wäre es mir anders. Lieber wäre ich in diesem Areal okay. Abwarten. Weitermachen.
Dann flaut in der Arbeit plötzlich alles ab. Nach der Raserei der letzten Wochen habe ich zum ersten Mal Zeit, mit einem Kollegen länger Pause zu machen, überflüssige Daten zu vernichten, Eiskaffee zu trinken.
Die spießige Blume habe ich auf Dauer doch nicht toleriert und wollte sie schon kompostieren. Der Nachbar, der gleichzeitig ein Freund ist, hat sie angeschaut und bestätigt: Ja, sie ist hässlich. Aber sie könne ein Loch im Sichtschutz auf seiner Seite füllen. Er hat die Blume ausgegraben und versetzt.
Die Schafe sind wieder ausgebüxt. Jetzt stehen sie vor unserer Tür. Man darf ihnen nahe kommen - aber nicht streicheln!
Am Wochenende Fortbildung. Die Fortbildungen finden in einer Gärtnerei statt, die 80% der europäischen Print und Online Gartenzeitschriften mit Bildern versorgt. Daher stehen überall auf dem Gelände Kulissen. Hausfassaden ohne Haus dahinter, Zaunelemente, die nichts einzäunen, gut aussehende Hühner vor einem Tiny House, in dem niemand wohnt.
In, auf und über den Kulissen bersten Rosensträucher, wachsen Pfirsichbäumchen im Kübel, leuchten Walderdbeeren vor ins Gras gelegten Weidenkörben.
Ich bin nicht hier, um Fotografieren zu lernen. Ein Teil des Gewächshauses wird für Tagungen und Seminare vermietet. Die Inhalte der Fortbildung weichen drastisch ab von dem hier geschaffenen hortus concluses. Die Theorie ist dicht, die Praxisübungen noch dichter, es wird präzise beobachtet, umgesetzt und von Ausbilderinnen geprüft. In mehreren Runden wird jeder Schritt auf seine Wirkung hin analysiert, weitere Optionen angeschnitten, kleinteilig von den Teilnehmern rückgekoppelt.
Um so froher bin ich, in den Pausen und an den Abenden zwischen Fenchelbeeten zu streunen, an allem zu riechen, unter rauschenden Linden zu liegen. Der Chefgärtner läuft heiter und original mit Hut, Shorts und grüner Gießkanne durchs Bild und fordert uns auf, bitte viele Erdbeeren zu essen. Er ist kein Statist.
Ich denke hier oft an Tschechow, Sokolow, Anna Achmatowa. In Tschechows Gesellschaften werden mit Vorliebe an heißen Sommertagen Theaterkulissen in den Garten des Landguts gezimmert, ein Pappmond in den Baum gehängt, den Zusammenkommenden ein Text ausgehändigt. Und da stehen sie dann.
Irina: “Als ich heute erwachte, aufstand und mich wusch, schien es mir plötzlich, als sei mir alles klar auf der Welt, und ich wusste, wie man zu leben hat.”
Platonow: “Aber trotzdem begann der Kummer der allgemeinen Lage Woschtschew wieder zu quälen, er spürte manchmal das gesamte äußere Leben als das eigene Innere.”
Achmatowa: “Wir werden nicht aus einem Glase trinken, kein Wasser und auch keinen süßen Wein, des Morgens nicht in einem Kuss versinken, noch aus dem Fenster sehen im Abendschein.”
Sokolow: “Da kommt ein Soldat mit einer Feldmütze, nimmt ein Stück Kreide und geht auf den Waggon zu, er schreibt: Noch zwei Monate beim Barras. Da kommt ein Bergmann, seine weiße Hand schreibt lakonisch: Säue. Ein Sitzenbleiber der fünften Klasse schreibt: Marija Stepanna - Hure. Eine Bahnhofsarbeiterin in einer organgefarbenen Weste zeichnet auf den Waggon eine Wellenlinie. Ein Bettler mit Ziehharmonika nur zwei Worte: vielen Dank. Schließlich verlässt der Zug das Abstellgleis und rattert durch die Weiten Russlands.
Immer wenn ich denke, die Pfingstrose habe ihre maximale Öffnung erreicht, geht sie eine Stufe weiter. Ich weiß nicht, wie sie das aushält. Diese Ausdehnung, Auffaltung, das totale Exponiertsein.
Gestern war der Mond ein Ei. Ich folge ihm und seinen Formen; den verbeulten, halbfertigen, zurück gehenden. In meinem Gedächtnisspeicher habe ich ein Mond-Depot angelegt.
Darin archiviert sind käsegelbe Vollmonde über Fichtenwäldern und bleich rosa Dreiviertelmonde über klirrend kalten Schneefeldern. Einige der Monde hängen über Hochhäusern, mehrere sinnliche Sicheln vor pflaumenblauen Abendhimmeln. Und es gibt auch, besonders gut verwahrt, einen an Bergzacken entlang schrammenden rötlichen Giganten.
Allerdings, der vielleicht wichtigste Archivmond befand sich vor einem Jahr in der französischen Provinz. Es hatte unter den Freunden den ganzen Tag über unterschiedliche Aussagen und Einschätzungen dazu gegeben, wann genau der Mond über diesem Dorf aufgehen würde. Eine Stunde harrten wir zu Neunt an der warmen Hauswand, um in der Sekunde des Aufgangs da zu sein. Wir waren da. Und schrien vor Glück, als er hochging.
Ich habe ein bisschen Angst vor dem Tod. Es ist das gleiche Gefühl, das ich jedes mal vor einem Übergang spüre. Der Schritt in und durch das eigene Dunkel. Der Abschnitt, den ich allein gehen muss. In dem es keine Ausflüchte mehr gibt.
Ich ahne/erkunde diese Unausweichlichkeit in dem gleichen Maß, wie ich meine Geburt noch irgendwo in mir ertasten kann. Der Anfang von mir. Wie ich mich hineingedreht habe in dieses Leben. Ausgeliefert und voller Bereitschaft.
Wir waren an einem Wasserfall am Sonntag. Das Wasser läuft an den Hängen runter, in die Felsspalten, bringt die steinigen Sammelbecken zum Überlaufen und verzweigt sich zum Schluss in den Flussarmen. In einer der grünen eisigen Gumpen baden wir. Es presst einem die Luft aus der Lunge. Man muss japsen, kreischen, johlen, schnappatmen und alles tun, was spontan zur Verfügung steht. Es existiert in solchen Gumpen kein Gedanke. Sensorisch eine einzige Überforderung.
Später dann der friedliche Weg nach Hause.
Am Abend zieht Sturm auf. Die Pfingstrose ist kurz vorm Platzen. Ich glaube, sie braucht noch genau einen sonnigen Tag. Entlang des Fensters habe ich eine Girlande aus Duftwicken gepflanzt. Ich lag im Mai einige Male betört unterm Fliederstrauch und ich werde im Juni einige Male betört meine Augen im Kelch der Wicken schließen.
Ich bin hier angekommen, wie ein Loch, nach zwanzig Jahren City. Zu keinem menschlichen Kontakt gewillt. Außerhalb meines Freundeskreises wollte ich niemanden sehen, mit niemanden sprechen, vor allem niemanden hören.
Weiter hinten ist versehentlich eine spießige Blume herangewachsen. Auf dem Foto im Bestelldatensatz sah sie nicht so aufdringlich und plump aus. Um sie auszugraben ist es zu spät, sie gedeiht gut in der feuchten Ecke, wo sonst nur Schnecken und Steinasseln zurechtkommen.
Gestern sind beim Hof an der Kurve die Lämmer ausgebüxt und auf die um diese Uhrzeit stärker befahrene Hauptstraße gelaufen. Es sind eigentlich keine Lämmer mehr, sondern Teenager - in ihren Bewegungen liegt Bockigkeit und Lust auf Rangeln, es kotzt sie jetzt alles ein bisschen an; die langweiligen Elterntiere und der dumme Hof. Als ich in ihre Richtung gehe, öffnet sich zeitgleich die Tür der kleinen Wohnanlage gegenüber und heraus treten zwei alte Bewohner, die für die Fütterung wilder Katzen in der Gegend zuständig sind und auch generell das allgemeine Tierwohl im Blick behalten. Zusammen lotsen wir die Schafe zurück zur eingezäunten Wiese.
Die zwei Alten sind scheu und misstrauisch. Ich habe sie schon einmal angesprochen, worauf sie verhuscht und etwas verkniffen geantwortet haben. Ich traue mir dennoch zu, ihr Vertrauen zu gewinnen. Wer nachts mit 40 km/h durch den Wald fährt, um bremsbereit für wegquerende Füchse zu sein, ist auch im Stande das Herz einer greisen Catlady umzustimmen.
Soviel habe ich jedenfalls gestern in Erfahrung gebracht: 2 der wilden Katzen sind im Frühjahr bei der Catlady eingezogen, die restlichen 3 präferieren ihr Outdoorleben zwischen Schafstall und Trafohäuschen.
Nach den Tagen in der Behörde liege ich unaufgeräumt in der Wohnung und bin zu nichts in der Lage. Draußen feucht warm. Es wächst Farn. Ich unterlasse es, zu lernen, mit meiner freien Zeit etwas anzufangen. Am Samstag hebe ich mich auf und fahre in die Stadt. Vor der Ludwigskirche hängen transparente Fahnen. Eine blaue Kugel vor durchsichtigem Grund. Neben den vielen hässlichen Flaggen auf dieser Welt existieren also auch noch ein paar ganz schöne.
Die Nacht wird lang. Im Hirschgarten sitze ich mit Freunden um ein Grillfeuer und esse Frühlingsrollen. Je dichter die Dunkelheit, desto näher fühle ich mich den Menschen. Ich brauche dazu keinen Alkohol. Das war nicht immer so. Beides haben zu können - Verbindung zu mir und Verbindung zu anderen - das ist der große Rausch, nachdem ich so lange gesucht habe. Er ist nicht verfügbar, dieser Rausch, er gehört mir nicht, ich kann ihn nicht herstellen. Mich lediglich bereithalten und konstant hinwenden zu mir.
Unweit unseres Platzes auf der Wiese fasst sich eine Familie oder ein Familienverband an den Händen und tanzt einen folkloristischen Reigen. Ich glaube, es wäre okay, rüber zu gehen und mitzumachen. Der Mond ist eine Sichel. Das Gras kaum kühler als die aufgeheizte Luft. Die Dunkelheit hat in dieser Nacht etwas von einem samtenen Tuch. Ich kann mich wickeln in das Tuch, ich spüre es auf jedem Zentimeter Haut.
Weiterhin beschäftige ich mich mit Ohnmacht. Hat sich ein Wort erst einmal Zutritt verschafft, geht es in der Regel auch die nächsten Monate nicht mehr weg. Es muss von allen Seiten benagt werden. Angefangen hat es im Februar mit der Ukraine. Dann im März der Tod von N. Dass ich ihn nicht am Leben erhalten konnte. Der Größenwahn, zu meinen, jemanden am Leben erhalten zu können.
Die verschwommene Erinnerung in der Stunde nach der Nachricht, im Kreis gelaufen zu sein. Auseinanderfallen.
Jemand, der sich mit Ohnmacht auskennt, schreibt:
Auf Ohnmacht antworten wir gern mit Macht. Mit Aktivismus.
Eine Tat zu tun ist leichter als das Unaushaltbare zu halten.
Sind deshalb unsere Taten vergeblich? Nein. Aber sie ändern nichts an unserem Ausgeliefertsein.
Du könntest den Bergen die Adern aufschneiden,
als Zeichen eines großen Gerichts.
Aber dir liegt nichts daran.
Sanften Gesichts siehst du
den Tragenden zu.
[Rilke]
Dann kommen Freunde. Wir gehen auf einen Berg. Wir gehen zum See. Der Wind bewegt das Gras, hoch und ungemäht an der Stelle mit den lila Blumen. Einem Kind wird ein Kranz ins Haar geflochten, die anderen sichten Greifvögel, eine schwarze Schlange kriecht vorbei, die dicke Zunge des sehr jungen Kalbs leckt über meinen Handrücken.
Die Abstufungen des Ausgeliefertseins beschäftigen mich. Die kleinen Kontrollverluste jeden Tag. Und die große Ohnmacht. Ohne Macht in diesem Leben zu stehen.
An die kleinen Kontrollverluste versuche ich mich zu gewöhnen. Mitzuschwimmen, wenn möglich. Die Ohnmacht hingegen.
Fiktionsbescheinigungen. Die Behörde, in der ich aushelfe, presst weiterhin im Eilverfahren Wissen in mich hinein. Die Ukrainer, die mir später am Tag gegenüber sitzen, sind auf dieses Wissen angewiesen und pressen es wieder aus mir heraus. Alles, was ich sagen kann ist unvollständig und eigentlich nicht genug und nur mit akutem Mitarbeitermangel in einer Krisensituation zu rechtfertigen.
Die Mütter schaukeln Kinder im Arm, während wir nach 45 Minuten immer noch weitere Nachweise von ihnen wollen; für das Mittagessen in der Schule, für noch nicht erhaltene Versichertennummern und Nebenkostenaufstellungen im Untermietvertrag der temporären Unterkunft. Dennoch: die Ukrainer kommen vorbildlich vorbereitet zu den Terminen, legen ihre gut sortierten Dokumentenmappen auf den Tisch, werfen sich auf den Arbeitsmarkt, auf den Wohnungsmarkt, in die Sprachkurse, in das Dickicht der Verfahren.
Die neue Aufgabe. Sie ist aufreibend, komplex und verlangt mehr als ich ursprünglich geben wollte. Ich verabschiede mich von meinem Team, meiner Institution, wechsel in ein anderes Unternehmen, ob für 3 Monate, 6 Monate oder länger bleibt unklar. Am neuen Schreibtisch bekomme ich einen Ordner mit Gesetzestexten, einen mit Verfahrensregeln, einen zur Aktenkunde und 5 Kollegen, die im Schnelldurchlauf Fachwissen in mich frachten. Es trifft mich und viele andere Mitarbeiterinnen. Es ist eine Ausnahmesituation und wir sind abrufbar. Was ich im letzten Jahr erworben habe, hat keine Bedeutung mehr: Transliterationen des griechischen Alphabets, Besonderheiten türkischer Verlage, Abgründe der Etatansetzung und die Meisterung derselben. Es fehlt mir - das Polster meiner Kompetenz. Ich bin unglücklich und die häufigen Umbrüche leid. Am Abend des ersten Tages mit der neuen Aufgabe liege ich zermatscht im Bett und gräme mich. Jammern ist gesund. Ich glaube, mich damit anteilig von meiner Neurodermitis geheilt zu haben. Ich pflege meine Bequemlichkeit und füge mich nicht ohne Aufstand in einen neuen Umstand. Eine Weile liege ich so. Dann höre ich Beppo Straßenkehrer oder Gott oder mich - wie wir sagen:
Nicht den ganzen Weg anschauen. Nur den nächsten Schritt. Atem, Schritt, Besenstrich.
Es ist simpel und tröstet. Wir drei im Chor. Zermatscht und street wise. Mein Gram legt den Kopf an meine Schulter. Ich schlafe ein und träume von Papier.
Es hilft, die Unbequemlichkeit zumindest im Dienst eines guten Zwecks zu tun. Diejenigen, für die ich ab heute Akten wälze haben mehr verloren als ihre kleine private Kompetenz. Ich weiß nicht, wer in ihrem Kopf mit welchen Worten spricht. Ob überhaupt noch jemand spricht.
Am anderen Tag sind wir im Gebirge, die Murmeltiere pfeifen die Hänge runter, eine Gams sieht uns lange an, bevor sie durch den Schnee ins Tal trabt. Eine einzige Üppigkeit an Freundschaft und Blumen breitet sich aus. In einer besonders heißen Serpentine aufwärts bleiben wir stehen unter ätherisch duftenden Latschenkiefern. Wir sind zu sehr außer Atem, um etwas zu sagen. Stehen da in stummer Vereintheit. Große Landschaften sind ja wie gemacht dafür, alles wieder ins rechte Licht zu rücken.
Vor diesem Hintergrund scheint es kleinlich, wegen einer neuen Aufgabe unglücklich zu sein. Aber ich will nicht herabsehen auf mich. Und jedes Gefühl in mir unterbringen.
Nach einem durchgetakteten Tag hinter diesen Mädchen zum Stehen gekommen. Ihre liebevolle Verabschiedung in der großen Kleidung, als die eine zusteigen und die andere zurück bleiben muss. Die Selbstverständlichkeit mit der sie sich angleichen wollen (können) müssen. Die Erinnerung, das als Teeanager mit der Freundin genauso auch gemacht zu haben. Eine schwer zu beschreibende Art von Stärke dabei empfunden. Vielleicht: Die Verdoppelung der eigenen Abwehrkraft. Oder schlicht: Rudel gefunden.
Die Version der Erwachsenen. Eine Winternacht vor Corona. Wir treten aus der Bar, frieren, ziehen die Mützen auf und sehen dann so aus:
Viel Regen und daher Gelegenheit, drinnen zu sein. Lernen. Die Lust, es nicht gehetzt tun zu müssen. Sekundärliteratur lesen, zwanzig Minuten aus dem Fenster starren, die neuen Informationen mit den alten abgleichen.
Ich hätte mir das früher nicht erlaubt; Stoff, den andere innerhalb eines Jahres in sich hineinpressen, auf zwei Jahre auszudehnen. Hand in Hand mit meiner Herangehensweise Leichtigkeit dabei zu empfinden.
Im Wald den Barfußpfad gegangen. Ich in Barfußschuhen (he he), das Kind des Bruders in echt barfuß. Das Kind nimmt die gesamte Runde mit Genuss und Neugier, nur am Übertritt zu den kleinen spitzen Zweigen scheut es zurück. Später allerdings, als wir längst auf etwas anderes fokussiert sind, bemerke ich, wie es allein und ohne Hilfe über die Zweige wankt. Nur aus dem Augenwinkel habe ich das gesehen. Fast verpasst.
Der ganze Sektor der eigenen Ohnmacht, Unsicherheit, Wackeligkeit. Die Passage der Angst, die ich durchlaufe. Jedes Mal wieder diese Passage, um in die nächste Weite zu kommen.
Ich, die ich wirklich rein gar nichts von Mode verstehe, schaue zur Unterhaltung und vor dem Einschlafen die US -amerikanischen Designer-Castingshows. Frauen und Männer, die antreten “the next global brand” zu werden.
Erfreulicherweise finden sich unter den Belgiern, Kolumbianerinnen, Italienern und Amerikanerinnen manchmal auch Personen im fortgeschrittenen Alter, die drei Jahrzehnte Arbeitsleben auf dem Buckel haben. Wie die immer schwarz gekleidete und sanft lächelnde Esther Perbandt, die in stressigen Situationen über ihre Entwürfe gebeugt murmelt: Everything I want is on the other side of fear.
Neben der Handwerkskunst sind es diese gezeichneten und sicher mehrfach gescheiterten Gesichter, die mich so hervorragend unterhalten und scheinbar auch sedieren - ich schlafe ruhig und eingebettet im Gemurmel der wankend vorwärtsschreitenden Mitmenschen.
Ich habe lange nicht wahrhaben wollen, wie kompliziert ich geworden bin. Rund zehn Jahre brachte ich damit zu, zu hoffen, es gehe vorüber. Wenn Freunde davon berichteten, zum Zwecke ihrer Yogaausbildung oder im Rahmen eines Engagements in der Entwicklungshilfe monatelang mit zwanzig Personen und null Privatsphäre in einem Raum auf dem Boden geschlafen zu haben, glomm in mir gegen alle Vernunft der leise Wunsch, dazu auch einmal in der Lage zu sein.
Unter den verschiedenen Kompliziertheiten war und ist die Geräuschempfindlichkeit die für mich am schwierigsten zu handhabende und vielleicht auch die Tatsache, die ich mit der größten Ausdauer in mir niederzuringen suchte. Könnte ich zehn Jahre zurück reisen würde ich der Frau, die ich damals war, gern einmal fest in die Augen schauen und gutmütig sagen, lass es.
Lass es, du kleine dumme Nuss.
Oder auch mit den Worten eines Freundes: Das lässt sich doch mit Technik lösen.
Nachdem besagter Freund mehrmals kopfschüttelnd Zeuge meiner Einbrüche wurde, lag vor zwei Jahren dieser noise cancelling Kopfhörer auf dem Tisch. Warum ich letztlich, ich kann selber nicht fassen was ich jetzt hier schreibe, mich weigerte den Kopfhörer zu benutzen und ihn mit Einverständnis des Freundes sogar weiterreichte… das lässt sich vermutlich nur mit Hilfe eines dafür ausgebildeten und bezahlten Menschen klären.
Es hat dann aber, und dafür bin ich der Unerbittlichkeit der Umstände sehr dankbar, doch nur noch 2-3 weitere Einbrüche gebraucht, um mich weichzukochen für die Einsicht, dass mir mit meinen Mitteln nicht mehr zu helfen ist.
Dass ich Hilfe brauche, die diametral entgegengesetzt ist zu meinem bisherigen Vorgehen. Der Kopfhörer wurde erneut bestellt, in den Rucksack gepackt und hält sich bereit. Die belastenden Situationen treten weiterhin ein, ich sehe sie kommen, ich greife in den Rucksack und dimme alles herunter. Ich stehe in keiner U-Bahn, in keinem Supermarkt, auf keiner Demo mehr ohne die Kopfhörer herum. Ich ziehe sie ab für Gespräche, unterhalte mich und ziehe sie wieder auf. Und es hat niemanden außer mich selbst überrascht: Ich fühle mich gut.
Außerdem gelernt: Hotelzimmer mit Sandelholz ausräuchern, eigenen Kopfkissenbezug mitbringen, Hotelbilder abhängen, Hoteldeko wegräumen, Bierzelt nach dem zweiten Bier verlassen, pastellfarbene Kleidung tragen, den TGV buchen, im gleichen Rhythmus wie die Raucher vor die Tür gehen, ein Tier oder eine Pflanze ansehen und wenn irgendwo Event draufsteht - den Ort weiträumig meiden.
Bierzelt ist ab und zu okay.
Mitte der Neunziger sahen Models, die durch Zeitschriften und Musikvideos schlichen, häufig aus, als kämen sie gerade vom Magenauspumpen. Erscheinungen von Mangelernährung und Selbstverletzungsnarben waren dann auch der erste Eintrag, den ich als Fünfzehnjährige in meinem internen Orientierungskatalog unter Schönheitsideal ablegte. Die am Rand der Suizidalität entlang kuratierte Ästhetik wich, wenn ich mich recht erinnere, erst in den Nullerjahren einem etwas stabiler wirkenden Frauenbild. Ich hielt mich spätestens mit Anfang Dreißig für eindeutig genesen von dieser frühen Sehstörung.
Es dauerte dann aber doch noch eine ganze Weile bis die alten Informationen vollständig überschrieben waren. Ab 2015 gab es für einen relativ kurzen Zeitraum ein Label aus New York, das sehr viele verschiedene Frauen in sehr teurer Unterwäsche in ungewöhnlich bequemen Bewegungen ablichtete. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal auf eines dieser Fotos stieß und irritiert war. Wie ich am nächsten Tag zu dem Onlineshop zurückkehrte, um noch einmal alle Frauen anzusehen und das dann jeden Tag gemacht habe, monatelang. Einen ganzen Herbst und einen ganzen Winter. Bis irgendwann im Frühjahr das Bedürfnis, die Bilder zu sehen, nicht mehr ganz so dringlich schien und ich nur gelegentlich auf der Seite verweilte; eine Art Erhaltungsdosis.
Und dann die Mittagspause im Sommer darauf, als eine Kollegin etwas Abwertendes über ihren eigenen Körper sagte und ich zusammenfuhr vor Schreck und Verblüffung. Ich habe ihre Aussage nicht mit einer gut gemeinten Entgegnung korrigiert. Ein Kompliment kann nicht ersetzen, was sechs Monate Sehschule bewirken. Und einmal Erworbenes kann wieder verloren gehen.
Wenn ich an einer Herde vorüber gehe, die Hermeline übers Feld flitzen sehe, die Elstern auf der Dachrinne, denke ich, dass weder diese Tiere noch ich mir ausgesucht haben, worin wir gelandet sind. Und es nahe liegt, sich zu verbünden. Ein jedes Wesen mit seiner Form.
Kurz darauf werde ich 42 und entschließe mich, den Tag allein zu verbringen. Es ist ungewöhnlich warm, ich ziehe Sandalen an und gehe übers Feld ins nächste Dorf und von dort an den Kuhweiden vorbei den Hang hinunter. Eine kleine Weile laufe ich unter Fichten und Buchen, dann öffnen sich die Baumgruppen und das Schilf beginnt.
Das Schilf ist eigentlich ein Moor oder ein unterirdisches Delta oder ein Moos. Jeder, der in der Nähe wohnt, bezeichnet es anders. Am Rand des Schilfs leben Tagpfauenaugen und Zitronenfalter zusammen mit einigen Tausend Bienen entlang einer sehr feuchten Wiese. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese verläuft ein Bach. Dieser Bach wird von einem Biber bewirtschaftet. Der Biber staut und verlegt seit mehreren Jahrzehnten das Wasser, was neben den Bodenbedingungen vielleicht das unterirdische Delta, Moos, Moor oder Schilf erst hat entstehen lassen.
Stellenweise ist das Schilf verlandet, hier wachsen Schlüsselblumen, niedrige Birken und Weiden und hier führt ein Weg in eine Gegend, in der meine Definitionen ermüden und versickern. Vielleicht liegt es an dem unklaren Untergrund, dem Nachgeben des Bodens, dem ungewöhnlich warmen Tag. Ich lege mich an das Bachbett und verhalte mich ruhig im vagen Wunsch, der Biber möge an mir vorbei schwimmen und ich ihm dabei zusehen können, wie er einen Baum fällt.
Während ich mich ruhig verhalte schlafe ich ein. Als ich aufwache habe ich einen leichten Sonnenbrand und fühle mich mir selber nah. Ich fühle mich eindeutig innerhalb meines Körpers und eindeutig innerhalb meines ichs. Ich betaste meine Wangen und meine Arme. Ich bin ganz klar umrissen und aufgehoben auf sehr leibliche Art. Aufbewahrt.
Nach vier Wochen, in denen ich jeden Tag mit Schmerzen an den verstorbenen Jungen gedacht habe, bemerke ich, dass ich selbst noch hier bin. Auf der Erde. In mir.
Auf dem Rückweg bin ich durstig und hungrig. Ich bin viel länger im Schilf geblieben als geplant und kann mich auch jetzt nur schwer losreißen. Im Wald biege ich aus einer Kurve kommend an den Fichten ab und zum Feldweg ein.
Im Gras, rund dreißig Meter von mir entfernt, steht ein Fuchs und sieht mich an. Ich bleibe stehen und schaue zurück. Er ist unfassbar schön. Sehr rot. Und auf elastische Weise entspannt.
Einen kurzen Moment stehen wir beide so. Dann entscheidet etwas in ihm, das Weite zu suchen, er dreht sich um und verschwindet im Unterholz.
Mein Cousin stirbt an Corona. Einen Tag darauf beginnt Putin einen Krieg in der Ukraine. Wir fahren zu der Beerdigung des Cousins. Wir sprechen über ihn, über die Ukraine und fahren zurück. In München helfe ich bei der Unterkunftsvermittlung für Geflüchtete. Tagsüber treffe ich Familien aus Charkiw, nachts versuche ich mich davon abzuhalten, Kriegsvideos anzuschauen.
Am Sonntagabend ruft eine Freundin aus P. an. Sie sagt, sie steht in der WG ihres Sohnes. Der Junge liegt tot in seinem Bett.
Ich gebe meinen Kollegen Bescheid, organisiere Vertretung, packe eine Tasche und fahre zu ihr. Als ich ankomme und sie auf mein Läuten nicht sofort öffnet, ziehen meine Ängste auf die Überholspur und für die Dauer einer Minute glaube ich, den Verstand zu verlieren. Dann öffnet sie und der Hund springt an mir hoch. Wir sitzen in ihrer Küche, in ihrem Wohnzimmer, auf dem Teppich.
In den nächsten 48 Stunden sprechen wir mit Polizisten, Sozialarbeitern, Sachberbeitern und Bestattern. Ich recherchiere Antragsverfahren und Zuständigkeiten, organisere Transporte, Fahrer, Helfer und Kartons. Als es dunkel wird laufe ich auf eine Anhöhe über der Stadt und rolle mich auf der Wiese zusammen.
Am Tag darauf kommt ein Anruf, die offizielle Freigabe: wir dürfen noch einmal in seine WG, in das Zimmer. Der Junge war 19 Jahre alt.
Ich bin seine Patentante. In meinem Kalender steht für den Sommer: Mit N. in die Berge gehen.
Ich fahre zurück. Wegen Zugausfällen bin ich acht Stunden unterwegs. In der Arbeit startet am Tag meiner Rückkehr die gefürchtete Neuansetzung des Etats. Ich habe drei Tage Zeit, sehr viel Geld auf hunderte neu entstandene Posten zu verteilen, Unregelmäßigkeiten zu überprüfen und alle nötigen Emails zu schreiben. Zwischendurch ruft immer wieder der Bestatter an. Er will Garantien. Er will Änderungen. Meine Kollegen werden krank. Ich mache Überstunden. Dann packe ich wieder eine Tasche und fahre zu der Beerdigung. Ich treffe auf Menschen, die ich zwanzig Jahre lang nicht gesehen habe. Hinten in der Halle stehen Jungs und Mädchen, die mit ihm gefeiert haben in der Nacht vor seinem Tod. Die Trauerrednerin verneigt sich vor dem Sarg. Es ist 1 Grad und sehr kalt.
Das alles ist nur erträglich, weil ich fühlen kann, was passiert, während all das passiert. Weil ich nicht mehr hart bin und nicht allein. Ich weine in der U-Bahn und im Zug. Im Wald, im Auto, im Flur. Bei der Etatverteilung und beim Abschließen des Büros, während ich seine letzten Nachrichten an mich lese, während die Sargträger vor uns herlaufen und als jemand in der ersten furchtbaren Stunde eine Hand auf meinen Rücken legt. Es ist erträglich, weil Fremde und Freunde sofort bereit sind, etwas zu tun, etwas zur Verfügung zu stellen, auf irgendeine Weise dabei zu sein. Ich kann nicht beurteilen, ob es für die Mutter erträglich ist. Ich vermute, nicht.
Während andere es sich nicht mehr leisten können, waffenunkundig zu sein, bin ich hier. Ich warte auf die Brandung. Die Brandung kommt. Ich trage in Eimern weg, was ich kann. Suche, jedem in die Augen zu schauen. Kein Wort zu sagen, über niemanden. Zu handeln, als sei kein Mensch von mir getrennt, unsere getrennten Körper nur ein Missverständnis. Solange es Tag ist, glaube ich das. Erst nachts sehe ich mir die Bilder an. Denke und fühle in Feindbildern. Es braucht nur ein wenig Müdigkeit, um allen Glauben aufzuheben. Ich kann nur hoffen, immer wieder wach zu werden.