What is, is the great teacher

Aus dem Auto tritt eine Flüssigkeit aus. Der junge Mann, der zwei Häuser weiter in seiner Garage eine Hebebühne mit Notfallservice betreibt, versichert, es sei keine Bremsflüssigkeit, sondern das Kontrastmittel der Klimaanlage, kein akuter Handlungsbedarf. Er macht das umsonst und lächelt, als ich auf dem Glatteis in seiner Einfahrt umherschlittere. Ich mag diese Nachbarschaft. Jede und jeder kann irgendwas oder hat irgendwas. Werkzeug, Anhänger, Leitern, einen Vogelschutzverein, eine Blaskapelle, einen kleinen Knall oder eine Meditationsgruppe, die das Meditieren aufgegeben hat und sich nur noch zum Backen trifft.

Schräg gegenüber lebt eine Französin ein unauffälliges Leben mit dem Kirchenmusiker und ihrer Katze. Nur einmal hat sie einen Stein in das Schuppenfenster des Nachbarn geschmissen, weil ihre Katze in ebendiesen Schuppen eingestiegen war, der Schuppenbesitzer (ein Grantler, wie man hier sagt) die Katze darin einschloss und sich weigerte, wieder aufzusperren. Die Katze wurde befreit, die Polizei kam, das zerschmissene Fenster musste von der Französin bezahlt werden. Das hat sie mir erzählt, während ich ihre Katze streichelte. Ich kann mich erinnern an den Abend, als das geschah. Ich sah die Französin rübergehen zum Schuppen und davor schreiend vor Wut in ihrer Wohnung toben. Die Katze hat das gut verkraftet. Sie ist weiterhin neugierig und voller Elan.

Normalerweise ist jetzt die Jahreszeit, in der ich webe. Nichts Aufwendiges, lediglich eine hellbraune Reihe nach der anderen aus Ziegenhaar und Schafwolle. Aber der Webrahmen steht im Keller und wird dort bleiben müssen, bis der Prüfungsstoff in meinem Kopf ist. Ich kriege es jetzt einigermaßen hin, zwischen Theorie und Praxis zu wechseln und meine Gedanken zu stoppen, wenn sie kurz vorm Einschlafen noch mal zu den bedrückenden Fakten mancher Inhalte zurückkehren. Ich habe dieses Stoppen intensiv trainiert, nachdem ich im Anschluss an die Auseinandersetzung mit menschlich sehr leidvollen Situationen manchmal in einen unangenehmen Zustand gerutscht bin.

Etwas nicht zu denken, was denkbar ist, aber mich inhaltlich noch überfordert, hat überraschenderweise viel damit zu tun, eine körperliche Grenze zu markieren. Ich mache also vor dem Einschlafen manchmal Bewegungen, die unter anderem in Selbstverteidigungskursen geübt werden. In Hinblick auf die somatischen Stufen der Entwicklungspsychologie ist das nicht verwunderlich. Wer sich traut, körperlich etwas abzuwehren oder zu stoppen, kann auch eigene Gedanken in die Schranken weisen. Die äußere Bewegung ist der inneren Bewegung verwandt. Mir ist dabei wichtig, nicht in einen offenen Kampf mit meinen Gedanken einzutreten. Ich bedanke mich für ihre Anregung und vertage sie auf später - zum Beispiel auf den Zeitpunkt, ab dem ich in der Lage sein werde, mich ihnen zu widmen ohne dabei Schaden zu nehmen.

Meine Tanzlehrerin musste während der Pandemie ihr Studio aufgeben. Jetzt treffen wir uns in dem schlecht beheizbaren Erdgeschoss einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik. Es fühlt sich nicht so industrial-romantisch an, wie das Wort Nähmaschinenfabrik suggeriert. Das Gebäude ist marode, die Toiletten stinken, die Wände wurden mit oranger Wischtechnik bemalt, ein Fenster lässt sich nicht vollständig schließen, der Vermieter hat den Schlitz mit Gaffer Tape “repariert”.

Die Kälte nervt. Nachdem ich den Tag über in den öffentlichen Verkehrsmitteln gefroren habe, dann im Büro und wieder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, friere ich in der Nähmaschinenfabrik weiter. Die körperliche Betätigung kommt kaum dagegen an. Aber was sollen da erst Leute sagen, deren Infrastruktur weggebombt wird. Oder der Bekannte einer Freundin in der Unterkunft für Geflüchtete, der sich für jede Minute, in der er Privatsphäre braucht, in den Schneeregen vor die Unterkunft stellt. Wegen der Residenzpflicht - dem eingeschränkten Bewegungsradius von Asylbewerbern innerhalb der ersten drei Monate in Bayern - können wir den Bekannten nicht einmal für ein Wochenende zu uns einladen. Selbst wenn wir ein Zimmer hätten, müsste er in der Unterkunft wohnen. Das muss man sich mal vorstellen. Es gibt Momente, da möchte man einen Stein nehmen und Schuppenfenster einschmeissen.

Die Freundin fährt regelmäßig 150 km zu der Unterkunft, um den Bekannten organisatorisch und emotional zu unterstützen bei dem was hinter ihm liegt und was vor ihm liegt. Daneben gibt es Studierende der juristischen Fakultät, die den Bekannten unentgeltlich in Rechtsfragen beraten, was bitter nötig ist, will man verhindern, dass er zurück in seinem Herkunftsland direkt vom Geheimdienst einkassiert wird.

Unterdessen hat ein anderer Freund für die Ukrainer, die ein 3/4 Jahr bei ihm gewohnt haben, eine Wohnung gefunden. Weiterhin verbringt er wöchentlich einige Stunden damit, ihnen beim Abschluss von Verträgen, Jobangeboten und der Kommunikation mit Behörden zu helfen.

Ich schreibe das auf, um mich daran zu erinnern, dass dieses Leben nicht gerecht ist, es darin aber immer wieder Menschen gibt, die ihr Mögliches tun, um die Härten der Ungerechtigkeit abzufedern.

Fast Februar

Die Bergkette erscheint heute schwindsüchtig und bleich. Ein allerhellstes Blau vor weißem Licht; in Bodennähe Nebel und weiter oben Farbauflösung. Selbst für ein Pastellaquarell wäre das zu wenig deckend. Gerade deshalb ist es natürlich fabelhaft. Eine Halluzination von Winter.

Es ist fabelhaft und anstrengend. Jeden Tag taut es für ein paar Stunden und jede Nacht friert alles wieder fest. Die Kälte schneidet, die Wege sind glatt, Erwachsene hangeln sich mit aufgerissenen Augen vom Laternenmast zum Gebüsch zum Treppengeländer zum S-Bahnsteig und es ist viel erreicht, wenn das ohne Sturz bewältigt wird. Er wäre eine gute Woche, um das Haus nicht zu verlassen, gerade jetzt aber liegen viele Termine an und ich bin mit den Bedingungen des Hin- und Zurückkommens mindestens so beschäftigt wie mit den Terminen an sich.

In einer Arbeitsgruppe mit Leuten, die sich zum Teil noch nicht kennen, bläst sich ein Mann bereits in der Vorstellungsrunde ganz schön auf. Als er zu einem bestimmten Zeitpunkt einer anderen Person ziemlich uninformierten Käse erzählt, hinterfrage ich seine Aussage. Er eskaliert umgehend in der hässlichsten Weise. Ich bin sehr wütend und kann mich lange nicht beruhigen. Freue mich aber, dass ich seine mangelnde Interaktionsfähigkeit entlarvt habe und die anderen das mitgekriegt haben. Besser, es ist gleich beim ersten Treffen klar, dass man es hier nicht mit einer harmlosen Person zu tun hat.

Frauen in meiner Altersspanne sollten 8-17 Liegestütze am Stück schaffen. Ich kann 0,5. Gelegentlich nehme ich einen Anlauf, trainiere und kann irgendwann 2. Dann werde ich faul und bin wieder bei 0,5. In meiner Tanzgruppe tanzen ein paar ältere Damen und ich nehme ihre Prognosen sehr ernst; die nachlassende Knochendichte, das Frakturrisiko, die verminderte Regenerationsfähigkeit. Eine schön geschminkte Achtzigjährige hat zu mir gesagt: Zum Schluss sind es nur Muskeln, die diesen Schrotthaufen zusammenhalten.

In der Institution wird nun jeden Monat ein Babyboomer verabschiedet. Kaum eine Woche ohne Ankündigung einer Feier anlässlich bevorstehender Pensionierung. Mit den meisten war eine verlässliche und angenehme Zusammenarbeit möglich. Wenn die Stellen weiterhin unbesetzt bleiben, hätte ich nichts dagegen, wenn KI ein paar davon übernimmt.

Vor einer Weile hatte ich eine ziemliche Obsession mit der japanischen, ländlichen Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ich hatte Bruno Taut “Das japanische Haus und sein Leben” gelesen und sah mir nachts die Filme von Ozu Yasujirō an, wegen der Innenräume, nicht wegen der Handlung.

Bruno Taut verließ Deutschland 1933, nachdem die Nationalsozialisten ihm die Professur an der Akademie der Künste entzogen hatten. Auf Einladung befreundeter Architekten lebte er drei Jahre in Japan, beobachtete seine Umgebung und notierte. Eindrücklich beschreibt er die erste Nacht in einem traditionellen Haus mit Außenwänden aus Papier (im Winter). Fazit: Innentemperatur = fast wie Außentemperatur. Die Idee bestand darin, den Körper zu wärmen, nicht den Raum. Daher die an der Feuerstelle aufgeheizten kleinen Metallstangen, die man sich in Ärmel und Falten der Kleidung legte.

Nachdem Bruno Taut alles mögliche beobachtet und festgehalten hatte (Toiletten und Lichtstimmung auf den Toiletten, Stauraum und Kochstelle, Religion und Nichtabschließbarkeit der Türen) widmete er sich dem Teehaus im Garten:

“Gebaut wurde eine literarische Idee. Hütte in der Natur, Vergänglichkeit des Menschenlebens, Genügsamkeit an bescheidenen Dingen, Liebe für alles dies und infolge davon: Stille des Herzens.”

Nothing stands alone

Aktuell werden ein paar junge Menschen durch das Büro geschleust, deren berufliche Laufbahn ihnen nicht erspart, vier Wochen in meiner Abteilung hospitieren zu müssen. Zu jedem einzelnen von ihnen möchte ich sagen: aufrichtiges Beileid. Sie sind bemüht, die jungen Menschen. Sie versuchen die Augen offen zu halten, streichen ihre Haare aus der Stirn und geben gelegentlich einen Laut von sich, um wenigstens vokal anwesend zu bleiben. Es hilft nichts. Ihr Körper ist zu jung für das hier.

Die für die Vermittlung zuständigen Kollegen sind seit dem Sommer in einer task force organisiert, in der sich vierzehntägig der Kopf darüber zerbrochen wird, wie man Hospitierenden vorgaukeln kann, die Tätigkeiten in unserer Abteilung würden Spaß machen. Die Körper der jungen Menschen lassen sich aber nicht belügen. Ich sehe sie sitzen unter dem Gewicht ihrer Langeweile, sie können nicht fassen, der Schule, der Uni, dem letzten Praktikum entkommen zu sein, um jetzt schon wieder durch eine Masse aus Daten zu waten, die keinerlei Emotion in ihnen hervorruft.

Und doch ist es so. Die Institution ist auf Menschen angewiesen, zur Not auch auf gelangweilte. Wie überall gibt es aber keine Menschen mehr, jedenfalls keine, die sich bewerben. Manchmal treffe ich auf dem Gang die Leute vom Recruiting. Sie winken nur ab, wenn man nach den unbesetzten Stellen fragt. Ich will unter diesen Umständen nicht wissen, mit welcher Verzweilfung Krankenhäuser, Pflegeheime und Bildungseinrichtungen den Fachkräftemangel verwalten.

Jetzt zum Mond. Ich muss mich korrigieren. Ich hatte geschrieben, auf dem Mond gäbe es nur flache Erhebungen. Das ist falsch. Es gibt einen 5.500 Meter hohen Berg auf der Vorderseite und einen fast 10.800 Meter hohen Kraterrand auf der Rückseite. Auf der Rückseite ist auch der tiefste Punkt des Mondes. Ein rund acht Kilometer tiefes Einschlagloch.

Der blauweiß marmorierte Trabant im unteren Bild ist einer der 82 Monde des Saturn. Seine Oberfläche ist bedeckt mit Wassereis, weshalb er 99 % des bei ihm ankommenden Sonnenlichts reflektiert. Er hat das größte Rückstrahlvermögen im Sonnensystem, das heißt er reflektiert Licht stärker als frisch gefallener Schnee.

Unterdessen schneit es auf der Erde, da wo ich wohne. Es fängt am Morgen an, es schneit den ganzen Tag und dann bis in die Nacht. Die Felder verwandeln sich in eine japanische Kalligrafie. Ich verbringe etliche Stunden in einer Veranstaltung, aus der ich mich vorzeitig in gebückt - gesenkter Haltung hinausschleiche, eine U-Bahn nehme und der Beschreibung in den Park folge, um den Ort zu finden, an dem heute getanzt wird.

Eine kleine Turnhalle unter kahlen Bäumen, beim Betreten knarzen die schweren Holztüren. Es gibt in diesem Stadtviertel einige alte, allein stehende Turnhallen, gebaut um die Jahrhundertwende, kaum größer als zwei Klassenzimmer, oft mit Bühne an einem Ende des Raumes, manchmal in Jugendstiloptik. Als ich eintrete ist es dunkel und es wird dunkel bleiben, die Anwesenden nur gelegentlich rot erhellt von der zurückhaltenden Lichtanlage. Durch schmale Fenster sind die unbewegten Bäume des Parks zu sehen und überall in der großen schwarzen Luft weiße Flocken. Die starken farblichen Kontraste des Januars werden in dieser Nacht getoppt von den akustischen Polen, draußen still, drinnen laut. Ich tanze einigermaßen vorgekocht, da in den Stunden zuvor bereits einiges geboten war an grenzwertig intensiven Gefühlen, Forderung und menschlichen Aufgaben. Es wundert mich daher nicht, dass ich mich gegen Ende an den Rand der Menge stelle und eine Minute lautlos weine, weil eine junge Frau in meiner Nähe ein Lied singt, dessen Inhalt ich aus Kitschgründen eigentlich ablehnen müsste. Sie singt lauthals, mit offenen Augen und mehrmals hintereinander:

Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.
Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.

Am nächsten Abend sitze ich mit Freunden in einem Lokal, in dessen durchgewetzten, hellgrünen Polstermöbeln wir seit zwei Jahrzehnten alles feiern, was Menschen widerfahren kann: sich verlieben, heiraten, älter werden, sich verlieren, die anderen verlieren, krank werden, ratlos werden, wieder auf die Beine kommen, von vorne beginnen, weitermachen. Es ist mir mittlerweile recht egal in welchen Ansichten, schlechten Gewohnheiten, politischen Vorlieben und charakterlichen Schwächen wir uns unterscheiden, solang ich gelegentlich Flanke an Flanke zwischen diesen Leuten in die Runde schauen kann, während mein Heimatplanet durch den Weltraum fliegt.

Nachtrag: Die Toiletten der Turnhalle im Park wurden vermutlich in den 70’ern saniert und befinden sich in einem Zustand, den ich noch aus meiner Schulzeit kenne. Auch die eigentlich großartige Vorrichtung, um nachhaltiges Händeabtrocknen zu ermöglichen, versagt auf die gleiche Weise wie damals.

Alle Mondfotos: Mondlandschaften, Thorsten Dambeck, 2022

Hinter uns die Maschinen

Es ist warm. Der Winterhimmel an diesem Abend aprikosenfarben. Es wäre ein guter Tag gewesen, um nach der Arbeit auf einen der nahe gelegenen Berge zu steigen, den Sonnenuntergang abzuwarten, mit der Stirnleuchte runter zu gehen, während es dunkel wird.

Ein Freund hat sich ein Fernglas gekauft, wir schauen bei Tageslicht auf den Mond. Die Krater sind gut zu erkennen, die Mondhaut pockennarbig und kreidig. Ich habe, obwohl ich mich sehr für den Mond interessiere, bisher nie durch ein Fernglas oder Teleskop auf ihn gesehen und rufe einen Verblüffungslaut, als er ins Bild rückt. Er ist wirklich eine Kugel. Wie wir.

Planetenforscher vermuten, der Mond sei nach seiner Geburt in näheren Bahnen um die Erde gekreist. Nur ca. 200.000 Kilometer entfernt von uns. Das ist ungefähr die Hälfte seiner jetzigen Entfernung. Er wirkte größer und war deutlicher auszumachen. Leider bewegt er sich jedes Jahr 3,8 Zentimeter von uns weg. Ich finde das nicht gut.

Im Büro sitze ich einmal in der Woche neben einer etwas älteren Kollegin. Menschen wie sie gab es früher viele in der Institution. Sie sterben jetzt alle aus. Immer wenn die Kollegin für einen Moment den Raum verlässt, schaue ich auf ihren Schreibtisch und versuche mir alles einzuprägen; diese Art sich zu verwalten, diese Art sich am Arbeitsort wohnlich einzurichten - wird bald für immer verschwunden sein. Ich zähle 24 gespitzte Bleistifte in dem Keramikhalter neben ihrer Tastatur, zwei gerahmte Familienfotos, eine Weihnachtstassensammlung, eine Reisetassensammlung, eine Reihe kleiner Pflanzen in bunten Töpfen. Dahinter im Regal ein auf Servietten angerichteter Obstteller mit bereitgelegtem Obstschneidemesser. Daneben ein (vom Büromanagement verbotenes) privates Möbelstück, in dem 4 Handcremes, 5 Geschirrtücher, 6 Vasen, 3 Handtücher und eine Vorratspackung Gummihandschuhe aufbewahrt werden. An der Wand dahinter zwei Wandkalender mit erbaulichen Motiven und ein neunbändiges Lexikon, dessen Inhalt eigentlich auch digital vorliegt. Unsere Abteilung ist erst Ende November in dieses Gebäude eingezogen. Wann hat die Kollegin all das hier her gebracht?

Früher, als es noch kein Büromanagement und kein Verbot privater Möbelstücke am Arbeitsplatz gab, kam es regelmäßig zu Räumungen, wenn Mitarbeiter krank wurden und aus dem Dienst ausschieden oder aus anderem Grund nicht wiederkehrten. Es fanden sich dabei Kühlschränke, Toaster, Kassettenrekorder, Gartenstühle, Nachtkästen, fünfarmige Deckenstrahler, Wechselkleidung für alle Jahreszeiten und Hausschuhe. Viele der damaligen Mitarbeiter verbrachten ihr gesamtes Berufsleben, 40 Jahre, in der Institution. Ich glaube, sie rechneten einfach nicht mehr damit, dass das jemals vorbei sein könnte.

Es gibt immer wieder kleine Mondbeben. Meistens auf der Seite, die unserer Erde zugewandt ist. Was eventuell an der Gravitation der Erde liegt. Umgekehrt hebt und senkt sich die Erdoberfläche um ein bis zwei Meter, je nachdem wo der Mond gerade steht. Als der Mond der Erde noch näher war, bog und verformte sich unsere Oberfläche in erheblichem Maß.

In meiner anderen Aufgabe nage ich mich durch das Klassifikationssystem der psychischen Erkrankungen. Letzte Woche die Kapitel zum Formenkreis der Schizophrenien abgeschlossen. Es ist die erste Runde. In einem halben Jahr werde ich das alles noch einmal anders kennenlernen. Mein begleitendes Tier in diesen Wochen ist der Biber. Sein beharrliches Hineinraspeln in den Baum. Vielleicht habe ich schon einmal darüber geschrieben: Biber nagen den Stamm nie ganz durch. Sie hören rechtzeitig auf und lassen den Rest vom Wind erledigen. Ich mag diese Haltung. Selbstschutz. Und Vertrauen in die Elemente.
Nachtrag: Sie nagen die dicken Stämme nicht ganz durch, die dünnen schon.

Ich habe ChatGPT noch nicht ausprobiert, lasse mir aber gern von allen möglichen Leuten erzählen, was sie damit machen. Mehr als die Ergebnisse interessiert mich, welche Fragen die Fragenden stellen. Was die Person will, tut, erwartet, wie sie davon erzählt, worüber sie lacht, wie genau die Annäherung vor sich ging. Passenderweise lese ich gerade wieder Buber. “Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf. Wie werden wir von Kindern, wie von Tieren erzogen. Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.”

Angenagter Baum - Foto Simon Mer
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38109529

Schwelle

Am letzten Tag des Jahres fahre ich zum Fluss und lege meine Hand ins Wasser. Es ist nicht eiskalt, es hat ungefähr Oktoberkälte. Ich streife durch die Uferböschung, das Rot der kahlen Weidenzweige und das Beige des trockenen Schilfs. Im Kies drehe ich die Steine um. Ich habe hier noch nie einen grünen Stein gesehen, kann mir aber vorstellen, heute einen zu finden.

An Silvester mache ich nichts. Ich mache sogar den Fehler, um 22:30 Uhr mit einem Projekt anzufangen, das ich lange aufgeschoben hatte. Nach 20 Uhr zu arbeiten oder irgendwas erreichen zu wollen ist gegen meine Regeln. Ich habe sehr strikte Regeln, um mich davor zu bewahren ein unentspannter Mensch zu werden. Es läuft dann auch total frustrierend.

Am ersten Tag des neuen Jahres gehen wir auf einen Berg. An der Bergflanke traben Gämse durch kniehohes papiernes Gras. Die Tiere sind gut genährt oder haben ein dichtes Winterfell, auf die Entfernung ist das schwer zu sagen. Es ist so warm wie sonst im Oktober oder März, das letzte Stück legen wir im T-Shirt zurück und ich kriege Kopfweh, weil ich schnelle Temperaturwechsel nicht vertrage.

Mehrmals kommen Freunde zu Besuch, wir sitzen um den Tisch, liegen auf dem Teppich und stehen auf der Straße in milder Luft. Der Winter liegt schon weit zurück, die Ziegen des Nachbarn schlafen in der Sonne mit ihren lächelnden Gesichtern. Beim Lernen bin ich in den Kapiteln zu Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis angekommen. Es geht voran, dennoch muss ich ab Morgen das wöchentliche Pensum erhöhen. 2023 starten zwei Zusatzausbildungen, zwei Lerngruppen und voraussichtlich werde ich eine Weile in einer Einrichtung hospitieren. Ich kann es kaum erwarten, die Erkenntnisse und Fertigkeiten in meine Arbeit zu implementieren.

Den grünen Stein finde ich noch am letzten Tag des Jahres. Er liegt in der Bucht im flachen Flussbett, wo ich im Sommer häufig saß und dem Wasser zusah, wie es um mich herum vorbeifloss. Das Wasser hat mir geholfen. Viele Stunden darin zu sitzen. Eine leibliche Erfahrung zu machen, bevor ich verstehe, warum ich genau diese Erfahrung will. Unverhältnismäßig viel Zeit damit zu verbringen. Das Wasser so lang zu fühlen bis diese eine verkrustete Stelle in mir flüssig wird, nachgibt, die Kontrolle verliert. Das ist das Gegenteil von mir. Es ist das, was ich wollte, ohne es wollen zu können.

Dezember

Im Kurs sind fast alle krank oder verhindert, wir tanzen zu dritt; meine Lehrerin, eine andere Frau und ich. Wir sind vertraut miteinander, vertraut mit den Rhythmen des traditionellen ägyptischen Tanzes und dem arabischen Gesang. Daher sprechen wir kaum und die Lehrerin gibt keine Hinweise. Wir vollziehen unsere Bewegungen, lose zusammengehalten von Schrittfolgen, die Menschen vor rund zweihundert Jahren entwickelt haben, um sich fortzubewegen, zu feiern, einen Anfang zu machen, ein Ende.

Die dunklen Flecken des Mondes werden Mondmeere genannt, weil man sie ursprünglich für Wasseransammlungen hielt. Was für damalige Astronomen wie Ozeane aussah, sind Tiefebenen, Becken und Senken, oft rund, in denen erstarrte Lavadecken liegen. Entstanden sind sie vermutlich durch Einschläge, als der Mond noch jung war und sein Mantel flüssig.

Ich kann nicht genug betonen, wie aufregend ich die Fähigkeit eines Planeten, Steins, Tiers, Menschen finde, zu einer bestimmten Zeit seiner Existenz flüssig und später fest und vielleicht noch später wieder flüssig oder etwas anderes zu sein. Die Möglichkeit irdischer und außerirdischer Körper vom Moment der Zeugung oder Entstehung an, viele gewisse und ungewisse Stadien zu durchlaufen. Die nicht abgeschlossene Umgestaltung, selbst wenn dazwischen für 1 Milliarde Jahre mal Ruhe ist.

Den Mondmeeren wurden Namen gegeben. Sie heißen Meer der Kälte, Meer der Gefahren, Schlangenmeer, Meer der Begabung, Meer der Fruchtbarkeit oder Meer der Heiterkeit. Die meisten Namen stammen von dem Astronom Giovanni Battista Riccioli, der 1651 eine Karte der dunklen Mondflecken anlegte.

Auf dem Mond gibt es auch Erhebungen, flach aufgewölbte Rücken, die Berge genannt werden und maxmimal 100 Meter hoch sind. Die Berge tragen ebenfalls Namen, meist den eines Gebirges oder einer Person der Erde. Sie heißen zum Beispiel Karpaten, Mont Blanc, Berge des ewigen Lichts oder auch einfach mal Dieter.

Ich glaube für Mondbewohner ist Dieter der Gipfel, den man gut bei gleichgültiger Laune und mäßiger Kondition an einem Montag im Februar machen kann. Wenn sonst nichts ist.

Nachtrag: Nein. Es gibt auch hohe Berge auf dem Mond.
https://unendlichkeitsfiktion.de/i/

Am Tag vor Weihnachten gehe ich in den Wald. Die Waldarbeiter, die hier im Winter Nadelbäume fällen, lassen immer einen großen Haufen Zweige liegen. Direkt an der ersten Weggabelung. Ich weiß nicht, ob das eine Art Serviceleistung für das Dorf sein soll. Jedenfalls gehe ich mit einem Arm voll Zweige nach Hause und binde sie zusammen. Der Zweighaufen an der Weggabelung im Wald ist so groß - er könnte zwei Dutzend Kranzbinde-Workshops in einer beliebigen Stadt Deutschlands mit Material versorgen.

Ich habe eine sehr konkrete Erinnerung daran, wie meine Mutter und etliche Tanten Ende der Achtziger in einem Wohnzimmer voller Trockenblumen sitzen. Am Tag darauf hing in jedem Haushalt der weitläufigen Verwandtschaft ein Flechtwerk aus Disteln, Ähren und Lavendel an Eingangstüren oder Flurwänden. Diese Gestecke hingen dort zum Teil bis weit in die Neunziger.

Ich bin eine harte Linie gefahren im Dezember und habe 2/3 aller möglichen Veranstaltungen, Institutsfeiern, Konzerte, Umtrünke, zusätzlichen Termine im Rahmen der Fortbildung und zusätzlichen Termine im Rahmen der Tanzgruppe abgesagt. Und siehe da, ich kam zur Besinnung. Jetzt gegen Ende ist mir fast ein bisschen langweilig geworden. Ich fühle mich ausgeruht, friedlich und bereit für Kontakt.

Mondfoto: Helmut Adler www.fotodesigner.org

Weiterhin Winter

Es schneit in dicken Flocken. Beim morgendlichen Vorhangzurückziehen stellen sich tschechische Märchenfilmimpulse ein. Kurz lockt der Gedanke mit offenen Haaren und nichts als einer Schafwollweste überm Leinenkleid in den Schnee zu rennen, ehe beim Öffnen des Fensters dieser Gedanke im Keim erfriert. Diese Wochen sind nur mit Outdoorkleidung zu bewältigen. Outdoorkleidung der Sorte, die mehr mit Astronautenanzügen als mit Impulsen gemein hat.

Wenn ich in Sozialen Netzwerken Fotos sehe von Menschen, die vor winterlich anmutender Landschaft in knöchelfreien Jeans und lose um sich geschlungenen Schals Winter-coziness ablichten, weiß ich, dass bei denen nicht wirklich Winter ist. Dass diese Leute gerade einen etwas kälteren Tag in Texas erleben oder eine sachte Schneewehe im Süden Frankreichs.

Wenn hier Winter ist geht nicht mehr viel. Tagsüber ist das anstrengend, weil man ja doch manchmal einkaufen oder zu einer S-Bahnstation fahren muss und dabei alles mitnimmt: Schneegestöber, Glatteis, kaum Sicht, eingefrorene Schlösser, am Holzboden festgefrorene Stiefel.

Dafür sind die Nächte selten schön. Still und zugedeckt von der weißen Masse. Die Kapelle auf dem Feld unter einer orthodoxen Schneelast, noch entrückter als sonst.

Bei einem Onlinemeeting zu den Vorschriften im neuen Gebäude weist die Abteilungsleitung darauf hin, keine Nacktkalender mehr in den Büros zu dulden. Man muss sich das vorstellen. Meine Kolleginnen und Kollegen, die mitunter 7-8 Jahre brauchen, ehe sie einem das Du anbieten, die präferiert hochgeschlossene Kleidung in gedeckten Farben tragen, die auch nicht unter äußerster Bemühung ihres Willens dazu in der Lage sind, in der Anwesenheit einer anderen Person ein vulgäres Wort über ihre Lippen zu bringen. Von diesen Menschen soll jemand einen Nacktkalender in seinem Büro hängen gehabt haben, sichtbar? Natürlich verleitet mich die Erwähnung der neuen Vorschrift zu zeitintensiven Überlegungen. Wo könnte besagter Kalender gehangen haben; bei externen Mitarbeitern im Magazin, Praktikanten in den Ausweichbüros oder in einem der Lager, wo ausrangierte Mikrowellen und Tastaturen gestapelt werden? Ich unterstelle den übrigen Teilnehmern des Meetings ähnliche Erwägungen. Ein paar sehe ich verhalten lachen - stumm geschaltet.

Unterdessen habe ich es nicht geschafft vor dem Kälteeinbruch den kranken Baum im Garten zu beschneiden. Eigentlich spricht alles dafür, ihn zu fällen. Ich sag das nicht gern, aber es ist so: Dieser Baum bringt nichts. Und es braucht mindestens ein Peter Wohlleben’sches Verständnis vom Wert eines Baumes, um ihm einen etwaigen unterirdischen Nutzen bei der Versorgung anderer Bäume zuzugestehen. Oberirdisch ist der Baum eine Katastrophe. Aber ich will nicht vorschnell handeln und lasse mich gern von Gandalf erziehen: Man weiß nie wofür ein anderes Wesen noch da ist. Es war ja auch zum Schluss Gollum, der den Ring endgültig entsorgt hat. Und nicht Frodo. Wir erinnern uns.

Wenn ich das Geld zusammen habe, wird sich vielleicht ein professioneller Baumschneider das mal ansehen. Und dann schauen wir weiter. Es schneit immer noch. Es schneit den ganzen Tag.

Winter

In etwa vier Wochen beginnt die Paarungszeit der Füchse, ich habe bereits einen von ihnen auf den Schnee bedeckten Feldern herumturnen sehen. Die Anbahnung einer Fuchspartnerschaft ist kein leichtes Unterfangen. Bevor es zur Paarung kommt prüfen sich die beiden, indem sie miteinander kämpfen, sich zärtlich umschlingen und voreinander weglaufen. Dabei geben sie Laute von sich, die menschlichem Schreien nicht unähnlich sind. Ich war im letzten Januar einmal eine halbe Stunde Beobachterin, als zwei Füchse sich um den Weiher jagten, ineinander verknoteten und nacheinander schnappten. Man kann ihnen nur wünschen, dass der ganze Stress sich lohnt.

Gestern Abend bin ich am Ende des Herrn der Ringe angekommen und bewege mich auf die letzten Seiten zu. Die Handlung wurde für mich erst interessant, als die Beschaulichkeit des Shire, das ständige Essen, Singen und Verwandtschaft Antreffen vorbei war, ich habe mehrere Kapitel davon übersprungen und stieg wieder ein, als Frodo dem Auenlandplüsch den Rücken kehrt, die Tür hinter sich zumacht und geht.

Ich war zwanzig, als ich mit Fieber im Bett lag und die Trilogie zum ersten Mal las. Obwohl mir das Buch damals gefiel glaube ich im Nachhinein, nicht viel davon verstanden zu haben. Vermutlich die oben aufliegenden Worte und eine Ahnung vom Textkörper darunter. Vielleicht musste ich vierzig werden, ehe ich die Grenzen der einzelnen Figuren erfassen, ihre quälende Sehnsucht nach irgendwas und irgendwem teilen konnte.

Es hat mich diesmal sehr mitgenommen; die für die Gefährten von Anfang bis zum Schluss anhaltende Unsicherheit darüber, was zu tun ist und wie. Die permanent zu treffenden Entscheidungen, während es vorne und hinten an Informationen und Erfahrung mangelt. Die zunächst noch empfundene Stärke durch die Anwesenheit der Gruppe und das auf sich selbst zurück geworfen Sein, als diese Gruppe zerschellt. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist jeder und jede einmal vollkommen allein und muss absteigen in das Bergwerk des eigenen Ichs.

Es hat mich schier gekrümmt, wenn Eowyn davon berichtet, nichts zu kennen als Stagnation und Verfall. Ein Zustand, der sie im weiteren Verlauf wohl tatsächlich ereilt hätte, wäre sie nicht für eine Weile in die Kleidung, Rüstung und den Namen einer anderen Gestalt gestiegen. Dass diese Verfremdung nötig war und es für sie keinen anderen Weg gab. Die Filme stellen natürlich verkürzt dar, in den Büchern werden diese Passagen ausführlich erzählt.

Wie überhaupt alle Beteiligten konstant in ihren Gedanken Hin- und Herstolpern im Versuch, privates Glück zu konservieren bei fortschreitender Erkenntnis der Unmöglichkeit eines privaten Glücks im globalen Unglück. Daneben aber dennoch die Stunden von Freundschaft und Schönheit aufgenommen werden, nicht verschleudert. Dass es, auch wenn die Bücher von einem Jahr des Krieges berichten, um Erhaltung geht und Verbindung. Letztlich um eben das Singen, Essen und Kooperieren in einem Gefüge, dessen Ausmaß niemand überschauen kann.

An einer Stelle überreicht Galadriel Sam ein kleines Behältnis mit Erde. Sie sagt sinngemäß: Falls du diesen Krieg überlebst und falls es dann auf der Welt noch Orte gibt, in denen man Gärten anlegen kann, beginne mit diesem Behältnis, in dem etwas heil geblieben ist und nicht verbrannt.

Advent

Am Samstagabend sitze ich mit einigen Bekannten und Freunden in einem funktionalen Raum auf dem Boden und esse Pizza aus Kartons. Wir haben die Neonröhren ausgeschaltet, Lichterketten an das Flipchart und die Wanduhr gehängt, leise Musik angemacht und damit den Raum hinreichend weihnachtlich umgepolt. Es ist das Ende eines langen Tages und der Abend vor einem weiteren langen Tag und die meisten in der Runde sehen so erschöpft aus, wie man nur aussieht, wenn grundsätzliche Dinge einmal komplett auf links und im Anschluss wieder zurückgedreht wurden.
Ich bin auch müde und unterhalte mich mit meinem Nebensitzer auf dem Boden und frage ihn dabei nach dem für ihn wichtigsten Satz in einem bestimmten Film und er überlegt eine Weile, beugt sich vor, sagt den für ihn wichtigsten Satz und dann kommen ihm die Tränen. Ich schaue in sein Gesicht und denke, dass das meine neue Realität ist: umgeben zu sein von Leuten, die ungefähr in der Mitte ihres Lebens angekommen sind, einigermaßen versehrt dastehen, zulassen, dass dieses Leben sie weiterhin trifft und beschlossen haben, nicht dicht zu machen.

Dann springt die Playlist zu Bowie, ich stehe auf, drehe lauter und tanze, während ich damit hadere, immer der Depp zu sein, der anfängt mit dem Tanzen; diese Entäußerung, mein Körper, der Hunger nach allem. Ich versuche mich abzufinden mit meiner unfreiwilligen und nur halb gewählten Tendenz, Anschauungsmaterial abzugeben. Es kommt dann aber anders und Bowie hat noch nicht zu Ende gesungen, als ein recht großer Teil der Anwesenden neben und mit mir tanzt und erst kann ich es nicht begreifen und als ich es begreife macht etwas in mir: oh.

Am Dienstag darauf sind die Pfützen auf den Straßen eingefroren und spiegelglatt, ich fahre ins Büro, arbeite ein paar Stunden und friere in dem ausgekühlten Gebäude. Es ist eines dieser Gebäude, die prinzipiell irgendwann warm werden, in dem Finger und Füße aber durchgehend kalt bleiben. Die gefürchteten zitronengelben Institutsregale, die zwei Jahrzehnte in einem Magazin standen und nun mein Büro bestücken sollen, wurden angeliefert und stellen sich als ockerbraun heraus. Ich bin erleichtert. Zitronengelb ist eine so hässliche Farbe und sie hätte mich aufrichtig gestört. Gegen Mittag bemerke ich, den ganzen Tag noch keine anderen Mitarbeitenden angetroffen zu haben, die Türen sind zu, auf dem Gang nichts zu hören. Ich gehe in die Teeküche, um mir einen Tee zu machen und sehe das:

So sind sie, meine Kollegen. Langsam zum Zorn, ausdauernd und regeltreu, gehemmt beim Smalltalk, fair und loyal, vergnügt wenn keiner hinsieht. Ich bin sicher, der oder diejenige, die das getan hat, kam heute extra um 5:30 Uhr rein, kauerte mit verdrehten Knien und Pinzette in der Hand eine Stunde vor diesem Altar der Detailverliebtheit und glomm vor kleinteilig organisierter Lust. Solche Menschen stürzen kein Regime. Ist ein Regime aber erst mal gestürzt, leisten sie hervorragende Aufbauarbeit, archivieren die Vergangenheit und verschicken an alle den Link mit den Zugangsdaten.

Eine Etage tiefer

Am Mittwoch das Handy zu Hause vergessen, den Tag als Detox verbucht. Es liegt Raureif auf den Feldern, jeder Grashalm grenzt sich kristallin vom nächsten ab, das Licht zersplittert an den Zweigen. Ich habe den Übergang geschafft und bin in der Kälte angekommen, schlafe länger und ziehe drei Pullover übereinander, wenn ich vor die Tür gehe. Mit dem Lernen geht es voran, auf Dunkelheit und Reizarmut ist einfach Verlass.

Eine Nachbarin hat uns eingeladen. Sie ist 70 und lebt so, wie ich mit 70 leben will. Manchmal, wenn ich an den bodentiefen Fenstern ihres Hauses vorübergehe, sehe ich sie zusammengerollt in einem Sonnenquadrat auf dem Teppich liegen. Wie eine Katze. Vor zwei Jahren ist sie beim Klettern am Berg abgestürzt und musste gerettet werden. Sie ist schon immer geklettert, hat dabei einige Freunde verloren und war recht verblüfft, dass ihr jetzt tatsächlich selbst so ein Absturz passiert. Während sie die Felskante runterschlitterte und sich überschlug gingen ihr drei in sich abgeschlossene Gedankengänge durch den Kopf. Alle drei hatten mit Liebe zu tun.

Im Keller die Fotokiste gefunden, raufgenommen und im Wohnzimmer auf dem Boden ausgeleert. Alles nach Jahrzehnten systematisiert, eingetütet und zurück in die Kiste gelegt. Gemischte Gefühle gehabt.

refuse no longer cautious animal
no harm, no harm
will the river bring
to the raw element you are

Hier sind wir nun also

Ich war mir der Verwöhnung bewusst, jahrelang in einem der schönsten Viertel Münchens gearbeitet zu haben. Es bestand auch im Kolleginnenkreis kein Zweifel über die Verschlechterung, die ein Interimsquartier, wo auch immer es liegen mochte, zwangsläufig sein musste. Und es hat in Gesprächen zum bevorstehenden Umzug niemand gejammert ohne den Hinweis auf das hohe Niveau der Jammerei, die zeitgleich anderswo stattfindenden Kriege, die schonungslose Zerstörung von Ökosystemen und Verarmung von Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Zu Letzeren habe ich bis vor gar nicht langer Zeit selbst gehört. Das ist der Kontext.

Innerhalb dieses Kontexts fuhr heute Morgen eine U-Bahn in den Stadtteil ein, in dem hundertfünfzig Mitarbeiter und ich nun eine Weile lang (5-10 Jahre) in einer Büroscheibe verräumt sein werden. Ja, so heißt das wirklich: Büroscheibe. Und wenn man drin wohnt, heißt es Wohnscheibe. So steht es geschrieben. Genauso wie: Gebäudespangen, Streckenast und Einkaufsriegel. Ich mag die Architektursprache und finde sie gleichzeitig so abartig, enthoben und kapitalismusversaut, dass ich sie nur benutzen kann, wenn ich sie nicht ernst meine. Ich sitze also heute Morgen in der U-Bahn, die auf diesem Streckenast oberirdisch fährt und sehe aus dem Fenster. Anstatt zu beschreiben, was in mir vorging, trage ich hier mal zusammen, wie es zu diesem Stadtbild kommen konnte.

Der Wohnungsnot in den 60’er Jahren antwortete der Münchner Stadtrat mit dem Bau von Entlastungsstädten. Satelliten im abgelegenen Norden, Westen und Süden der City. Die Planungsgruppe unter Egon Hartmann (Karl-Marx-Allee, Berlin) erarbeitete für das Areal im Süden einen vielschichtigen Entwurf sich wild kreuzender Bedürfnisse. Das heißt leben, trinken, arbeiten, auf Leute treffen, mit denen man gar nicht verabredet war, fürs Abendessen einkaufen, noch raus zum Fußball spielen, im Atelier versacken oder doch zum Konzert - war alles so verdichtet, dass es einer gewachsenen Stadt sehr nahe kam. Die Natur war in diesem Entwurf nicht in die kleinteilige Begrünung von Wohnanlagen verbannt, sondern rankte in großen Ringen und Flächen um die Stadt herum und über die Parks in sie hinein.

Dieser Entwurf wurde auf Wunsch der Stadt im Sinne einer wirtschaftlicheren Bauausführung erst zurückgeschnitten und dann zugunsten einer klaren Trennung von Wohn- Einkaufs - und Bürozonen komplett aufgegeben. Bürgerhaus, Volkshochschule, Bibliothek, Sportplätze, Kino, Musikkonservatorium, Künstlerhof, Eislaufen, Hallenbad entfielen ersatzlos.

Eugen Hartmann sagte die Degeneration dieses künftigen Stadtteils voraus, beteiligte Architekten distanzierten sich, noch während der ursprüngliche Entwurf abgeändert wurde, um den Prämissen einer autogerechten Verkehrsführung, gleichförmiger Gebäudeausrichtung und Ausdehnung der Wohnriegel zu entsprechen. Es half nichts. Es fand sich einer, der das umsetzte.

Der erste Künstler, der dann 1969 in dieser Entlastungsstadt etwas tun durfte, buddelte einen vier Meter tiefen Trichter in die Erde und nannte ihn: Munich Depression.
Stieg man in den Trichter hinab, verschwanden die Gebäude aus dem Blickfeld und nur ein Stück freier Himmel blieb übrig. Der Künstler hatte sofort verstanden, wie man hier nur zurechtkommen konnte. Den Trichter gibt es nicht mehr. Er wurde überbaut.

Zurück zu mir und meinen hundertfünfzig Kolleginnen und Kollegen. Die Stimmung ist gut. Sie ist geknickt, aber gut. Wir haben die Büros bezogen, wir haben den halbleeren Edeka gefunden, wir haben gefühlt, dass wir uns in einer nicht für Menschen gemachten Architektur befinden und das akzeptiert. In die neue Küche setzt niemand freiwillig einen Fuß rein, aber jeder bleibt an dem Teetisch in meinem kleinen Raum ein paar Minuten stehen und wärmt sich auf. Einmal sind es 9 Menschen gleichzeitig, was eine große Summe ist, eine dichte Zahl, eine synaptisch interessante Atmosphäre, die wir erschaffen, während sie draußen nicht existiert.

Wie kommt das Wasser auf den Berg?

Seit etwa zehn Jahren gehe ich in die Berge, im Sommer sehr oft, im Winter manchmal. Jedes Mal, wenn ich dort bin, kommt der Moment, an dem ich aus einem Bach trinke und mich frage, warum Wasser in dem Bach ist. Woher der Bach oder die Quelle das Wasser nimmt. Mittels einer einminütigen Googlerecherche lässt sich diese Frage beantworten. Warum ich das nie direkt auf dem Berg, gleich nach dem Trinken erledigt habe, weiß ich nicht. Sobald ich zu Hause war, waren alle Gedanken an Bäche vergessen und ich bin zehn Jahre unwissend herumgelaufen.

Meine Mitwanderer sagen in der Regel: Schmelzwasser. Oder Regenwasser. Wenn im August aber alles staubtrocken ist und es vier Wochen nicht geregnet hat, macht das keinen Sinn. Die nächste Antwort lautet: Unterirdisch. Das Wasser wird irgendwie unterirdisch durch den Fels geleitet und kommt an einem Punkt raus. Dann müsste es aber riesige unterirdische Wasserreservoirs geben, die weit oben am Berg, nur wenig unterhalb des Gipfels liegen, denn auch so weit oben, sprudelt es heraus. Nonstop. Die Wasserspeicher können auch nicht im Tal oder auf halber Höhe des Bergs liegen, weil Wasser nicht ohne Druck aufwärts fließt und der Kapillareffekt in der Größenordnung vermutlich nicht greift. Ja, es hat mich wahnsinnig gemacht. Aber immer nur ein paar Sekunden und dann sind wir weitergegangen und es war vergessen. Letzte Woche endlich habe ich auf einer Wissen für Kinder - Seite nachgeschaut. Und damit das jetzt ein für alle Mal für mich klar ist, fasse ich es hier zusammen:

Das Wasser in den Quellen ist ursprünglich Schmelzwasser und Regenwasser, das in den Berg einsickert. Also in die Gesteinsschichten, in Hohlräume und buchstäblich in die einzelnen Steine selbst einsickert. Denn: Steine nehmen Wasser auf und geben es sehr langsam, durch winzige Poren wieder ab. Es gibt Steine, die noch Wochen nach einem Regenschauer Wasser aus sich herausfließen lassen. Unfassbar.
Steine sind wasserdurchlässig. Bei festen Gesteinsarten dauert das sehr lang, bei Sandstein geht es schnell. Das aus den einzelnen Steinen, Spalten und Hohlräumen herauströpfelnde Wasser, trifft manchmal im Berginneren auf eine undurchlässige Schicht - zum Beispiel eine Tonschicht. Auf der Tonschicht staut sich das ganze Wasser und sprudelt am nächstbesten Loch, der Quelle, gesammelt hervor.

Ich schreibe erst jetzt darüber, weil ich doch fast die ganze Woche gebraucht habe, das mit den Steinen zu verkraften. Ich habe immer ein paar Steine zu Hause neben meinem Bett liegen und verbinde mit ihnen alle möglichen Zustände, zum Teil mir selbst unklare und unaussprechbare. Und jetzt zu erfahren, dass sie winzige Poren haben und bei aller Festigkeit auch Schwamm sein können, Speichermedium für etwas Flüssiges, also das genaue Gegenteil ihrer vordergründigen Qualität aufnehmen, in sich halten und wieder abgeben können. Mich macht das sehr glücklich. Es macht mich rasend vor Glück.

Elf

Zwei Jahre habe ich die provisorische Homeofficesituation ausgesessen bis mir nun langsam klar wird, wie ich die zur Vermehrung neigende Technik feierabendkompatibel verräumen und am andern Tag mit wenig Aufwand aufbauen kann. Es haben sich Geräte und gadgets angesammelt, aber kein Arbeitszimmer, in dem sie unauffällig auf mich warten könnten.

Im Ofen brennt jetzt jeden Tag ein Feuer. In die Glut schauen und synchron zur Freude darüber an andere Städte und Menschen denken. Diese zufällige Sicherheit. Wäre man nur 2-3 Länder weiter oder 3-4 Jahrzehnte früher geboren, die eigene Belastung, mit der man sich aktuell trägt, schiene erstrebenswert und leicht im Vergleich.

Ich höre, wie solche und ähnliche Sätze auch gesprochen werden, um persönliche komplizierte Gefühle mit einer Hand vom Tisch zu wischen. Der Verweis auf das akutere Leid anderswo. Ich betrachte diesen Verweis neben seiner einordnenden Funktion privater Umstände auch als Flucht ins Unendliche. Als eine Überholspur, um an der konkreten eigenen Situation vorbeizuziehen. Ich kenne von mir diese Überforderung und den daraus resultierenden Aktionismus/Verweis auf dringendere Angelegenheiten und weiß, dass ich diese Tendenz zähmen muss, um hilfreich zu sein. Dass es meine Konzentration und Auseinandersetzung mit dem Konkreten braucht, um das Machbare zu tun, für mich und für andere.

Ich habe jetzt eine Wintersporthose, die warm genug ist, mir Lust auf fallende Temperaturen zu machen. Es war ein weiter Weg, der nicht aufgrund mangelnder Bereitschaft meinerseits lang wurde. Auch die jetzt erstandene Hose ist optisch nicht ganz aus dem Skizirkus raus, hält sich aber zumindest zurück, nur am Bein reflektiert eine Naht und ein unnötiger Schriftzug auf Höhe des Oberschenkels könnte mich ärgern. Ich tue so, als sei er nicht da.

Der letzte Tag im alten Arbeitsgebäude. Das brutalistische Treppenhaus, dessen Betonstille mich oft beruhigt hat, während ich in den vierten Stock rauf stieg, wird eingerissen und niemanden mehr durch sanftes Grau geleiten. Das Moos des Dachgartens in seiner Neonleuchtkraft glüht noch nach in meinen Gedanken.

Fluss im November

In der Arbeit verläuft ein Meeting, das potentiell eskalieren könnte, komplett konstruktiv. Sowas passiert an unterschiedlichsten Orten in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder. Es gibt viele Menschen, die besonnen handeln, obwohl ihnen einiges abverlangt wird.

Als ich am Freitag die Leiter an den Apfelbaum lehne, bleibt ein Nachbar am Zaun zur Straße hin stehen. Wir plaudern eine Weile über Apfelsorten, ehe er seine im Juni verstorbene Frau erwähnt, die lange Krankheit und den Abendspaziergang jetzt zum Friedhof. Der Nachbar hat wasserblaue Augen und ein offenes Gesicht, in seinem Garten wachsen hundertjährige Bäume, seine Frau und er haben die Schneiderei im Ort betrieben, als es die Schneiderei noch gab. Ich habe den Mann vorher noch nie gesehen. Vermutlich war er in der letzten Zeit bis zu ihrem Tod häufig drinnen.

Zwei Tage bin ich sehr unruhig und verfalle einer dummen Gewohnheit, die sich immer einstellt, wenn ich unruhig bin. Dann bitte ich jemanden mich dabei zu unterstützten, der Unruhe auf den Grund zu gehen. Im Anschluss ist es besser. Ich sitze auf dem Sofa und tue buchstäblich nichts. Bade in dem Gefühl, nicht von mir selbst gejagt zu werden. Die Ruhe bleibt auch die folgenden Tage. Es fällt mir immer erst ganz zum Schluss ein, jemanden um Hilfe zu bitten. Es ist wirklich das letzte, was ich tue. Ich habe jetzt ca. 300 Mal die Erfahrung gemacht, wie mir fast alle, die ich darum bitte, gern und sofort helfen. Ich bin nicht mehr weit davon entfernt, zu glauben, nicht allein durch diese Welt gehen zu müssen.

In den Bergen sehen wir Fliegenpilze und erinnern uns an die Kalte Platte unserer Kindergeburtstage. Ei, Tomate, Mayonnaise. Wer kommt auf sowas. Wie gelangweilt muss man sein. Es führt kein Weg dran vorbei - der Fliegenpilz kommt dieses Jahr aufs Silvesterbuffet.

Am Wochenende treffe ich viele Leute und werde regelrecht aufgeschwemmt von Begegnungen. Ich mag diese Ausdehnung. Das Umfeld ist sicher genug, dass ich entspanne und verspielt werde, während gelgentlich Situationen um die Ecke kommen, die mich sehr fordern und überfordern. Am Morgen danach sitze ich am Fluss. Eine Stunde fließt er vorüber und hört nicht auf zu fließen.

lose Enden

Eine Freundin und ich unterhalten uns darüber, ob es einfacher wäre, eine einzige stark ausgeprägte Begabung zu haben und dahinter nur schwach oder kaum ausgeprägte Talente, die eindeutig zurückfallen und nicht vertiefenswert erscheinen. Die Idee, beispielsweise Cello spielen zu können und das richtig gut. Daneben aber ein miserabler Gastgeber, eine untermittelmäßige Gärtnerin, ein unmotivierter Freizeitsportler und eine lausige Programmiererin zu sein. Es bliebe einem nichts anderes übrig, als Tag und Nacht Cello zu spielen.

Der Gedanke, in irgendetwas sehr gut zu sein, birgt das Versprechen, sich dann auch sehr gut zu fühlen. Während der Ausblick, vieles mittelgut zu können und parallel zu bedienen, mittelmäßige Gefühle hervorruft.

Um mich in meinen vielen halbausgebauten und weit gestreuten Talenten zu genießen, muss ich daher gelegentlich den Wunsch nach Spitzenleistung verabschieden. Ungefähr alle 14 Tage.
Ich bin bereits einigermaßen routiniert darin, meine Mittelmäßigkeit zu feiern und könnte mir vorstellen, darin richtig gut zu werden. Dann wäre das mein Cello und ich hätte es doch noch zu etwas Außerordentlichem gebracht.

Nachts stehen jetzt wieder häufig Tiere in dem kurvigen Wald auf der Straße und funkeln mit ihren Augen in mein Scheinwerferlicht. Füchse, Rehe und wieselartige Nager. Ich schleiche im 2. Gang an ihnen vorbei und sage: Ihr seid so schön! Ihr seid die eigentlichen Bewohner dieser Welt. Und wir sind nur Müll.

Ein bisschen Menschenhass. Muss auch mal sein. Man kann nicht immer liebevolle Gefühle hegen.

In der Institution läuft es unauffällig. Im zweiten Job läuft es auch. Am besten läuft es am Wochenende in den Bergen. Einmal gehen wir in Kälte und Nebel rauf, einmal in dünnem Sonnenlicht, es werden Pläne für Zimtschnecken gemacht und Dinge besprochen, für die man weit weg sein muss von Zuhause.

Was heißt hier Dunkelheit?

Nur diejenigen, die mehrmals gestorben sind, leben. Es führt kein Weg an meiner Dunkelheit vorbei. Mir bleibt lediglich überlassen, mit welcher Haltung ich mich auf sie zubewege. Ob mich das Leben dahin schleppen muss oder ich freiwillig reingehe.

Wenn ich nach vorne schaue, sehe ich, dass ich alles verlieren werde:
- alle meine Freunde
- alle meine Fähigkeiten
- jede Unabhängigkeit
- meinen Verstand
- meinen Körper, den ich mittlerweile so liebe

Jedes Etwas wird zu irgendeinem Zeitpunkt gehen, wegsein, sich auflösen. Am Ende auch meine Spiritualität. Das leite ich daraus ab, dass Jesus, der vermutlich ziemlich spirituell war, in der Stunde vor seinem Tod sagt: Mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Auch er hat also, zum Schluss, alles, wirklich alles verloren. Es ist nichts von ihm übrig geblieben. Nachdem er so weit gekommen war, Menschen heilen zu können, indem er sie nur ansieht, berührt, mit ihnen spricht oder mit ihnen Wein trinkt, bricht alles wieder weg. Zuletzt die einzige Person (Gott), die er bis dahin immer in sich wahrnehmen konnte. Man könnte von einem totalen Kollaps seiner Wahrnehmungsfähigkeit sprechen. Was nach stundenlanger Folter nicht verwunderlich wäre.

Ich denke, dass diese Art von Verlust manchmal sein muss. Ich hasse diesen Gedanken, aber ich halte ihn für wahr. Er deckt sich mit dem, was mir auch in anderen Denkschulen, Religionen und Naturphänomenen wahr vorkommt.

In der christlichen Mythologie kommt Jesus nach 3 Tagen und Nächten von den Toten zurück. Er hat einen umgestalteten Körper und ist irgendwie anders. Er ist so anders, dass seine Freunde, als sie ihn treffen, nicht gleich kapieren, dass er es ist. So anders ist er. Um sich auszuweisen, zeigt er ihnen seine Wunden. Die sind noch da. Einer der Freunde legt den Finger direkt in die Wunde. Ich finde das recht intim. Von beiden Seiten. Sich nah zu sein, wo es weh tut.

Ich glaube, darum geht es. Dass ich häufig sterbe und häufig anders werde. Reingehe in meine Dunkelheit, dort nach mir taste. Ob es 3 Tage und Nächte dauert oder 3 Jahre spielt keine Rolle. Die Zahl ist eine Metapher für eine magische Zeit, in der ich Dinge erlebe, von denen nur ich weiß. Und über die ich später nicht berichten kann.

Legolas

Es gibt ein spezifisches Herr der Ringe Wetter und eine spezifische Herr der Ringe Jahreszeit.

Während dieser Jahreszeit muss ich häufig über die einzelnen Figuren der Tolkienwelt nachdenken, nachlesen, was sie genau gesagt haben und wie ihre Entwicklung verlief.

Wenn ich während dieser Zeit mit Freunden wandern gehe, verstricke ich alle in ein mehrstündiges Abwägen darüber, wer von uns Aragorn, Gandalf, Frodo, Eowyn, Gimli usw. ähnelt, was das für unser weiteres Leben bedeuten könnte, welche Leiden vor uns liegen, welche Wendungen und Aufgaben.

In dieser Zeit kann ich dann auch meist 3-4 Sätze Elbisch sprechen und eines der Waldelbenlieder singen, ich kenne die Zweit- Dritt- und Viertnamen der wichtigsten Beteiligten und weiß was ihre Vorfahren im Second Age getan haben.

Der Herr der Ringe hat viel zu bieten, aber eindeutig zu wenig unterschiedliche Frauen, zu wenig nichtweiße Figuren und keinen einzigen Ork, der nach reiflicher Reflexion die Seiten wechselt. Und natürlich das Hauptproblem: die eindeutigen Seiten. Insgesamt ist der Herr der Ringe so wenig gesellschaftskritisch, so furchtbar hierarchisch, pathetisch und fixiert auf Geburtsrechte, dass es einem immer wieder den Magen umdreht.

Es reicht dann als Märchen, Seelenreise und Geschichte menschlicher Pfade aber doch weit genug, um mich seit zwanzig Jahren zu trösten, wenn Freundschaften eine schwierige Kurve nehmen oder ich mich mit mir selber im Unbekannten wiederfinde. Ich habe sie immer vor Augen - die Neun. Und die anderen darum herum. Ihre Waffen, Schwächen, Talente und Verluste. Und die Verbindungen, die sie eingehen, ohne zu wissen, was daraus wird.

Nächstenliebe

Samstagabend tanzen gegangen, vier Stunden, ohne Alkohol, ohne Drogen, ohne Reden, in einem Raum mit 170 Menschen, die wegen dem Tanzen kommen und Lust auf diese Einschränkung haben. Ich interessiere mich für meine Nüchternheit. Ich kann nüchternen Gefühlen etwas abgewinnen; meine Unsicherheit am Anfang, meine Angst vor Ablehnung, meine Angst vor Zuwendung, meine Aufgeregtheit vor jeder körperlichen Begegnung, selbst wenn sie berührungslos verläuft. Wenn ich an meiner Seite bleibe, mich nicht betäube, nicht ablenke, verwandeln sich die schwierigen Gefühle. Ich habe diese Erfahrung oft gemacht, ich weiß, dass sie sie eintritt. Ich weiß, der Rausch kommt. Ich bin der Rausch, der Rausch bin ich.

Nach dem Tanzen esse ich ein Snickers, trinke Wasser und steige in die S-Bahn. Es ist Mitternacht und ab jetzt alles gleichzeitig: Wiesn, Messe, Security, von Regen und Zuckerwatte heruntergewirtschaftete Kinder mit abwesenden Augen zwischen sturzbetrunkenen Erwachsenen in teuren Trachten und Jugendlichen in Brathendlkostümen. Eine Weile höre ich minderjährigen Engländerinnen dabei zu, wie sie rekapitulieren, wer wen wann auf welcher Bierbank angefasst hat, dann schweift mein Blick zu einem Mädchen, das einen Bund Radieschen aus ihrer Rocktasche zieht und mitfahrenden Männern zur Verköstigung anbietet. Die Männer essen die Radieschen und lachen. Ungefähr da merke ich, dass etwas nicht stimmt.

Ich bin schon oft in Ohnmacht gefallen. Es fängt mit Hitze an. Ungewöhnliche Hitze. Ab da habe ich noch circa 2 Minuten, um die richtige Entscheidung zu treffen. Die richtige Entscheidung ist immer, mich an Ort und Stelle hinzulegen, die Füße gegen die Wand zu lehnen und jemanden zu bitten, kurz mal auf mich aufzupassen. Leider aber lässt die Fähigkeit, rational zu handeln, sofort nach Auftreten der Hitze, rapide nach. Ich habe mich daher nicht auf den Boden sinken lassen und nicht die Beine hochgelegt, sondern eine Gruppe schwer lallendender junger Erwachsener angesteuert, um mich einen Moment auf dem freien Sitz neben denen auszuruhen.

3 Stationen später haben mich diese jungen Menschen aus der S-Bahn gezogen, ihre Strickjacken unter meinen Rücken geschoben und den Notartz gerufen, was nicht nötig gewesen wäre, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr erklären. Was ich trotz partieller Abwesenheit registrierte war, dass ein sehr liebevolles, besoffenes Mädchen namens Anna auf dem Asphalt saß, meinen Kopf hielt und dabei ihren schweren kühlen Busen auf meiner Stirn ablegte, dass jemand wiederholt versuchte, mich in die stabile Seitenlage zu drehen, während ein Mann namens Tobi sagte, er sei Ersthelfer in seinem Büro und die stabile Seitenlage sei falsch, dass darauf Anna mein Handy aus meinem Rucksack kramte und mehrmals: PIN, was ist deine PIN, rief, um dann die Bezugsperson anzurufen, die ich ihr nannte, um dann mit dieser auf sehr süße betrunkene Weise Denglisch zu sprechen, obwohl meine Bezugsperson einwandfrei Deutsch antwortete, wie sie das immer tut und immer getan hat.

Der Notarzt kam und meine Bezugsperson kam und die Nachbarfreundin kam und alle Werte waren okay und nichts Schlimmes passiert und Anna und Tobi und noch ein Anderer winkten und torkelten weiter und alles wurde gut und nächste Woche kaufe ich einen Tragerl Bier und bring das meinen Rettern vorbei, weil die Nachbarfreundin die kennt und weiß wo die wohnen.

Und so ist das. Manchmal gibt man viel Liebe und manchmal empfängt man viel Liebe. Und während 170 Leute nüchtern nach Hause gehen, wanken Hunderttausende ohne Impulskontrolle durch die Stadt. Und alle begegnen sich und keiner weiß, was an diesem Abend noch passiert.

Drinnen

Zwischendurch beansprucht eine Schreibaufgabe meine Aufmerksamkeit. Jetzt passt das schlechte Wetter wieder, denn ich muss mehrere Stunden Nachdenken und Notieren im Wechsel, was bei Sonnenschein eine Qual ist und nervt und nicht geht.

Am Montag auf einen sehr beliebten Berg gegangen, Apfelschorle getrunken und wieder runter getrabt. Kurz vorm Gipfel das für mich neue Phänomen; der Fels von hunderttausenden Händen, die sich daran raufgezogen haben, abgerundet und speckig. Wie Heiligenstatuen an Pilgerstätten.

Zurück im Garten pflanze ich Weiden und antizipiere das Geräusch, das ihre Blätter im Wind machen werden in 3-4 Jahren.
Im Bauernhaus nebenan ist ein Mann ausgezogen, den ich für so was wie den Hoferben und eine Instanz im Dorf hielt und der mir noch vor meinem Einzug über den Zaun seinen Namen zurief und sagte: Wenn du mal eine Motorsäge brauchst, sag Bescheid.

Es stellt sich heraus, dass er weder Hoferbe noch Instanz war, was eine Art kleine Erschütterung in dem eng gehäkelten Gefüge meines Bildes von dieser Nachbarschaft ist, die nicht so eng gehäkelt ist, wie ich das manchmal fantasiere.

Was aber genauso idealisiert ablief wie erwartet, war die Versorgung und Aufpäppelung der älteren Dame mit Oberschenkelhalsbruch, wohnhaft in dem gleichen Bauernhaus nebenan. Wochenlang rückten Verwandte, Bekannte und scheinbar von der Kirche abgestellte Helfer mit Fresskörben, Getränkekisten und Medikamenten ein, kochten, putzten, plauderten und rauchten anschließend eine Zigarette auf dem Balkon der Dame. Sie kann jetzt wieder gehen.

Derweil gibt es für mich bei weiter prognostiziertem Starkregen und Dauerregen keine Ausrede mehr, nicht mit dem Lernen anzufangen. Der Sommer kommt nicht zurück, auch wenn ich bockig die Tasche mit den Büchern ignoriere. Ich weiß, es wird mir wieder Spaß machen, sobald ich die erste Seite im Kopf habe, doch der von Mai bis August angemästete Schlendrian deutet auf die Wetterapp und sagt: Morgen, 12 Grad, trocken bis heiter, da könnte man doch noch mal baden gehen.

Wieso

Mit dem zur Seite kippenden Wetter komme ich schlechter zurecht, als erhofft. Ich bin noch nicht bereit für den Rückzug in Räume, zweifel aber auch an meiner Robustheit, d.h. der Fähigkeit bei weiter fallenden Temperaturen länger als 1-2 Stunden täglich draußen zu sein. Es gibt hier noch echte Winter, echte Kälte, Schnee schippen, Schneeverwehungen, wochenlang vereiste Straßen. Ich darf mich nicht reinsteigern.

In der Institution sind zwei Paletten fremdsprachiger Bücher eingetroffen. Am Dienstag sind die Bulgarischen über meinen Schreibtisch gewandert, Französisch und Türkisch folgten. Seit dem Frühjahr sitzt gelegentlich eine französische Kollegin im Büro. Ich mag ihr Seufzen und Lächeln, wenn sie die Stapel auf meinem Tisch entdeckt und in ihre eigene Sprache hineinblättert.

Mit Freunden an dem einen schrecklich aufgemotzten und uferverbauten See vorbei gefahren, um in das dahinter liegende abseitige Tal zu gelangen, wo eine kleine Bergkette mit teilverwilderten Aufstiegen zu einer unauffälligen Anhöhe führt. Dort im Gras gesessen. Geredet. Später Wasserschlacht.

Wertstoffhof. Ähnlich irrealer Moment wie beim ersten Einkauf in den Supermarktfilialen hier. Vor allem die Leere, Weite, die Neutralgelauntheit und Kontaktfreudigkeit des Personals. Es ist eine Umkehrung meiner Erfahrung mit öffentlichem Raum der letzten 10 Jahre in München. Niemand schreit, dreht durch oder beschallt einen mit politischer Gesinnung und schlechter Musik.

Daneben die Frage: Wo sind die psychisch Kranken hier? Wo sind die Instabilen, Gefährdeten, zu Grunde Gerichteten? Gibt es insgesamt weniger Gebrochenheit in dieser Gegend? Ist sie anders gedeckelt oder besser aufgefangen? Ist alles mehr heil? Drehen die Menschen in Großstädten nur ständig durch, weil sie zusätzlich zur individuellen Belastung auch konstant reizüberflutet werden?

Zumindest ich werde normaler in diesem Umfeld. Es ist noch nicht lange her, dass ich 1-2 Nächte pro Woche gar nicht oder kaum schlief. Wach lag bis 4 oder 5 Uhr, total übersteuert. Aufgescheuert bis an den Rand der Aufnahmefähigkeit, trotz Atemübung, Yoga und dem ganzen anderen Kram. Ich war überzeugt, ich kann besser werden, ich kann mich optimieren, die Nachbarn ausblenden, den Verkehr ausblenden, die Hubschrauber, Straßenfeste, die Geschwindigkeit und Baustellen. Ich wollte so gern stadtfähig bleiben.

Was hätte ich gemacht ohne meine relative finanzielle Stabilität, meine Hautfarbe und kulturelle Angepasstheit, die es mir erlauben, einen Gebrauchtwagen und Gartenmöbel anzuschaffen und mit offenen Armen von konservativen Vermietern zur Besichtigung ihrer kleinen renovierten Landhauswohnug eingeladen zu werden? Ich hätte die Nerven verloren. Wie die Kinder meiner Nachbarn in der damaligen Stadtwohnung, die jeden Tag stundenlang brüllten. Jeden Tag. Jeden Tag. 5 Jahre am Stück.

Je länger ich hier bin, desto lebendiger werde ich. Ich habe sogar wieder Lust auf Lautstärke. Ich tanze bei sich bietender Gelegenheit, ich drehe die Musik lauter, wen sie ohnehin schon laut ist, ich gehe vermeidbare Konflikte ein, provoziere Wasserschlachten, halse mir komplexe Aufgaben auf und will rangeln. Manchmal sage ich es mir, vor dem Einschlafen im Bett, immer noch etwas ungläubig: I’m back to my old self.

Und Sama’ Abdulhadi. Ich mag sie sehr. Das nächste Mal wenn sie in der Stadt ist, werde ich auch mit ihr tanzen. Everbody is like everybody [Sama Abdulhadi]