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Donnerstagnacht fahre ich beinahe ein Reh an. Es ist ein kleines Reh, die älteren Tiere der Herde sind bereits über die Straße gerannt, ich sehe sie spät, aber noch rechtzeitig, drossel das Tempo und weiche aus, als rechts aus dem Gebüsch ein Kleines heraus springt, um zu den anderen aufzuschließen. Ich bremse hart und komme wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen. Die nächsten 24 Stunden fühle ich mich deutlich weniger robust als sonst. Eine Kollegin, die mit mir plaudern will, wimmel ich nach zwei Sätzen ab, dann sitze ich eine halbe Stunde im Büro und schaue vor mich hin. Ich weiß, dass es für das Reh besser war, vor mein Auto zu laufen, anstatt vor das Auto einer schneller fahrenden Person. Noch besser wäre, ich müsste seltener Auto fahren und die Waldstücke hier in der Gegend würden nahtlos zusammenhängen. Mir geht nicht aus dem Kopf, wie zwei der älteren Tiere am Fahrbahnrand stehen geblieben sind und ohne ihrem Fluchtimpuls zu folgen auf das jüngere warteten. Sie hätten zuschauen müssen, wenn etwas passiert wäre.
Kurz danach liegt ein Amselei auf dem Boden hinterm Haus. Ein Nest, aus dem es herausgefallen sein könnte, entdecke ich nicht. Bis zum Nachmittag lasse ich das Ei liegen, dann hebe ich es auf und trage es eine Weile herum. Die Rotmilane kreisen in letzter Zeit auffallend tief über den Gärten, ich frage mich, ob sie sich gelegentlich bei den Singvögelnestern bedienen. Über Ostern habe ich mit großer Lust Nuancen von Blau und Grün durch kurze Eintauchintervalle in verschiedene Farbbäder erzeugt. Ein so fabelhaft Lapislazuli-gesprenkeltes Ei wie das der Amsel ist mir dabei nicht gelungen.
Wegen eines Termins halte ich mich in einem Münchner Neubaugebiet auf. Konkret sind das vier Hochhäuser mit einer Fassadengestaltung von geradezu lächerlicher Abscheulichkeit, daneben ein Flachbau, in dem Supermärkte untergebracht sind, und niedrigere Wohnblocks, die den Plattenbauten meiner Kindheit in kaum etwas nachstehen. Ich werde das nie verstehen. Nur wenige Jahre zuvor und wenige Kilometer entfernt wurde ebenfalls ein Neubaugebiet mit Hochhäusern, Einkaufsmöglichkeiten und weiteren Gebäudetypen in München hochgezogen. Alles daran sieht gut aus. Ich habe mir zwischendurch gewünscht, da leben zu dürfen. Es ist also prinzipiell nicht unmöglich, wirtschaftlich und schön zu bauen.
Der Waldboden am Montag darauf ist von Blumen übersät, auf den Felsvorsprüngen wächst violettes Heidekraut und Moos. Es sind die einzig sonnigen Stunden in dieser verregneten Woche, der in den Bergen noch massig vorhandene Schnee schmilzt, sammelt sich in Rinnen und fließt gurgelnd abwärts. Die Pfade verwandeln sich in vollgesogene Schwämme, in den Wiesensenken entstehen knietiefe Lachen, die Hütten geben ihre gespeicherte Wärme ab, ich lehne ohne inneren Lärm eine Stunde an den Fichtenschindeln einer Holzwand.
Am andern Tag ist es wieder kalt, zwei Freunde kommen spontan vorbei und bleiben bis Mitternacht, wir sprechen über Trinität, versuchen das unirdische Beziehungsgefüge auf irdische Bezüge herunterzubrechen, es menschlich einzukreisen. In einer so verregneten Woche lässt es sich gut herum operieren an Fragen, für die man sonst keine Verwendung hat. Tatsächlich aber fühle ich mich die folgenden Tage ungewohnt sortiert und heiter. Irgendeine in der Dreifaltigkeit liegende Aussage scheint an meinen Filtern vorbei eingesickert zu sein und mich zu bereichern.
In dem anderen Beruf schaue ich einen Tag lang einer Kollegin zu und denke dann einen weiteren Tag lang darüber nach, wie sie vorgeht, warum, mit welcher Haltung, zu welchen Ergebnissen das führt, ob sie im Anschluss müde wirkt, wie sie zurück bleibt. Ich habe das Glück, mit einigen Menschen zusammenzuarbeiten, die sich in die Karten schauen lassen, auch während sie stellenweise unsicher sind, Dinge probieren müssen und nicht auf alles vorbereitet sein können.