Dezember

Im Kurs sind fast alle krank oder verhindert, wir tanzen zu dritt; meine Lehrerin, eine andere Frau und ich. Wir sind vertraut miteinander, vertraut mit den Rhythmen des traditionellen ägyptischen Tanzes und dem arabischen Gesang. Daher sprechen wir kaum und die Lehrerin gibt keine Hinweise. Wir vollziehen unsere Bewegungen, lose zusammengehalten von Schrittfolgen, die Menschen vor rund zweihundert Jahren entwickelt haben, um sich fortzubewegen, zu feiern, einen Anfang zu machen, ein Ende.

Die dunklen Flecken des Mondes werden Mondmeere genannt, weil man sie ursprünglich für Wasseransammlungen hielt. Was für damalige Astronomen wie Ozeane aussah, sind Tiefebenen, Becken und Senken, oft rund, in denen erstarrte Lavadecken liegen. Entstanden sind sie vermutlich durch Einschläge, als der Mond noch jung war und sein Mantel flüssig.

Ich kann nicht genug betonen, wie aufregend ich die Fähigkeit eines Planeten, Steins, Tiers, Menschen finde, zu einer bestimmten Zeit seiner Existenz flüssig und später fest und vielleicht noch später wieder flüssig oder etwas anderes zu sein. Die Möglichkeit irdischer und außerirdischer Körper vom Moment der Zeugung oder Entstehung an, viele gewisse und ungewisse Stadien zu durchlaufen. Die nicht abgeschlossene Umgestaltung, selbst wenn dazwischen für 1 Milliarde Jahre mal Ruhe ist.

Den Mondmeeren wurden Namen gegeben. Sie heißen Meer der Kälte, Meer der Gefahren, Schlangenmeer, Meer der Begabung, Meer der Fruchtbarkeit oder Meer der Heiterkeit. Die meisten Namen stammen von dem Astronom Giovanni Battista Riccioli, der 1651 eine Karte der dunklen Mondflecken anlegte.

Auf dem Mond gibt es auch Erhebungen, flach aufgewölbte Rücken, die Berge genannt werden und maxmimal 100 Meter hoch sind. Die Berge tragen ebenfalls Namen, meist den eines Gebirges oder einer Person der Erde. Sie heißen zum Beispiel Karpaten, Mont Blanc, Berge des ewigen Lichts oder auch einfach mal Dieter.

Ich glaube für Mondbewohner ist Dieter der Gipfel, den man gut bei gleichgültiger Laune und mäßiger Kondition an einem Montag im Februar machen kann. Wenn sonst nichts ist.

Nachtrag: Nein. Es gibt auch hohe Berge auf dem Mond.
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Am Tag vor Weihnachten gehe ich in den Wald. Die Waldarbeiter, die hier im Winter Nadelbäume fällen, lassen immer einen großen Haufen Zweige liegen. Direkt an der ersten Weggabelung. Ich weiß nicht, ob das eine Art Serviceleistung für das Dorf sein soll. Jedenfalls gehe ich mit einem Arm voll Zweige nach Hause und binde sie zusammen. Der Zweighaufen an der Weggabelung im Wald ist so groß - er könnte zwei Dutzend Kranzbinde-Workshops in einer beliebigen Stadt Deutschlands mit Material versorgen.

Ich habe eine sehr konkrete Erinnerung daran, wie meine Mutter und etliche Tanten Ende der Achtziger in einem Wohnzimmer voller Trockenblumen sitzen. Am Tag darauf hing in jedem Haushalt der weitläufigen Verwandtschaft ein Flechtwerk aus Disteln, Ähren und Lavendel an Eingangstüren oder Flurwänden. Diese Gestecke hingen dort zum Teil bis weit in die Neunziger.

Ich bin eine harte Linie gefahren im Dezember und habe 2/3 aller möglichen Veranstaltungen, Institutsfeiern, Konzerte, Umtrünke, zusätzlichen Termine im Rahmen der Fortbildung und zusätzlichen Termine im Rahmen der Tanzgruppe abgesagt. Und siehe da, ich kam zur Besinnung. Jetzt gegen Ende ist mir fast ein bisschen langweilig geworden. Ich fühle mich ausgeruht, friedlich und bereit für Kontakt.

Mondfoto: Helmut Adler www.fotodesigner.org

Weiterhin Winter

Es schneit in dicken Flocken. Beim morgendlichen Vorhangzurückziehen stellen sich tschechische Märchenfilmimpulse ein. Kurz lockt der Gedanke mit offenen Haaren und nichts als einer Schafwollweste überm Leinenkleid in den Schnee zu rennen, ehe beim Öffnen des Fensters dieser Gedanke im Keim erfriert. Diese Wochen sind nur mit Outdoorkleidung zu bewältigen. Outdoorkleidung der Sorte, die mehr mit Astronautenanzügen als mit Impulsen gemein hat.

Wenn ich in Sozialen Netzwerken Fotos sehe von Menschen, die vor winterlich anmutender Landschaft in knöchelfreien Jeans und lose um sich geschlungenen Schals Winter-coziness ablichten, weiß ich, dass bei denen nicht wirklich Winter ist. Dass diese Leute gerade einen etwas kälteren Tag in Texas erleben oder eine sachte Schneewehe im Süden Frankreichs.

Wenn hier Winter ist geht nicht mehr viel. Tagsüber ist das anstrengend, weil man ja doch manchmal einkaufen oder zu einer S-Bahnstation fahren muss und dabei alles mitnimmt: Schneegestöber, Glatteis, kaum Sicht, eingefrorene Schlösser, am Holzboden festgefrorene Stiefel.

Dafür sind die Nächte selten schön. Still und zugedeckt von der weißen Masse. Die Kapelle auf dem Feld unter einer orthodoxen Schneelast, noch entrückter als sonst.

Bei einem Onlinemeeting zu den Vorschriften im neuen Gebäude weist die Abteilungsleitung darauf hin, keine Nacktkalender mehr in den Büros zu dulden. Man muss sich das vorstellen. Meine Kolleginnen und Kollegen, die mitunter 7-8 Jahre brauchen, ehe sie einem das Du anbieten, die präferiert hochgeschlossene Kleidung in gedeckten Farben tragen, die auch nicht unter äußerster Bemühung ihres Willens dazu in der Lage sind, in der Anwesenheit einer anderen Person ein vulgäres Wort über ihre Lippen zu bringen. Von diesen Menschen soll jemand einen Nacktkalender in seinem Büro hängen gehabt haben, sichtbar? Natürlich verleitet mich die Erwähnung der neuen Vorschrift zu zeitintensiven Überlegungen. Wo könnte besagter Kalender gehangen haben; bei externen Mitarbeitern im Magazin, Praktikanten in den Ausweichbüros oder in einem der Lager, wo ausrangierte Mikrowellen und Tastaturen gestapelt werden? Ich unterstelle den übrigen Teilnehmern des Meetings ähnliche Erwägungen. Ein paar sehe ich verhalten lachen - stumm geschaltet.

Unterdessen habe ich es nicht geschafft vor dem Kälteeinbruch den kranken Baum im Garten zu beschneiden. Eigentlich spricht alles dafür, ihn zu fällen. Ich sag das nicht gern, aber es ist so: Dieser Baum bringt nichts. Und es braucht mindestens ein Peter Wohlleben’sches Verständnis vom Wert eines Baumes, um ihm einen etwaigen unterirdischen Nutzen bei der Versorgung anderer Bäume zuzugestehen. Oberirdisch ist der Baum eine Katastrophe. Aber ich will nicht vorschnell handeln und lasse mich gern von Gandalf erziehen: Man weiß nie wofür ein anderes Wesen noch da ist. Es war ja auch zum Schluss Gollum, der den Ring endgültig entsorgt hat. Und nicht Frodo. Wir erinnern uns.

Wenn ich das Geld zusammen habe, wird sich vielleicht ein professioneller Baumschneider das mal ansehen. Und dann schauen wir weiter. Es schneit immer noch. Es schneit den ganzen Tag.

Winter

In etwa vier Wochen beginnt die Paarungszeit der Füchse, ich habe bereits einen von ihnen auf den Schnee bedeckten Feldern herumturnen sehen. Die Anbahnung einer Fuchspartnerschaft ist kein leichtes Unterfangen. Bevor es zur Paarung kommt prüfen sich die beiden, indem sie miteinander kämpfen, sich zärtlich umschlingen und voreinander weglaufen. Dabei geben sie Laute von sich, die menschlichem Schreien nicht unähnlich sind. Ich war im letzten Januar einmal eine halbe Stunde Beobachterin, als zwei Füchse sich um den Weiher jagten, ineinander verknoteten und nacheinander schnappten. Man kann ihnen nur wünschen, dass der ganze Stress sich lohnt.

Gestern Abend bin ich am Ende des Herrn der Ringe angekommen und bewege mich auf die letzten Seiten zu. Die Handlung wurde für mich erst interessant, als die Beschaulichkeit des Shire, das ständige Essen, Singen und Verwandtschaft Antreffen vorbei war, ich habe mehrere Kapitel davon übersprungen und stieg wieder ein, als Frodo dem Auenlandplüsch den Rücken kehrt, die Tür hinter sich zumacht und geht.

Ich war zwanzig, als ich mit Fieber im Bett lag und die Trilogie zum ersten Mal las. Obwohl mir das Buch damals gefiel glaube ich im Nachhinein, nicht viel davon verstanden zu haben. Vermutlich die oben aufliegenden Worte und eine Ahnung vom Textkörper darunter. Vielleicht musste ich vierzig werden, ehe ich die Grenzen der einzelnen Figuren erfassen, ihre quälende Sehnsucht nach irgendwas und irgendwem teilen konnte.

Es hat mich diesmal sehr mitgenommen; die für die Gefährten von Anfang bis zum Schluss anhaltende Unsicherheit darüber, was zu tun ist und wie. Die permanent zu treffenden Entscheidungen, während es vorne und hinten an Informationen und Erfahrung mangelt. Die zunächst noch empfundene Stärke durch die Anwesenheit der Gruppe und das auf sich selbst zurück geworfen Sein, als diese Gruppe zerschellt. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist jeder und jede einmal vollkommen allein und muss absteigen in das Bergwerk des eigenen Ichs.

Es hat mich schier gekrümmt, wenn Eowyn davon berichtet, nichts zu kennen als Stagnation und Verfall. Ein Zustand, der sie im weiteren Verlauf wohl tatsächlich ereilt hätte, wäre sie nicht für eine Weile in die Kleidung, Rüstung und den Namen einer anderen Gestalt gestiegen. Dass diese Verfremdung nötig war und es für sie keinen anderen Weg gab. Die Filme stellen natürlich verkürzt dar, in den Büchern werden diese Passagen ausführlich erzählt.

Wie überhaupt alle Beteiligten konstant in ihren Gedanken Hin- und Herstolpern im Versuch, privates Glück zu konservieren bei fortschreitender Erkenntnis der Unmöglichkeit eines privaten Glücks im globalen Unglück. Daneben aber dennoch die Stunden von Freundschaft und Schönheit aufgenommen werden, nicht verschleudert. Dass es, auch wenn die Bücher von einem Jahr des Krieges berichten, um Erhaltung geht und Verbindung. Letztlich um eben das Singen, Essen und Kooperieren in einem Gefüge, dessen Ausmaß niemand überschauen kann.

An einer Stelle überreicht Galadriel Sam ein kleines Behältnis mit Erde. Sie sagt sinngemäß: Falls du diesen Krieg überlebst und falls es dann auf der Welt noch Orte gibt, in denen man Gärten anlegen kann, beginne mit diesem Behältnis, in dem etwas heil geblieben ist und nicht verbrannt.

Advent

Am Samstagabend sitze ich mit einigen Bekannten und Freunden in einem funktionalen Raum auf dem Boden und esse Pizza aus Kartons. Wir haben die Neonröhren ausgeschaltet, Lichterketten an das Flipchart und die Wanduhr gehängt, leise Musik angemacht und damit den Raum hinreichend weihnachtlich umgepolt. Es ist das Ende eines langen Tages und der Abend vor einem weiteren langen Tag und die meisten in der Runde sehen so erschöpft aus, wie man nur aussieht, wenn grundsätzliche Dinge einmal komplett auf links und im Anschluss wieder zurückgedreht wurden.
Ich bin auch müde und unterhalte mich mit meinem Nebensitzer auf dem Boden und frage ihn dabei nach dem für ihn wichtigsten Satz in einem bestimmten Film und er überlegt eine Weile, beugt sich vor, sagt den für ihn wichtigsten Satz und dann kommen ihm die Tränen. Ich schaue in sein Gesicht und denke, dass das meine neue Realität ist: umgeben zu sein von Leuten, die ungefähr in der Mitte ihres Lebens angekommen sind, einigermaßen versehrt dastehen, zulassen, dass dieses Leben sie weiterhin trifft und beschlossen haben, nicht dicht zu machen.

Dann springt die Playlist zu Bowie, ich stehe auf, drehe lauter und tanze, während ich damit hadere, immer der Depp zu sein, der anfängt mit dem Tanzen; diese Entäußerung, mein Körper, der Hunger nach allem. Ich versuche mich abzufinden mit meiner unfreiwilligen und nur halb gewählten Tendenz, Anschauungsmaterial abzugeben. Es kommt dann aber anders und Bowie hat noch nicht zu Ende gesungen, als ein recht großer Teil der Anwesenden neben und mit mir tanzt und erst kann ich es nicht begreifen und als ich es begreife macht etwas in mir: oh.

Am Dienstag darauf sind die Pfützen auf den Straßen eingefroren und spiegelglatt, ich fahre ins Büro, arbeite ein paar Stunden und friere in dem ausgekühlten Gebäude. Es ist eines dieser Gebäude, die prinzipiell irgendwann warm werden, in dem Finger und Füße aber durchgehend kalt bleiben. Die gefürchteten zitronengelben Institutsregale, die zwei Jahrzehnte in einem Magazin standen und nun mein Büro bestücken sollen, wurden angeliefert und stellen sich als ockerbraun heraus. Ich bin erleichtert. Zitronengelb ist eine so hässliche Farbe und sie hätte mich aufrichtig gestört. Gegen Mittag bemerke ich, den ganzen Tag noch keine anderen Mitarbeitenden angetroffen zu haben, die Türen sind zu, auf dem Gang nichts zu hören. Ich gehe in die Teeküche, um mir einen Tee zu machen und sehe das:

So sind sie, meine Kollegen. Langsam zum Zorn, ausdauernd und regeltreu, gehemmt beim Smalltalk, fair und loyal, vergnügt wenn keiner hinsieht. Ich bin sicher, der oder diejenige, die das getan hat, kam heute extra um 5:30 Uhr rein, kauerte mit verdrehten Knien und Pinzette in der Hand eine Stunde vor diesem Altar der Detailverliebtheit und glomm vor kleinteilig organisierter Lust. Solche Menschen stürzen kein Regime. Ist ein Regime aber erst mal gestürzt, leisten sie hervorragende Aufbauarbeit, archivieren die Vergangenheit und verschicken an alle den Link mit den Zugangsdaten.

Eine Etage tiefer

Am Mittwoch das Handy zu Hause vergessen, den Tag als Detox verbucht. Es liegt Raureif auf den Feldern, jeder Grashalm grenzt sich kristallin vom nächsten ab, das Licht zersplittert an den Zweigen. Ich habe den Übergang geschafft und bin in der Kälte angekommen, schlafe länger und ziehe drei Pullover übereinander, wenn ich vor die Tür gehe. Mit dem Lernen geht es voran, auf Dunkelheit und Reizarmut ist einfach Verlass.

Eine Nachbarin hat uns eingeladen. Sie ist 70 und lebt so, wie ich mit 70 leben will. Manchmal, wenn ich an den bodentiefen Fenstern ihres Hauses vorübergehe, sehe ich sie zusammengerollt in einem Sonnenquadrat auf dem Teppich liegen. Wie eine Katze. Vor zwei Jahren ist sie beim Klettern am Berg abgestürzt und musste gerettet werden. Sie ist schon immer geklettert, hat dabei einige Freunde verloren und war recht verblüfft, dass ihr jetzt tatsächlich selbst so ein Absturz passiert. Während sie die Felskante runterschlitterte und sich überschlug gingen ihr drei in sich abgeschlossene Gedankengänge durch den Kopf. Alle drei hatten mit Liebe zu tun.

Im Keller die Fotokiste gefunden, raufgenommen und im Wohnzimmer auf dem Boden ausgeleert. Alles nach Jahrzehnten systematisiert, eingetütet und zurück in die Kiste gelegt. Gemischte Gefühle gehabt.

refuse no longer cautious animal
no harm, no harm
will the river bring
to the raw element you are

Hier sind wir nun also

Ich war mir der Verwöhnung bewusst, jahrelang in einem der schönsten Viertel Münchens gearbeitet zu haben. Es bestand auch im Kolleginnenkreis kein Zweifel über die Verschlechterung, die ein Interimsquartier, wo auch immer es liegen mochte, zwangsläufig sein musste. Und es hat in Gesprächen zum bevorstehenden Umzug niemand gejammert ohne den Hinweis auf das hohe Niveau der Jammerei, die zeitgleich anderswo stattfindenden Kriege, die schonungslose Zerstörung von Ökosystemen und Verarmung von Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Zu Letzeren habe ich bis vor gar nicht langer Zeit selbst gehört. Das ist der Kontext.

Innerhalb dieses Kontexts fuhr heute Morgen eine U-Bahn in den Stadtteil ein, in dem hundertfünfzig Mitarbeiter und ich nun eine Weile lang (5-10 Jahre) in einer Büroscheibe verräumt sein werden. Ja, so heißt das wirklich: Büroscheibe. Und wenn man drin wohnt, heißt es Wohnscheibe. So steht es geschrieben. Genauso wie: Gebäudespangen, Streckenast und Einkaufsriegel. Ich mag die Architektursprache und finde sie gleichzeitig so abartig, enthoben und kapitalismusversaut, dass ich sie nur benutzen kann, wenn ich sie nicht ernst meine. Ich sitze also heute Morgen in der U-Bahn, die auf diesem Streckenast oberirdisch fährt und sehe aus dem Fenster. Anstatt zu beschreiben, was in mir vorging, trage ich hier mal zusammen, wie es zu diesem Stadtbild kommen konnte.

Der Wohnungsnot in den 60’er Jahren antwortete der Münchner Stadtrat mit dem Bau von Entlastungsstädten. Satelliten im abgelegenen Norden, Westen und Süden der City. Die Planungsgruppe unter Egon Hartmann (Karl-Marx-Allee, Berlin) erarbeitete für das Areal im Süden einen vielschichtigen Entwurf sich wild kreuzender Bedürfnisse. Das heißt leben, trinken, arbeiten, auf Leute treffen, mit denen man gar nicht verabredet war, fürs Abendessen einkaufen, noch raus zum Fußball spielen, im Atelier versacken oder doch zum Konzert - war alles so verdichtet, dass es einer gewachsenen Stadt sehr nahe kam. Die Natur war in diesem Entwurf nicht in die kleinteilige Begrünung von Wohnanlagen verbannt, sondern rankte in großen Ringen und Flächen um die Stadt herum und über die Parks in sie hinein.

Dieser Entwurf wurde auf Wunsch der Stadt im Sinne einer wirtschaftlicheren Bauausführung erst zurückgeschnitten und dann zugunsten einer klaren Trennung von Wohn- Einkaufs - und Bürozonen komplett aufgegeben. Bürgerhaus, Volkshochschule, Bibliothek, Sportplätze, Kino, Musikkonservatorium, Künstlerhof, Eislaufen, Hallenbad entfielen ersatzlos.

Eugen Hartmann sagte die Degeneration dieses künftigen Stadtteils voraus, beteiligte Architekten distanzierten sich, noch während der ursprüngliche Entwurf abgeändert wurde, um den Prämissen einer autogerechten Verkehrsführung, gleichförmiger Gebäudeausrichtung und Ausdehnung der Wohnriegel zu entsprechen. Es half nichts. Es fand sich einer, der das umsetzte.

Der erste Künstler, der dann 1969 in dieser Entlastungsstadt etwas tun durfte, buddelte einen vier Meter tiefen Trichter in die Erde und nannte ihn: Munich Depression.
Stieg man in den Trichter hinab, verschwanden die Gebäude aus dem Blickfeld und nur ein Stück freier Himmel blieb übrig. Der Künstler hatte sofort verstanden, wie man hier nur zurechtkommen konnte. Den Trichter gibt es nicht mehr. Er wurde überbaut.

Zurück zu mir und meinen hundertfünfzig Kolleginnen und Kollegen. Die Stimmung ist gut. Sie ist geknickt, aber gut. Wir haben die Büros bezogen, wir haben den halbleeren Edeka gefunden, wir haben gefühlt, dass wir uns in einer nicht für Menschen gemachten Architektur befinden und das akzeptiert. In die neue Küche setzt niemand freiwillig einen Fuß rein, aber jeder bleibt an dem Teetisch in meinem kleinen Raum ein paar Minuten stehen und wärmt sich auf. Einmal sind es 9 Menschen gleichzeitig, was eine große Summe ist, eine dichte Zahl, eine synaptisch interessante Atmosphäre, die wir erschaffen, während sie draußen nicht existiert.

Wie kommt das Wasser auf den Berg?

Seit etwa zehn Jahren gehe ich in die Berge, im Sommer sehr oft, im Winter manchmal. Jedes Mal, wenn ich dort bin, kommt der Moment, an dem ich aus einem Bach trinke und mich frage, warum Wasser in dem Bach ist. Woher der Bach oder die Quelle das Wasser nimmt. Mittels einer einminütigen Googlerecherche lässt sich diese Frage beantworten. Warum ich das nie direkt auf dem Berg, gleich nach dem Trinken erledigt habe, weiß ich nicht. Sobald ich zu Hause war, waren alle Gedanken an Bäche vergessen und ich bin zehn Jahre unwissend herumgelaufen.

Meine Mitwanderer sagen in der Regel: Schmelzwasser. Oder Regenwasser. Wenn im August aber alles staubtrocken ist und es vier Wochen nicht geregnet hat, macht das keinen Sinn. Die nächste Antwort lautet: Unterirdisch. Das Wasser wird irgendwie unterirdisch durch den Fels geleitet und kommt an einem Punkt raus. Dann müsste es aber riesige unterirdische Wasserreservoirs geben, die weit oben am Berg, nur wenig unterhalb des Gipfels liegen, denn auch so weit oben, sprudelt es heraus. Nonstop. Die Wasserspeicher können auch nicht im Tal oder auf halber Höhe des Bergs liegen, weil Wasser nicht ohne Druck aufwärts fließt und der Kapillareffekt in der Größenordnung vermutlich nicht greift. Ja, es hat mich wahnsinnig gemacht. Aber immer nur ein paar Sekunden und dann sind wir weitergegangen und es war vergessen. Letzte Woche endlich habe ich auf einer Wissen für Kinder - Seite nachgeschaut. Und damit das jetzt ein für alle Mal für mich klar ist, fasse ich es hier zusammen:

Das Wasser in den Quellen ist ursprünglich Schmelzwasser und Regenwasser, das in den Berg einsickert. Also in die Gesteinsschichten, in Hohlräume und buchstäblich in die einzelnen Steine selbst einsickert. Denn: Steine nehmen Wasser auf und geben es sehr langsam, durch winzige Poren wieder ab. Es gibt Steine, die noch Wochen nach einem Regenschauer Wasser aus sich herausfließen lassen. Unfassbar.
Steine sind wasserdurchlässig. Bei festen Gesteinsarten dauert das sehr lang, bei Sandstein geht es schnell. Das aus den einzelnen Steinen, Spalten und Hohlräumen herauströpfelnde Wasser, trifft manchmal im Berginneren auf eine undurchlässige Schicht - zum Beispiel eine Tonschicht. Auf der Tonschicht staut sich das ganze Wasser und sprudelt am nächstbesten Loch, der Quelle, gesammelt hervor.

Ich schreibe erst jetzt darüber, weil ich doch fast die ganze Woche gebraucht habe, das mit den Steinen zu verkraften. Ich habe immer ein paar Steine zu Hause neben meinem Bett liegen und verbinde mit ihnen alle möglichen Zustände, zum Teil mir selbst unklare und unaussprechbare. Und jetzt zu erfahren, dass sie winzige Poren haben und bei aller Festigkeit auch Schwamm sein können, Speichermedium für etwas Flüssiges, also das genaue Gegenteil ihrer vordergründigen Qualität aufnehmen, in sich halten und wieder abgeben können. Mich macht das sehr glücklich. Es macht mich rasend vor Glück.

Elf

Zwei Jahre habe ich die provisorische Homeofficesituation ausgesessen bis mir nun langsam klar wird, wie ich die zur Vermehrung neigende Technik feierabendkompatibel verräumen und am andern Tag mit wenig Aufwand aufbauen kann. Es haben sich Geräte und gadgets angesammelt, aber kein Arbeitszimmer, in dem sie unauffällig auf mich warten könnten.

Im Ofen brennt jetzt jeden Tag ein Feuer. In die Glut schauen und synchron zur Freude darüber an andere Städte und Menschen denken. Diese zufällige Sicherheit. Wäre man nur 2-3 Länder weiter oder 3-4 Jahrzehnte früher geboren, die eigene Belastung, mit der man sich aktuell trägt, schiene erstrebenswert und leicht im Vergleich.

Ich höre, wie solche und ähnliche Sätze auch gesprochen werden, um persönliche komplizierte Gefühle mit einer Hand vom Tisch zu wischen. Der Verweis auf das akutere Leid anderswo. Ich betrachte diesen Verweis neben seiner einordnenden Funktion privater Umstände auch als Flucht ins Unendliche. Als eine Überholspur, um an der konkreten eigenen Situation vorbeizuziehen. Ich kenne von mir diese Überforderung und den daraus resultierenden Aktionismus/Verweis auf dringendere Angelegenheiten und weiß, dass ich diese Tendenz zähmen muss, um hilfreich zu sein. Dass es meine Konzentration und Auseinandersetzung mit dem Konkreten braucht, um das Machbare zu tun, für mich und für andere.

Ich habe jetzt eine Wintersporthose, die warm genug ist, mir Lust auf fallende Temperaturen zu machen. Es war ein weiter Weg, der nicht aufgrund mangelnder Bereitschaft meinerseits lang wurde. Auch die jetzt erstandene Hose ist optisch nicht ganz aus dem Skizirkus raus, hält sich aber zumindest zurück, nur am Bein reflektiert eine Naht und ein unnötiger Schriftzug auf Höhe des Oberschenkels könnte mich ärgern. Ich tue so, als sei er nicht da.

Der letzte Tag im alten Arbeitsgebäude. Das brutalistische Treppenhaus, dessen Betonstille mich oft beruhigt hat, während ich in den vierten Stock rauf stieg, wird eingerissen und niemanden mehr durch sanftes Grau geleiten. Das Moos des Dachgartens in seiner Neonleuchtkraft glüht noch nach in meinen Gedanken.

Fluss im November

In der Arbeit verläuft ein Meeting, das potentiell eskalieren könnte, komplett konstruktiv. Sowas passiert an unterschiedlichsten Orten in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder. Es gibt viele Menschen, die besonnen handeln, obwohl ihnen einiges abverlangt wird.

Als ich am Freitag die Leiter an den Apfelbaum lehne, bleibt ein Nachbar am Zaun zur Straße hin stehen. Wir plaudern eine Weile über Apfelsorten, ehe er seine im Juni verstorbene Frau erwähnt, die lange Krankheit und den Abendspaziergang jetzt zum Friedhof. Der Nachbar hat wasserblaue Augen und ein offenes Gesicht, in seinem Garten wachsen hundertjährige Bäume, seine Frau und er haben die Schneiderei im Ort betrieben, als es die Schneiderei noch gab. Ich habe den Mann vorher noch nie gesehen. Vermutlich war er in der letzten Zeit bis zu ihrem Tod häufig drinnen.

Zwei Tage bin ich sehr unruhig und verfalle einer dummen Gewohnheit, die sich immer einstellt, wenn ich unruhig bin. Dann bitte ich jemanden mich dabei zu unterstützten, der Unruhe auf den Grund zu gehen. Im Anschluss ist es besser. Ich sitze auf dem Sofa und tue buchstäblich nichts. Bade in dem Gefühl, nicht von mir selbst gejagt zu werden. Die Ruhe bleibt auch die folgenden Tage. Es fällt mir immer erst ganz zum Schluss ein, jemanden um Hilfe zu bitten. Es ist wirklich das letzte, was ich tue. Ich habe jetzt ca. 300 Mal die Erfahrung gemacht, wie mir fast alle, die ich darum bitte, gern und sofort helfen. Ich bin nicht mehr weit davon entfernt, zu glauben, nicht allein durch diese Welt gehen zu müssen.

In den Bergen sehen wir Fliegenpilze und erinnern uns an die Kalte Platte unserer Kindergeburtstage. Ei, Tomate, Mayonnaise. Wer kommt auf sowas. Wie gelangweilt muss man sein. Es führt kein Weg dran vorbei - der Fliegenpilz kommt dieses Jahr aufs Silvesterbuffet.

Am Wochenende treffe ich viele Leute und werde regelrecht aufgeschwemmt von Begegnungen. Ich mag diese Ausdehnung. Das Umfeld ist sicher genug, dass ich entspanne und verspielt werde, während gelgentlich Situationen um die Ecke kommen, die mich sehr fordern und überfordern. Am Morgen danach sitze ich am Fluss. Eine Stunde fließt er vorüber und hört nicht auf zu fließen.

lose Enden

Eine Freundin und ich unterhalten uns darüber, ob es einfacher wäre, eine einzige stark ausgeprägte Begabung zu haben und dahinter nur schwach oder kaum ausgeprägte Talente, die eindeutig zurückfallen und nicht vertiefenswert erscheinen. Die Idee, beispielsweise Cello spielen zu können und das richtig gut. Daneben aber ein miserabler Gastgeber, eine untermittelmäßige Gärtnerin, ein unmotivierter Freizeitsportler und eine lausige Programmiererin zu sein. Es bliebe einem nichts anderes übrig, als Tag und Nacht Cello zu spielen.

Der Gedanke, in irgendetwas sehr gut zu sein, birgt das Versprechen, sich dann auch sehr gut zu fühlen. Während der Ausblick, vieles mittelgut zu können und parallel zu bedienen, mittelmäßige Gefühle hervorruft.

Um mich in meinen vielen halbausgebauten und weit gestreuten Talenten zu genießen, muss ich daher gelegentlich den Wunsch nach Spitzenleistung verabschieden. Ungefähr alle 14 Tage.
Ich bin bereits einigermaßen routiniert darin, meine Mittelmäßigkeit zu feiern und könnte mir vorstellen, darin richtig gut zu werden. Dann wäre das mein Cello und ich hätte es doch noch zu etwas Außerordentlichem gebracht.

Nachts stehen jetzt wieder häufig Tiere in dem kurvigen Wald auf der Straße und funkeln mit ihren Augen in mein Scheinwerferlicht. Füchse, Rehe und wieselartige Nager. Ich schleiche im 2. Gang an ihnen vorbei und sage: Ihr seid so schön! Ihr seid die eigentlichen Bewohner dieser Welt. Und wir sind nur Müll.

Ein bisschen Menschenhass. Muss auch mal sein. Man kann nicht immer liebevolle Gefühle hegen.

In der Institution läuft es unauffällig. Im zweiten Job läuft es auch. Am besten läuft es am Wochenende in den Bergen. Einmal gehen wir in Kälte und Nebel rauf, einmal in dünnem Sonnenlicht, es werden Pläne für Zimtschnecken gemacht und Dinge besprochen, für die man weit weg sein muss von Zuhause.

Was heißt hier Dunkelheit?

Nur diejenigen, die mehrmals gestorben sind, leben. Es führt kein Weg an meiner Dunkelheit vorbei. Mir bleibt lediglich überlassen, mit welcher Haltung ich mich auf sie zubewege. Ob mich das Leben dahin schleppen muss oder ich freiwillig reingehe.

Wenn ich nach vorne schaue, sehe ich, dass ich alles verlieren werde:
- alle meine Freunde
- alle meine Fähigkeiten
- jede Unabhängigkeit
- meinen Verstand
- meinen Körper, den ich mittlerweile so liebe

Jedes Etwas wird zu irgendeinem Zeitpunkt gehen, wegsein, sich auflösen. Am Ende auch meine Spiritualität. Das leite ich daraus ab, dass Jesus, der vermutlich ziemlich spirituell war, in der Stunde vor seinem Tod sagt: Mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Auch er hat also, zum Schluss, alles, wirklich alles verloren. Es ist nichts von ihm übrig geblieben. Nachdem er so weit gekommen war, Menschen heilen zu können, indem er sie nur ansieht, berührt, mit ihnen spricht oder mit ihnen Wein trinkt, bricht alles wieder weg. Zuletzt die einzige Person (Gott), die er bis dahin immer in sich wahrnehmen konnte. Man könnte von einem totalen Kollaps seiner Wahrnehmungsfähigkeit sprechen. Was nach stundenlanger Folter nicht verwunderlich wäre.

Ich denke, dass diese Art von Verlust manchmal sein muss. Ich hasse diesen Gedanken, aber ich halte ihn für wahr. Er deckt sich mit dem, was mir auch in anderen Denkschulen, Religionen und Naturphänomenen wahr vorkommt.

In der christlichen Mythologie kommt Jesus nach 3 Tagen und Nächten von den Toten zurück. Er hat einen umgestalteten Körper und ist irgendwie anders. Er ist so anders, dass seine Freunde, als sie ihn treffen, nicht gleich kapieren, dass er es ist. So anders ist er. Um sich auszuweisen, zeigt er ihnen seine Wunden. Die sind noch da. Einer der Freunde legt den Finger direkt in die Wunde. Ich finde das recht intim. Von beiden Seiten. Sich nah zu sein, wo es weh tut.

Ich glaube, darum geht es. Dass ich häufig sterbe und häufig anders werde. Reingehe in meine Dunkelheit, dort nach mir taste. Ob es 3 Tage und Nächte dauert oder 3 Jahre spielt keine Rolle. Die Zahl ist eine Metapher für eine magische Zeit, in der ich Dinge erlebe, von denen nur ich weiß. Und über die ich später nicht berichten kann.

Legolas

Es gibt ein spezifisches Herr der Ringe Wetter und eine spezifische Herr der Ringe Jahreszeit.

Während dieser Jahreszeit muss ich häufig über die einzelnen Figuren der Tolkienwelt nachdenken, nachlesen, was sie genau gesagt haben und wie ihre Entwicklung verlief.

Wenn ich während dieser Zeit mit Freunden wandern gehe, verstricke ich alle in ein mehrstündiges Abwägen darüber, wer von uns Aragorn, Gandalf, Frodo, Eowyn, Gimli usw. ähnelt, was das für unser weiteres Leben bedeuten könnte, welche Leiden vor uns liegen, welche Wendungen und Aufgaben.

In dieser Zeit kann ich dann auch meist 3-4 Sätze Elbisch sprechen und eines der Waldelbenlieder singen, ich kenne die Zweit- Dritt- und Viertnamen der wichtigsten Beteiligten und weiß was ihre Vorfahren im Second Age getan haben.

Der Herr der Ringe hat viel zu bieten, aber eindeutig zu wenig unterschiedliche Frauen, zu wenig nichtweiße Figuren und keinen einzigen Ork, der nach reiflicher Reflexion die Seiten wechselt. Und natürlich das Hauptproblem: die eindeutigen Seiten. Insgesamt ist der Herr der Ringe so wenig gesellschaftskritisch, so furchtbar hierarchisch, pathetisch und fixiert auf Geburtsrechte, dass es einem immer wieder den Magen umdreht.

Es reicht dann als Märchen, Seelenreise und Geschichte menschlicher Pfade aber doch weit genug, um mich seit zwanzig Jahren zu trösten, wenn Freundschaften eine schwierige Kurve nehmen oder ich mich mit mir selber im Unbekannten wiederfinde. Ich habe sie immer vor Augen - die Neun. Und die anderen darum herum. Ihre Waffen, Schwächen, Talente und Verluste. Und die Verbindungen, die sie eingehen, ohne zu wissen, was daraus wird.

Nächstenliebe

Samstagabend tanzen gegangen, vier Stunden, ohne Alkohol, ohne Drogen, ohne Reden, in einem Raum mit 170 Menschen, die wegen dem Tanzen kommen und Lust auf diese Einschränkung haben. Ich interessiere mich für meine Nüchternheit. Ich kann nüchternen Gefühlen etwas abgewinnen; meine Unsicherheit am Anfang, meine Angst vor Ablehnung, meine Angst vor Zuwendung, meine Aufgeregtheit vor jeder körperlichen Begegnung, selbst wenn sie berührungslos verläuft. Wenn ich an meiner Seite bleibe, mich nicht betäube, nicht ablenke, verwandeln sich die schwierigen Gefühle. Ich habe diese Erfahrung oft gemacht, ich weiß, dass sie sie eintritt. Ich weiß, der Rausch kommt. Ich bin der Rausch, der Rausch bin ich.

Nach dem Tanzen esse ich ein Snickers, trinke Wasser und steige in die S-Bahn. Es ist Mitternacht und ab jetzt alles gleichzeitig: Wiesn, Messe, Security, von Regen und Zuckerwatte heruntergewirtschaftete Kinder mit abwesenden Augen zwischen sturzbetrunkenen Erwachsenen in teuren Trachten und Jugendlichen in Brathendlkostümen. Eine Weile höre ich minderjährigen Engländerinnen dabei zu, wie sie rekapitulieren, wer wen wann auf welcher Bierbank angefasst hat, dann schweift mein Blick zu einem Mädchen, das einen Bund Radieschen aus ihrer Rocktasche zieht und mitfahrenden Männern zur Verköstigung anbietet. Die Männer essen die Radieschen und lachen. Ungefähr da merke ich, dass etwas nicht stimmt.

Ich bin schon oft in Ohnmacht gefallen. Es fängt mit Hitze an. Ungewöhnliche Hitze. Ab da habe ich noch circa 2 Minuten, um die richtige Entscheidung zu treffen. Die richtige Entscheidung ist immer, mich an Ort und Stelle hinzulegen, die Füße gegen die Wand zu lehnen und jemanden zu bitten, kurz mal auf mich aufzupassen. Leider aber lässt die Fähigkeit, rational zu handeln, sofort nach Auftreten der Hitze, rapide nach. Ich habe mich daher nicht auf den Boden sinken lassen und nicht die Beine hochgelegt, sondern eine Gruppe schwer lallendender junger Erwachsener angesteuert, um mich einen Moment auf dem freien Sitz neben denen auszuruhen.

3 Stationen später haben mich diese jungen Menschen aus der S-Bahn gezogen, ihre Strickjacken unter meinen Rücken geschoben und den Notartz gerufen, was nicht nötig gewesen wäre, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr erklären. Was ich trotz partieller Abwesenheit registrierte war, dass ein sehr liebevolles, besoffenes Mädchen namens Anna auf dem Asphalt saß, meinen Kopf hielt und dabei ihren schweren kühlen Busen auf meiner Stirn ablegte, dass jemand wiederholt versuchte, mich in die stabile Seitenlage zu drehen, während ein Mann namens Tobi sagte, er sei Ersthelfer in seinem Büro und die stabile Seitenlage sei falsch, dass darauf Anna mein Handy aus meinem Rucksack kramte und mehrmals: PIN, was ist deine PIN, rief, um dann die Bezugsperson anzurufen, die ich ihr nannte, um dann mit dieser auf sehr süße betrunkene Weise Denglisch zu sprechen, obwohl meine Bezugsperson einwandfrei Deutsch antwortete, wie sie das immer tut und immer getan hat.

Der Notarzt kam und meine Bezugsperson kam und die Nachbarfreundin kam und alle Werte waren okay und nichts Schlimmes passiert und Anna und Tobi und noch ein Anderer winkten und torkelten weiter und alles wurde gut und nächste Woche kaufe ich einen Tragerl Bier und bring das meinen Rettern vorbei, weil die Nachbarfreundin die kennt und weiß wo die wohnen.

Und so ist das. Manchmal gibt man viel Liebe und manchmal empfängt man viel Liebe. Und während 170 Leute nüchtern nach Hause gehen, wanken Hunderttausende ohne Impulskontrolle durch die Stadt. Und alle begegnen sich und keiner weiß, was an diesem Abend noch passiert.

Drinnen

Zwischendurch beansprucht eine Schreibaufgabe meine Aufmerksamkeit. Jetzt passt das schlechte Wetter wieder, denn ich muss mehrere Stunden Nachdenken und Notieren im Wechsel, was bei Sonnenschein eine Qual ist und nervt und nicht geht.

Am Montag auf einen sehr beliebten Berg gegangen, Apfelschorle getrunken und wieder runter getrabt. Kurz vorm Gipfel das für mich neue Phänomen; der Fels von hunderttausenden Händen, die sich daran raufgezogen haben, abgerundet und speckig. Wie Heiligenstatuen an Pilgerstätten.

Zurück im Garten pflanze ich Weiden und antizipiere das Geräusch, das ihre Blätter im Wind machen werden in 3-4 Jahren.
Im Bauernhaus nebenan ist ein Mann ausgezogen, den ich für so was wie den Hoferben und eine Instanz im Dorf hielt und der mir noch vor meinem Einzug über den Zaun seinen Namen zurief und sagte: Wenn du mal eine Motorsäge brauchst, sag Bescheid.

Es stellt sich heraus, dass er weder Hoferbe noch Instanz war, was eine Art kleine Erschütterung in dem eng gehäkelten Gefüge meines Bildes von dieser Nachbarschaft ist, die nicht so eng gehäkelt ist, wie ich das manchmal fantasiere.

Was aber genauso idealisiert ablief wie erwartet, war die Versorgung und Aufpäppelung der älteren Dame mit Oberschenkelhalsbruch, wohnhaft in dem gleichen Bauernhaus nebenan. Wochenlang rückten Verwandte, Bekannte und scheinbar von der Kirche abgestellte Helfer mit Fresskörben, Getränkekisten und Medikamenten ein, kochten, putzten, plauderten und rauchten anschließend eine Zigarette auf dem Balkon der Dame. Sie kann jetzt wieder gehen.

Derweil gibt es für mich bei weiter prognostiziertem Starkregen und Dauerregen keine Ausrede mehr, nicht mit dem Lernen anzufangen. Der Sommer kommt nicht zurück, auch wenn ich bockig die Tasche mit den Büchern ignoriere. Ich weiß, es wird mir wieder Spaß machen, sobald ich die erste Seite im Kopf habe, doch der von Mai bis August angemästete Schlendrian deutet auf die Wetterapp und sagt: Morgen, 12 Grad, trocken bis heiter, da könnte man doch noch mal baden gehen.

Wieso

Mit dem zur Seite kippenden Wetter komme ich schlechter zurecht, als erhofft. Ich bin noch nicht bereit für den Rückzug in Räume, zweifel aber auch an meiner Robustheit, d.h. der Fähigkeit bei weiter fallenden Temperaturen länger als 1-2 Stunden täglich draußen zu sein. Es gibt hier noch echte Winter, echte Kälte, Schnee schippen, Schneeverwehungen, wochenlang vereiste Straßen. Ich darf mich nicht reinsteigern.

In der Institution sind zwei Paletten fremdsprachiger Bücher eingetroffen. Am Dienstag sind die Bulgarischen über meinen Schreibtisch gewandert, Französisch und Türkisch folgten. Seit dem Frühjahr sitzt gelegentlich eine französische Kollegin im Büro. Ich mag ihr Seufzen und Lächeln, wenn sie die Stapel auf meinem Tisch entdeckt und in ihre eigene Sprache hineinblättert.

Mit Freunden an dem einen schrecklich aufgemotzten und uferverbauten See vorbei gefahren, um in das dahinter liegende abseitige Tal zu gelangen, wo eine kleine Bergkette mit teilverwilderten Aufstiegen zu einer unauffälligen Anhöhe führt. Dort im Gras gesessen. Geredet. Später Wasserschlacht.

Wertstoffhof. Ähnlich irrealer Moment wie beim ersten Einkauf in den Supermarktfilialen hier. Vor allem die Leere, Weite, die Neutralgelauntheit und Kontaktfreudigkeit des Personals. Es ist eine Umkehrung meiner Erfahrung mit öffentlichem Raum der letzten 10 Jahre in München. Niemand schreit, dreht durch oder beschallt einen mit politischer Gesinnung und schlechter Musik.

Daneben die Frage: Wo sind die psychisch Kranken hier? Wo sind die Instabilen, Gefährdeten, zu Grunde Gerichteten? Gibt es insgesamt weniger Gebrochenheit in dieser Gegend? Ist sie anders gedeckelt oder besser aufgefangen? Ist alles mehr heil? Drehen die Menschen in Großstädten nur ständig durch, weil sie zusätzlich zur individuellen Belastung auch konstant reizüberflutet werden?

Zumindest ich werde normaler in diesem Umfeld. Es ist noch nicht lange her, dass ich 1-2 Nächte pro Woche gar nicht oder kaum schlief. Wach lag bis 4 oder 5 Uhr, total übersteuert. Aufgescheuert bis an den Rand der Aufnahmefähigkeit, trotz Atemübung, Yoga und dem ganzen anderen Kram. Ich war überzeugt, ich kann besser werden, ich kann mich optimieren, die Nachbarn ausblenden, den Verkehr ausblenden, die Hubschrauber, Straßenfeste, die Geschwindigkeit und Baustellen. Ich wollte so gern stadtfähig bleiben.

Was hätte ich gemacht ohne meine relative finanzielle Stabilität, meine Hautfarbe und kulturelle Angepasstheit, die es mir erlauben, einen Gebrauchtwagen und Gartenmöbel anzuschaffen und mit offenen Armen von konservativen Vermietern zur Besichtigung ihrer kleinen renovierten Landhauswohnug eingeladen zu werden? Ich hätte die Nerven verloren. Wie die Kinder meiner Nachbarn in der damaligen Stadtwohnung, die jeden Tag stundenlang brüllten. Jeden Tag. Jeden Tag. 5 Jahre am Stück.

Je länger ich hier bin, desto lebendiger werde ich. Ich habe sogar wieder Lust auf Lautstärke. Ich tanze bei sich bietender Gelegenheit, ich drehe die Musik lauter, wen sie ohnehin schon laut ist, ich gehe vermeidbare Konflikte ein, provoziere Wasserschlachten, halse mir komplexe Aufgaben auf und will rangeln. Manchmal sage ich es mir, vor dem Einschlafen im Bett, immer noch etwas ungläubig: I’m back to my old self.

Und Sama’ Abdulhadi. Ich mag sie sehr. Das nächste Mal wenn sie in der Stadt ist, werde ich auch mit ihr tanzen. Everbody is like everybody [Sama Abdulhadi]

Kleidung/Enthemmung/Gebäudeverlust

Alle paar Jahre sagt Brad Pitt etwas, das mich nachhaltig prägt. Oder aufklärt über einen Sachverhalt, den ich bis dahin nicht dingfest machen konnte.

Vor Kurzem hat er zum Beispiel auf die Frage, warum er jetzt immer Leinenanzüge in ungewöhnlichen Farben trage, geantwortet, dass wir ohnehin alle sterben und es daher egal ist, was wir anziehen oder ob wir überhaupt etwas anziehen. Was ja eigentlich eine eher plumpe Betrachtung kollektiver Vergänglichkeit und unserem Verhältnis zur Mode ist. Ich weiß auch nicht, ob mir die Antwort gefallen würde, hätte sie jemand anderes geäußert.

Seit diesem Sommer gehe ich häufig in einem langen wehenden Rock spazieren. Es ist ein auffälliger Rock. Man kann ihn nicht nicht bemerken. Er fühlt sich gut an. Ich mag die Bewegung im Stoff und wie er fällt. Ich hätte ihn bis vor wenigen Wochen nicht tragen können, ohne mich zu winden unter dem Gefühl, eine lächerliche Schablone in einem lächerlichen Landlustkostüm in einem absurd idyllischen Abschnitt meines Lebens zu sein.
Aber jetzt denke ich: gönn dir.
Das hat Brad Pitt in mir bewirkt.

Ich wohne in einer Gegend, in der Kinder alleine draußen spielen. Auf dem Feld und im Wald, auch wenn sie erst sechs oder sieben Jahre alt sind. In den Bollerwagen, die sie hinter sich herziehen, sitzen ihre Kaninchen, Katzen und Lämmer und werden mit Gras und Salzstangen gefüttert. Diese Kinder nun haben mich und meinen Rock bemerkt. Sie sind fasziniert davon, sie schauen mich an und schauen mir nach. Ihre Irritation ist offensichtlich, sie wissen nicht, was ich bin und was sie mit mir anfangen sollen, suchen aber Gründe, mit mir ins Gespräch zu kommen. Manche trauen sich nicht her, können aber auch nicht anders, als von ihren Bollerwagen herüberzurufen: So ein schöner Rock!

Ein anderes Mal wurde Brad Pitt zu seiner Vergangenheit in einer amerikanischen Kirche befragt. Was er von den Phänomenen halte, die dort den Gottesdienstbesuchern widerfuhren; das Lachen, Zittern, Weinen, die Spontanheilungen und Enthemmung. Ob er diese Erfahrungen im Rückblick für Gruppentherapie halte, für körpereigene Drogenräusche, schamanische Reisen oder als das tatsächliche Handeln einer übergeordneten Gottheit. Brad Pitt sagte, er könne auch heute nicht beurteilen, was die Menschen da erlebt hatten, …I mean the people, I know they believe it. I know they’re releasing something. God, we’re complicated. We’re complicated creatures.

Heute war ich allein im Büro. Alle anderen im Homeoffice. Der Umzugstermin steht: 14. November. Ich werde diese Wände so vermissen! Der Raufaserteppich, das Waschbecken neben dem Schreibtisch, die braunen Türen, diese ganze 70‘er Jahre Gebäudedunkelheit. Ich fürchte, wenn wir zurückkommen, nach der Sanierung, wird hier alles clean und lichtdurchflutet sein.

Jeden Tag

Mittagsonne, Abendsonne, grell, gelb, mild. Der träge Wind. Das kühle Wasser. Wie es seine Kälte behält und gespeist wird von kalten Orten; weit, aber nicht sehr weit von hier. Ich liege an diesem Wasser, immer wieder. Betrachte die Weiden am Ufer, die Steine im Kiesbett, zehntausend, hunderttausend Steine. Während ich nichts tue, nichts lese, nichts lerne, nichts spreche findet eine Verwandlungen statt. Ich kann ihr noch keinen Namen geben. Ich bin nicht im Kopf und kann mich sprachlich nur schwer verständigen.

Ich bleibe wach, während dieser Umbau stattfindet. Er war überfällig. Ich habe ihn zu lange aufgehalten. Ich weiß nicht, was ist, wenn er vorbei ist. Wie ich dann bin. Als was ich rauskomme.

Parallel dazu bricht einiges auf und durch. Manchmal blättere ich in ein Buch rein, finde aber keinen Zugang, alle meine Zugänge sind belegt von mir selber. Ich bin das einzige Buch, für das aktuell Platz ist.

Erstaunlich verlässlich zeigt sich daneben die Arbeit. Am Tag meiner Rückkehr in die Institution gibt es ein kleines Welcome back Onlinemeeting für mich, bei dem wir uns freundlich, introvertiert und etwas betreten (so wie wir durch die Bank alle sind) anlächeln, um dann möglichst bald zurückzukehren in unsere Dateien.

Ich bin so gottfroh über meine unaufdringlichen, schüchternen Kollegen.

Eis der Woche: Zitronensorbet.

Tunk dein Brot in diese Schale

Wir gehen bei Regen in die Berge. Es tropft vom Blätterdach und von unseren Haaren, es läuft in die Schuhe und den Rücken runter. Am Wasserfall sind wir kurz unschlüssig, bevor einleuchtet, dass es jetzt um Hingabe geht. Wir ziehen uns aus und springen rein, der Endorphinausstoß folgt auf den Fuß, wie gut das alles eingerichtet ist. Es braucht diese verregneten Wanderungen, man muss sie manchmal machen, im Juli oder im August; sich einmal mittendrin befinden, aufweichen, aufquellen, keine Kontrolle haben, kein gutes Wetter.

Und dann wird es doch sonnig. Es wird heiß und dampft, der Wald kippt ins Tropische, schwarze Salamander und Blindschleichen kommen raus, alles perlt und trocknet in dieser abartigen Wärme, die nichts verlangt und nur gibt.

Wir sitzen und liegen lange auf den Steinen um die Gumpen herum, es werden Tankstellensemmeln gegessen und ein aus Schwäbisch Hall importierter Dialekt verhandlungssicher einstudiert. Jemand glaubt einen Aal zu sehen, aber dann ist es doch nur eine Forelle, es werden wieder Zecken aus den Beinen gezogen, Baumstämme am Wasser entlang geschleppt und Steine den Hang hinunter geschmissen, was man in den Bergen nicht machen soll und darf.

Ein Kind, das immer mit den Männern vorneweg läuft, verkündet: Vorne die Coolen, hinten die Schwulen. Worauf einer der Männer an seiner Seite erwidert, dass nichts dabei ist, schwul zu sein. Worauf das Kind eine halbe Stunde überlegt und dann sagt: Wir sind die Coolen und die Schwulen.

Es ist ein guter Tag. Es fließt an diesem Tag.

Man kann den Fluss nicht anschieben. Man kann ihn aber auch nicht aufhalten. [Zitat Gottlieb und viele andere Meister]

Ich liebe dieses Kind und schaue ihm zu, wie es zwischen den Erwachsenen hin und her pendelt. Das ist meine Gabe an diese Erde. Dass ich lieben kann, was mir nicht gehört. Und dass ich mitkriege, was passiert.

Bald

Der Mond heute ist eine weißgraue Marmorscheibe. Ich stehe unter ihm und will seine Herkunft in mich hineinschlürfen.

Im letzten Winter habe ich die fiktionale Nasa-Serie “For all mankind” gesehen. Die zweite Staffel ist draußen, aber ich spare sie auf für die kalte Jahreszeit. Ich kann nicht drinnen sein und den Mond auf meinem Laptop anschauen, während er in echt draußen hängt und es Sommer ist und alles schreit und krümmt sich: Ja
Die blauviolette Bergkette unter der Marmorscheibe. Das gemähte Heu, liegen gelassen zum Trocknen.

Am Montag bekomme ich Bescheid, dass bereits Ende der Woche mein ‘Ukraineeinsatz’ in der Behörde beendet ist. Es geht alles sehr schnell. Danke, Blumen, eine Runde, um mich zu verabschieden von diesem Haus der eAkten und Geflohenen. Ich gehe zurück in meine Institution.

Der kranke Freund ist jetzt in Lebensgefahr. Ich laufe über die Felder und winde mich unter der Machtlosigkeit, nichts tun zu können. In meinen Knochen steckt ein robuster Größenwahn, der anspringt, wenn sich Gelegenheit bietet. Ich bin überzeugt, wenn ich mich anstrenge, finde ich einen Weg, ich finde ein Wort, eine Tat, einen Satz und der Freund wird bleiben und nicht so früh gehen.
Er nüchtert aus, dieser mein Größenwahn, seit ein paar Jahren nüchtert er aus. Er ist nur noch ein halbstarker Wahn – aber er ist noch da und kämpft.

Ich glaube, dass wir Menschen uns gegenseitig retten können. Aber nicht jeder jeden. Und nicht oft. Und nicht umfassend. Vielleicht können wir punktuell einen anderen retten. An einer Stelle auf seinem Zeitstrang.

Eine Freundin war im Kloster und hat dieses Bild gemacht. Ich sehe sie sitzen in dieser Kammer vor einer Kammer. Und möglicherweise ist hinter ihr noch eine Kammer und sie musste viele durchschreiten, um fast bis ins Innerste vorzudringen. Dann denke ich an Jesus, wie er seinen bevorstehenden Tod ahnt und sagt, er wird drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.

Immer will ich sie vermeiden, meine Ohnmacht. Trotzdem wird sie es sein, die mich in meine innerste Kammer führt.

Und daneben Sommer. Ein Kofferraum voll Melonen. Grashüpfer in der hohlen Hand fangen. Nichts lesen oder lernen, weil zu jeder Tageszeit die Sinne in die Natur hinein aufgespannt sind und auch nachts beim kurz Wachwerden und Umdrehen in den Laken die Vogellaute und der Wind mich wecken, wecken, wecken, rufen.

August

Man kann betrunken werden von diesen Nächten. Von der Frequenz, auf der die Grillen zirpen, der Üppigkeit, mit der alles wächst, sich ineinander verschlingt und verrankt. Daneben bin ich auch betrunken von der georgischen Musik, von den cineastischen Bildern Levan Akins und der Art, wie meine Großmutter den Namen der Hauptstadt aussprach, manchmal Tiflis und manchmal Tbilissi sagte: Ja, in Tbilissi haben wir gewohnt, eine Weile.
Warum sie da gewohnt haben, wie lang, freiwillig, unfreiwillig - das ist nicht mehr einfach zu klären. Es war ein solches Durcheinander.

2019 waren auf einmal alle möglichen Freunde und Bekannte in Georgien. Alle sagten: Fahr hin. Es ist großartig.
Ich bin nicht gefahren, ich war beschäftigt. Es war kompliziert zu der Zeit und ich wollte keine weiteren Kompliziertheiten: Patriachat, Berge, Klöster, Homophobie, hineinzugeraten in Landschaften, an denen emotional zu viel dran hängt.

2011 hatte ich eine georgische Kollegin, die über Kafka schrieb. Sie lernte, noch in Georgien, Deutsch, um ihn im Original lesen zu können. Irgendwann reichte das nicht mehr und sie wanderte aus, um in seiner Sprache über ihn schreiben zu können. Ich konnte das nachvollziehen; sich in eine Kunstform so zu verlieben, dass man am Ende das Land wechseln muss.

2004 wurde ich von einem kanadischen Lehrer unterrichtet, der hatte sich in das japanische Theater verliebt. Er musste alles verkaufen, seine Karriere aufgeben, hinfliegen und in den Bergen eine Kampftechnik lernen, die Grundlage der Theaterform war und ohne deren Beherrschung man gar nicht erst aufkreuzen brauchte. Zwei Jahre lang wurde er von dem Meister der Kampftechnik keines Blickes gewürdigt und erst kurz vor Schluss mit einem stillen Nicken als äußerstes Zeichen des Lobes weitergeschickt. Mein Lehrer hat dann tatsächlich an japanischen Bühnen gespielt. Er hat auch eine Japanerin geheiratet und mit ihr und seinen japanischen Schwiegereltern in einem traditionellen Haus gelebt. Es hat nicht glücklich geendet.