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Ich sitze in der Seide meines Kimonos zwischen zwei Gewittern in einem Sonnenfleck und drossel die Geschwindigkeit, mit der ich in der letzten Woche unterwegs war. Es liegt eine süße Versuchung darin, jetzt durchzuziehen, das aufgebaute Momentum der vergangenen Tage nicht abreißen zu lassen, meine Stärke noch mehr auszukosten, noch mehr Dinge anzustoßen und Begegnungen zu suchen, aber ich bin diesem Impuls nicht ausgeliefert, ich erkenne ihn und halte an. Das Abbremsen ist unangenehm, ich kann es nicht leugnen. Nach 7 oder 8 Tagen auf einem Endorphin-Adrenalin-Cocktail belastet mich die eintretende Stille eher, als dass sie mich befriedet. Ich weiß, da muss ich durch. Durch diesen Korridor. Den Übergang.

Eigentlich habe ich Urlaub, aber in meinem Urlaub arbeite ich mehr in dem zweiten Beruf und das kickt und fordert mich regelmäßig auf eine Weise, die ich nur schwer in Worte kleiden kann. Daneben treffe ich Freunde und nage mich durch neue Gedanken, an der Peripherie meiner Aufmerksamkeit verdichtet sich eine kommende Aufgabe, die, nachdem ich drei Jahre auf sie gewartet habe, ins Zentrum schießt und mich erst mal ziemlich okkupiert.

Am Montag stehe ich einer anderen Stadt in einem leeren Kirchenschiff und weil niemand außer mir da ist, gehe ich nach vorn zum Altar und lasse die Architektur des großen Raums auf meinen inneren Raum wirken. Die Wirkung setzt verlässlich nach einigen Minuten ein und ich kann diesen Satz wahrnehmen, der seit Längerem in meinem inneren Raum auf und ab geht und sich meldet. Ich schaue zum Kreuz und sage den Satz. Die Antwort folgt auf den Fuß. Die Antwort ist natürlich nicht Gott, sondern das, wofür ich ihn halte, was übrig bleibt, wenn er, sie und es durch die Filter meiner Sozialisation, Kultur, Epoche, politischen Einstellung und Biografie gelaufen ist. Der ankommende Rest ist aber immer noch gut genug, mich mitten in einer alten, ich möchte fast sagen, uralten emotionalen Verrenkung zu treffen und genau an dieser Stelle ein bisschen zu dehnen, eine Ausdehnung von vielleicht 0,5 Zentimetern.

Als ich zurück bin in meiner Stadt werde ich die 0,5 Zentimeter mehr Spielraum umgehend brauchen und während ich sie in einer explizit mich angehenden Situation gebrauche, registriere ich den Moment, an dem üblicherweise meine Verrenkung eingeschritten wäre und wie sie es jetzt nicht tut, weil dieses Nichts gut ist.

Unterdessen hocke ich weiterhin in der Seide meines Kimonos in dem Sonnenfleck, der Wind bewegt mein Haar in alle vier Himmelsrichtungen, die Duftwicken und der Lavendel verbinden sich zu einer Betäubung, die mir die Augen schließt. Ich möchte, dass irgendwann der ganze Garten voller Duftwicken ist. Ich möchte, dass an Tagen wie heute, wenn der Wind unentwegt von den Bergen her über die Ebene gleitet, die ganze Nachbarschaft und alle Tiere, auf den Feldern, im Wald und in der Luft die Augen schließen, tief einatmen und „Duftwicke“, sagen.

Ich habe heute tagsüber, in wachem Zustand, neun Stunden am Stück nicht auf mein Handy geschaut. Das ging nur nach ernsthaftem Entschluss und mittels Aufbewahrung des Geräts an einem unbequem zu erreichenden Ort.

Am Freitag zuvor waren wir auf einem Grat unterwegs. Die moosige Grasdecke oben am Gipfel empfing mich weich und bettend, ich döste, nachdem mir beim steilen Aufstieg etwas kreislaufig geworden war. Vier Traubenzucker und Geschichten aus dem Leben der anderen haben geholfen. Die Wanderung war, in Höhenmetern gemessen, die für mich längste und anstrengendste. Ich will mir nicht zu viel vornehmen, aber ich würde sehr gern auf diesem Leistungsniveau ein paar Jahre bleiben und es ausbauen, um mir bisher unbekannte Landschaften zu erschließen, auf die ich große Lust habe.

An einem sehr heißen Nachmittag streife ich am Fluss herum, die Eidechsen huschen unter die Weiden, es liegt eine bleierne Trägheit auf mir, ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, je wieder etwas erreichen zu wollen. Das Wasser kühlt, die Hitze wärmt, ich werde zu dem Menschenteig, der ich bin. Ein Stein sieht seltsam und schön aus, ich nehme ihn mit. Ich habe jetzt sechs Steine in Armreichweite meines Kopfkissens, nachts taste ich nach ihnen und hoffe von den Flüssen zu träumen, in denen sie, wie lang, gelegen sind. Die Steine sind älter als ich, sie waren unten oder oben, als sich die Platten schoben, eventuell in anderer Verfassung, eventuell Teil eines größeren Massivs oder Partikel, die sich erst finden und vermengen mussten. Für die Steine bin ich eine flüchtige Erscheinung, zugehörig zu den Wesen verdammt zu kurzem Leben, unfeste Materie, ein Fragezeichen. Trotzdem liegen sie in meiner Hand, als wären wir verwandt.

Heumond

In der ersten Nacht im Juli wird auf dem Hügel neben der Kapelle das Johannifeuer abgebrannt. In mehreren Arbeitseinsätzen haben die Vereine dafür Baumstämme herangebracht, von den Anhängern heruntergezogen und aufgerichtet. Am Tag zuvor liegt Unruhe in der Luft, das Zelt ist aufgestellt, die gute Strickjacke rausgelegt, im Dorf laufen die Leute auf und ab und warten auf dieses einmal jährliche Brennen, so heiß und hoch, dass die Wiese in einem Radius von fünf Metern mitbrennen wird. Eine halbe Stunde vor Einbruch der Dunkelheit gehe ich um den Hügel herum, die Kinder können nicht mehr anders, als die angesammelte Spannung mit besinnungslosem einander Fangen, Jagen und gellenden Schreien stoßweise zu entladen. Es ist wirklich kaum auszuhalten. Wann wird es endlich angezündet?

Als dann endlich die Dämmerung zur Dunkelheit wird, die Zweige knistern und das Feuer aufflammt ist es größer, stiller und schöner, als ich erhofft hatte. Es ist das erste Johannifeuer, an dem ich teilnehme und wer auch immer sich diesen Brauch ausgedacht hat, muss mich oder alle Menschen sehr geliebt haben. Der Funkenflug im Nachthimmel. Ist jedes Brandloch in der Kleidung wert.

In der Nacht wird es regnen. Konstant einregnen, stundenlang. Am Vormittag darauf beschließen wir auf den Unnütz zu gehen, ein Massiv eingebettet in Gipfel, die alle Unnütz heißen; Vorderunnütz, Hinterunnütz usw. Es nieselt bis in den Mittag hinein und verschafft uns die seltene Erfahrung, mehrere Stunden durch Nebel zu laufen, verschluckt zu werden von Schwaden, dem feuchtwarm sich unter unseren Füßen biegenden Farn. Einmal bleiben auf der Hochebene zwei Frauen und ich hinter den anderen zurück, heben die Hände in das, uns von allem trennende, Dickicht der Wassertröpfchen gesättigten Atmosphäre und es bleibt uns wirklich nichts übrig, als die Worte der drei Hexen aus Macbeth in diesen Nebel zu deklamieren. Und später noch die Worte der Lady in Vorbereitung auf die Bluttat.

When shall we three meet again?
In thunder, lightning or in rain?

Die Streuung des spärlichen Lichts und Auflösung des Übergangs von Nebel in Wolke, deren Unterschied ohnehin nur im Bodenkontakt und nicht in der Konsistenz liegt – es ist ein Ort des Spuks, der Passage und wirklich, erzählen wir uns hier, was man auf Gehwegen nicht sagen kann. Greifvögel fliegen nah über unseren Köpfen hinweg, aber keiner stößt einen Pfiff aus, sie liegen auf der Luft, kaum dass sie die Flügel bewegen. Zwei Schemen kommen uns entgegen und wir schauen lange zu den Umrissen und Nuancen von Grau, ehe wir darin Freunde erkennen, die voraus gegangen waren.

Unten angekommen verfestigen sich die Erscheinungen und teilen sich auf in Kälber, Hollerschorle und warme Holzbänke an einer warmen Stallwand. Kuchen essend lehnen und liegen wir ermattet in der Sonne. Die eben an die Tränke tretenden Kälber sind ungewöhnlich zutraulich, unverschreckt und zeigen eine entspannte Dynamik innerhalb der Herde. Die Almwirtin berichtet, die Tiere in den ersten Wochen tagsüber überwiegend im Stall gehalten und erst ab Einbruch der Dämmerung auf die Weide geführt zu haben, damit die junge Haut der Kälber nicht von Bremsen und Ungeziefer zerstochen wird und ihre Gesichter und Augenlider anschwellen. Nachts weiden sie ruhiger. Demnächst, wenn sie etwas robuster sind, wird der Weiderhythmus langsam umgestellt.

Schwarz glänzende Salamander zeigen sich zwischen dem Gras und lassen sich berühren. Ein korall farbener Schmetterling begleitet mich eine Weile auf dem Handrücken, während wir weiter abwärts steigen. Man muss es den Österreichern lassen, sie haben einfach die bessere Natur. Der Wechsel von den Kalkalpen zum Granitstein fühlt sich jedes Mal gleich sehr solide und weniger porös an, die Blumenvielfalt nimmt noch mal zu, die schiere Menge an Bergen, die höhere Höhe und damit die Kontraste.

Animal readiness

Am Mittwoch tanzen wir in einer kleinen Gruppe. Es gibt keine Choreografie, nur Elemente, die von den Tanzenden beliebig aneinander gereiht werden. In der Pause kommt die Tanzlehrerin zu mir herüber, schaut mich freundlich an und sagt: Bleib nicht in Deckung. Gib raus, was du hast.

Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, dass diese Frau zu einem solchen Schwergewicht an Weisheit, Menschenkenntnis und Lust wurde. Ich kenne ein paar Stationen ihres Lebens, ich kann mir ungefähr denken, durch welche Zustände sie gegangen ist, was sie verloren hat, was sie nie bekommen hat, warum sie die Dinge begreift wie ein Tier. Als Erklärung reicht das aber nicht hin. Neulich habe ich mich vor ihr versteckt. Ich saß in einer voll besetzten U-Bahn, als ich sie einige Meter entfernt an einer Haltestange lehnen sah. Reflexartig drehte ich mich weg und rutschte etwas tiefer in den Sitz. Es gelingt mir nicht immer, mich ihrer Präsenz zu stellen. Mich auf diese bestimmte Weise durchschauen und annehmen zu lassen. Sie ist sehr nahbar und die am wenigsten lehrende Lehrerin, die ich je hatte.

Am Dienstag sitze ich mit Freunden im Garten und trinke Rosé, danach dänischen Schnaps und dann aus Nostalgiegründen einen Drink, den ich vor langer Zeit in einem Hamburger Club mit einer Freundin zu mir genommen habe. Ich glaube, es war das Nachtasyl. Um auszunüchtern gehe ich in der Dunkelheit eine Runde über die Felder. Es blitzt über dem Karwendel, aber es wird auch in dieser Nacht nicht regnen. Der Wind ist angenehm an diesen heißen Tagen und ich höre der Bewegung in den Baumwipfeln zu, beim Aufwachen, beim Einschlafen und in jeder stillen Minute.

Am Donnerstag liegt ein toter Vogel vor der Treppe. Wo seine Augen waren, sind dunkle Dellen. Ich ziehe einen Gartenhandschuh über und berühre ihn unter den Flügeln. Dann lege ich ihn unter einen Strauch, wo ihn später eine Elster abholt, kurz darauf aber wieder zurücklegt. Vielleicht ist der Vogel nicht mehr frisch genug gewesen. Oder die Elster war neugierig und wollte ihn auch nur mal kurz halten.

In der Institution stehen die Bürotüren zum Gang hin offen, was ungewöhnlich ist, hier arbeiten viele Menschen, die Wert legen auf Rückzug und Konzentration. Es bedarf schon eines Tages mit 33 Grad im Schatten, um die Kolleg*innen dazu zu veranlassen, ihre heilige Ruhe gegen ein bisschen Durchzug zu tauschen. Während ich über der griechischen Lautschrift brüte, höre ich es im Nachbarzimmer leise sprechen, verhalten lachen und noch ein Büro weiter, wie jemand eine Stunde lang der Hospitantin erklärt, welche Schnittstellenproblematik uns zu der umständlichen Statistikaufbereitung zwingt, die wir hier seit Jahren praktizieren.

Am Wochenende gehen wir auf einen Berg und picknicken, der Gipfel ist ein weitläufiges Plateau, eine Wiese, groß genug, ein Dorf darauf zu errichten. Alle haben Käse mitgebracht, aber niemand Eier. Etwas unterhalb vom höchsten Punkt klettert eine Gams herum, vertieft in ihre Kletterei und den ätherischen Duft der Latschenkiefern, durch die sie sich hindurch drückt. Sie bemerkt mich nicht oder zeigt nicht, dass sie mich bemerkt. Eine Weile betrachte ich die Gams aus der Nähe, ihre eleganten und sicher auftretenden Beine, den braun glänzenden Rücken und wie sie knabbert an den Trieben der Kiefern. Auf der anderen Seite des Plateaus finde ich einen interessanten Ast, der zu groß ist, um ihn nach unten zu tragen und mit nach Hause zu nehmen. Die ausgesprochen wettbewerbsfreudige Wandergruppe fordert mich heraus, mit einem Taschenmesser ein Teilstück des Astes herauszusägen. Ich gebe alles, komme innerhalb kürzester Zeit an meine Grenze und muss das Messer weiterreichen. Die nach mir sägende Person beugt sich über den Ast, strengt sich kaum an und hat das Holz in drei Minuten durch. Es ist manchmal, obwohl das ja vollkommen klar sein sollte, so erstaunlich, wie stark manche Menschen sind. Physisch. In den Armen.

Es ist sehr schwül und die Wanderung lang. Als wir unten ankommen, schält sich jeder aus der klebrigen Kleidung und robbt in den Gebirgsfluss hinein. Die Kälte ist umfassend, nach wenigen Sekunden beginnen die Zehen zu schmerzen, die Strömung rüttelt und reißt an den Beinen, der Fluss ist in diesem Moment eindeutig allem überlegen, kompromisslos, wahllos, zweifellos, türkis, klar und in Bewegung. Wieder raus aus dem Wasser fühle ich mich selbstbewusst und bereit, in irgendetwas reinzurennen. Ein Freund hat mal gesagt: Uns allen würde gelegentlich eine Prise Koks stehen. Ich denke, damit hatte er recht. Wenn es keine Gebirgsflüsse gäbe.

Wie zahllos die fühlenden Wesen auch sein mögen, ich gelobe, sie alle zu retten.

Akelei2

Im Schatten unter den Zweigen baumeln die Waldakeleien in ihrer drachenkopfartigen Gestalt, vom Feld duftet das Heu herüber, der Flieder verblüht, die Pfingstrosen gehen auf, um den Mispelstrauch kreisen hunderte Bienen sirrend vor Nektartrunkenheit. Es ist mal wieder alles so herrlich gleichzeitig, überladen und lockend, es würde mich nicht wundern, beim nächtlichen Spaziergang auf zwölf Jungfrauen in griechischen Gewändern zu treffen, die im Wiesengrund etwas opfern oder Blumen weihen.

In der Institution pflüge ich durch ein paar fremdsprachliche Probleme. Bei fast allen ist die Lösung, aufzugeben, nach Hause zu gehen und am nächsten Morgen beim Drüberschauen plötzlich doch zu wissen, wie es gehen könnte.

Kurz darauf treffe ich eine Freundin, die psychisch schwer verwundete Kinder betreut, oft in Nachtdiensten, oft im Team mit Kolleg*innen, die nicht lange auf der Stelle bleiben werden. Etwa zwei Stunden sprechen wir, danach bin ich aufgeräumt für den Rest der Woche. Ich weiß, man kann kaputt gehen an solchen Jobs, auch als stabile Person kann man daran kaputt gehen. Die Freundin hingegen entwickelt entgegen aller Wahrscheinlichkeit immer mehr Stärke, Beziehungsfähigkeit und Heiterkeit im Respektieren der eigenen Grenze. Es ist, wie einem Leoparden beim Wachsen zuzusehen.

Ich grabe mich tiefer in die Atempraxis ein. An einem Dienstag lasse ich mich dafür zum ersten Mal von jemandem anleiten. Nach fünf Minuten angeleiteten Atmens beginnt mein gesamter Körper zu zittern. Das Zittern ist mir nicht unbekannt, es hat sich jedoch noch nie so heftig geäußert, wie in der Gegenwart des Atemlehrers. Er hält meine Hand und schaut mich freundlich an.

Bezeugen

Abends, wenn die Sonne untergeht, gerate ich für etwa zwanzig Minuten in einen Zustand akuter Aufmerksamkeit, muss alles liegen lassen und mich Hineinstellen in das rote runde Flimmern und sei es nur, um hinterher sagen zu können, auch heute ist sie untergegangen, ich war dabei und hab es gesehen. Es ist nicht umsonst geschehen.

Ich habe einmal in einem langen, episch erzählten und über weite Strecken handlungsarmen japanischen Kriegsfilm eine Szene gesehen, in der eine Frau auf einer Mauer stehend in die untergehende Sonne ein Gebet rezitiert. In den Untertiteln wurden ihre Worte, wenn ich mich recht erinnere, übersetzt mit: Ich preise dich, ich preise dich, 38 Trillionen Seelen.

Ende Mai

Es ist ein Tag wie aus einem Joaquín Sorolla Gemälde.

Sorolla1

Weil es Pfingstmontag ist mäht keiner der Nachbarn den Rasen, sägt Holz, zimmert am Ziegenstall oder wartet die landwirtschaftlichen Maschinen. Auch das ist schön, die noise cancelling Kopfhörer kommen kaum zum Einsatz. Die Tamariske wippt zwischen den alten Fliedersträuchern, ich lese Novellen aus dem 19. Jahrhundert, die Langeweile, mit der sich der Landadel herumschlug, die genaue Beschreibung der Leiden dieser tatenlosen Männer und Frauen, das ist alles so weit weg und erholsam, ich schlafe immer wieder ein.

Sorolla2

Gestern im Karwendel eine der in diesem Jahr häufig vorkommenden halbhalb-Wanderungen. In kurzen Hosen unter brennender Sonne rauf, oben zuschauen, wie sich die Wolken senkrecht türmen, frieren, Wollpullover anziehen, runtergehen und gerade noch rechtzeitig vor dem Schauer ins Auto klettern. Im Auto hat erfreulicherweise ein Freund vorgesorgt und die Kühlbox befüllt. Es ist sehr behaglich so eng und erschöpft beieinander zu sitzen und Spezi in sich reinlaufen zu lassen.

Sorolla3

Vor sieben Jahren wollte mich eine Bekannte auf eine Sorolla Ausstellung mitnehmen. Ich habe abgesagt. Mir war das alles zu fluffig und heiter. Im Rückblick manchmal erschreckend, wie vernagelt man sein kann.

go as a river

Man sieht es dem Garten nicht an, dass ich in den vergangenen zwei Jahren annähernd fünfzig Sträucher, Stauden und Pflanzen darin eingesetzt habe. Die meisten hatten beim Kauf eine Höhe von etwa 60 Zentimeter und kaum eine davon ist heute über 80 Zentimeter hinaus. Ein Drittel ist gar nicht erst angewachsen oder hat sich selbst kompostiert, ein weiteres Drittel wurde mehrmals von Ameisen überrannt oder von vorzeitiger Entblätterung heimgesucht. Ein Garten, hier, unweit der Berge, mit den kalten Nächten, später Blüte und dem langsamen Wachstum ist insgesamt eine Erfahrung, die viel mit Ausnüchterung zu tun hat und wenig mit der Üppigkeit, Verrankung und Opulenz, die ich darin zu schaffen und zu finden hoffte. Ich bin jetzt in der Fügungsphase. Die nächste Stufe ist, ein Trampolin aufzustellen und Plastikspielzeug auf den Rasen zu schmeißen.

Auf dem Balkon ist unterdessen etwas Gutes von selbst passiert. Eine Art Vergissmeinnicht hat sich in die Balkonkästen gesät und wuchert blau-lila vor sich hin.

Ein Freund sagt, ich würde den Garten zu genau beobachten, das sei nicht gut. Wie man einen Teenager auch nicht mit direkten Fragen in die Ecke drängen dürfe. Das müsse alles beiläufig geschehen. Also keine face-to-face Kommunikation. Ich bin sofort überzeugt. Am Abend gehe ich doch heimlich ans Fenster und schaue auf die angepflanzten Hortensien herunter. Ob die auch gleich wieder sterben oder zurecht kommen.

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Kurz danach liegt ein Amselei auf dem Boden hinterm Haus. Ein Nest, aus dem es herausgefallen sein könnte, entdecke ich nicht. Bis zum Nachmittag lasse ich das Ei liegen, dann hebe ich es auf und trage es eine Weile herum. Die Rotmilane kreisen in letzter Zeit auffallend tief über den Gärten, ich frage mich, ob sie sich gelegentlich bei den Singvögelnestern bedienen.

Am andern Tag ist es wieder kalt, zwei Freunde kommen spontan vorbei und bleiben bis Mitternacht, wir sprechen über Trinität, versuchen das unirdische Beziehungsgefüge auf irdische Bezüge herunterzubrechen, es menschlich einzukreisen. In einer so verregneten Woche lässt es sich gut herum operieren an Fragen, für die man sonst keine Verwendung hat. Tatsächlich aber fühle ich mich die folgenden Tage ungewohnt sortiert und heiter. Irgendeine in der Dreifaltigkeit liegende Aussage scheint an meinen Filtern vorbei eingesickert zu sein und mich zu bereichern.

Das Stundenbuch

Nach einer Woche Fieber stehe ich auf, wanke zur Musikanlage und tanze eine Stunde ins Abendlicht, in die Unerklärlichkeit, aus der alles kommt.

Die Forsythien blühen. Die Frau, die hier lebte, hat sehr unterschiedliche Sträucher und Büsche gepflanzt, von den Forsythien aber drei. Ich vermute, sie stand, wie ich jetzt im März am Fenster und sah zu, wie die Knospen stündlich springen, ein Zweig nach dem anderen.

Als Mitte der Woche das Thermometer über 39 Grad klettert und ich den vierten Tag am Stück keinen Hunger habe, kauft der Freund Vanillepudding und legt ihn mit einem kleinen Löffel neben meine Matratze. Es hilft. Der Vanillepudding führt mich zurück zu Toastbrot, das Toastbrot zu Reis, der Reis zu Spiegelei und dann bin ich über den Berg. Ich habe trotzdem drei Kilo abgenommen. Das hat mich ein bisschen erschreckt.

Unterdessen ist Sepp, ein alter Bekannter hier aus der Gegend, gestorben. Er hat als junger Mann in den 50‘er Jahren Baumstämme den Fluss runter geführt. Der Fluss war reissend, bei der Arbeit gab es häufig Verletzte und Tote. Das geschlagene Holz wurde aus dem Wald gezogen, an den Ufern zur Flößen zusammengebunden, die Flöße mit weiterem Holz beladen und dann Richtung Lenggries und München getrieben. Sepp hatte die seltene Gabe, einem lang in die Augen sehen zu können ohne Eile und scheinbar ohne Wertung. Ich weiß nicht, wie er sich diese Weichheit bewahren konnte, wo er doch in absolut unweichen Zeiten aufgewachsen ist. Er muss unfassbar Glück gehabt haben mit seinen wichtigsten Bezugspersonen. Oder eine unfassbare Reise durch sein Inneres und diese Welt gemacht haben. Er hat in den letzten Jahren oft in der Abendsonne am Haus gesessen.

Am Samstag liege ich mit Freunden im gelben Gras neben einem Wasserfall und trockne. Die Haare noch nass, der thrill des Reingleitens, Reinfallens, nicht kontrollieren zu können, wie schnell und haltlos man den glitschigen Steinrand hinunter ins Becken rutscht. Die Kälte ist schmerzhaft, zwingend, nach zehn Sekunden übernehmen die Reflexe und hieven einen wieder raus aus dem Wasser, es ist unerträglich und schön für diese kurze Spanne Zeit. Hypnotisiert am Rand sitzen und den anderen zusehen, wie sie zögern, den Halt verlieren, drinnen sind.

…eins muss ich wieder können: fallen.

3 Steine

Jetzt wo der Winter aufhört stehe ich manchmal bei 13 Grad und temporärem Sonnenschein an eine Hauswand gedrückt oder in der Glaseinhausung einer Trambahnstation oder an einem Feldrand in der immer noch kahlen, schlammgrauen, ausharrenden Landschaft und verorte mich in diesem März, als Davongekommene. Als auf der anderen Seite des Winters Herausgekommene.

Am Samstag feiern wir den Geburtstag eines Freundes. Wir sitzen in einem dunklen Raum auf einer Decke am Boden und essen Suppe aus Müslischalen. Es gibt 9 Flaschen Bier, die sich 15 Leute teilen, verklebte Salzstreuer und eine recht spontan zusammen gekommene Gästerunde, darunter Menschen, die ich zum ersten Mal sehe. Die Feierlichkeiten in letzter Zeit kehren optisch und choreographisch zunehmend zurück in die WGs, aus denen sie ursprünglich entwichen sind. Es fehlen nur noch tropfende Kerzen auf unter Wachs kaum mehr zu erkennenden Weinflaschen und verwursteltes Bettzeug in der Ecke. Ich weiß nicht wann der Trend umgekehrt ist und sich auf den Heimweg gemacht hat. Vor Kurzem noch saßen wir allwöchentlich gepflegt an anspruchsvoll ausgeleuchteten Tafeln mit einheitlichem Geschirr, in unserem Schoß Leinenservietten, auf den Lippen teurer Alkohol, im Ofen libanesische Cuisine, für die jemand stundenlang in der Küche gestanden hatte.

Am Samstag jedenfalls ist das Essen zwar da, spielt aber keine tragende Rolle, der hereingebrachte Kuchen wird beklatscht, der Freund besungen und dann die Playlist angeschmissen. Der Rest ist Tanz und in dunklen Winkeln stehende Menschen, vertieft in irgendwas, manchmal ineinander. Es ist ein gutes Fest, um wieder Haut, Blut und Knochen zu werden, nachdem man eine Woche lang meinte, es ginge darum, Resultate zu erzielen. Ich freue mich wie ein Kind, als ich gegen Ende des Abends mit ein paar Tanzenden in synchrone Bewegungen verfalle, darunter Menschen, die ich eigentlich nicht kenne, aber in dem Moment doch erkenne.

Kassiopeia, wo bist du?

Ich bin bei den Kapiteln zu dissoziativen Störungen angekommen, aus gegebenem Anlass brauche ich das Wissen aktuell häufig in der praktischen Arbeit, recherchiere und lese erneut die Sekundärliteratur. Ich merke aber auch, dass meine Instinkte nach 8 Jahren Auseinandersetzung damit einigermaßen gereift sind, einspringen und die Lücken füllen, wo ich noch nicht alle Fakten zusammen habe. Es ist befriedigend, das zu erleben. Im Zweifelsfall reicht manchmal ein Blick zu einem anwesenden Kollegen oder einer Kollegin für die Zweitmeinung. Es kommt im Moment einiges zusammen, was über einen gewissen Zeitraum parallel und ohne Verknüpfung koexistiert hat.

Weiter oben am Berg wird es milder und einfacher zu gehen, die Vögel in den Fichten befinden sich bereits in ihrem Abendgespräch. Auf der Kuppe lehne ich mich an eine Schuppenwand, wärme die Finger und schaue zu, wie die Farbe des Himmels von Eisblau nach Lavendel kippt. Nach dem Lila kommt ein blasses Rosa, das sich 20 Minuten mit dem kalten Gelb im Westen die Waage hält, bevor es an den Zacken der Karwendelkette anfängt rot zu glühen. Ich steige in der Dunkelheit ab.

What is, is the great teacher

Aus dem Auto tritt eine Flüssigkeit aus. Der junge Mann, der zwei Häuser weiter in seiner Garage eine Hebebühne mit Notfallservice betreibt, versichert, es sei keine Bremsflüssigkeit, sondern das Kontrastmittel der Klimaanlage, kein akuter Handlungsbedarf. Er macht das umsonst und lächelt, als ich auf dem Glatteis in seiner Einfahrt umherschlittere. Ich mag diese Nachbarschaft. Jede und jeder kann irgendwas oder hat irgendwas. Werkzeug, Anhänger, Leitern, einen Vogelschutzverein, eine Blaskapelle, einen kleinen Knall oder eine Meditationsgruppe, die das Meditieren aufgegeben hat und sich nur noch zum Backen trifft.

Ich kriege es jetzt einigermaßen hin, zwischen Theorie und Praxis zu wechseln und meine Gedanken zu stoppen, wenn sie kurz vorm Einschlafen noch mal zu den bedrückenden Fakten mancher Inhalte zurückkehren. Ich habe dieses Stoppen intensiv trainiert, nachdem ich im Anschluss an die Auseinandersetzung mit menschlich sehr leidvollen Situationen manchmal in einen unangenehmen Zustand gerutscht bin.

Etwas nicht zu denken, was denkbar ist, aber mich inhaltlich noch überfordert, hat überraschenderweise viel damit zu tun, eine körperliche Grenze zu markieren. Ich mache also vor dem Einschlafen manchmal Bewegungen, die unter anderem in Selbstverteidigungskursen geübt werden. In Hinblick auf die somatischen Stufen der Entwicklungspsychologie ist das nicht verwunderlich. Wer sich traut, körperlich etwas abzuwehren oder zu stoppen, kann auch eigene Gedanken in die Schranken weisen. Die äußere Bewegung ist der inneren Bewegung verwandt. Mir ist dabei wichtig, nicht in einen offenen Kampf mit meinen Gedanken einzutreten. Ich bedanke mich für ihre Anregung und vertage sie auf später - zum Beispiel auf den Zeitpunkt, ab dem ich in der Lage sein werde, mich ihnen zu widmen, ohne dabei Schaden zu nehmen.

Meine Tanzlehrerin musste während der Pandemie ihr Studio aufgeben. Jetzt treffen wir uns in dem schlecht beheizbaren Erdgeschoss einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik. Es fühlt sich nicht so industrial-romantisch an, wie das Wort Nähmaschinenfabrik suggeriert. Das Gebäude ist marode, die Toiletten stinken, die Wände wurden mit oranger Wischtechnik bemalt, ein Fenster lässt sich nicht vollständig schließen, der Vermieter hat den Schlitz mit Gaffer Tape “repariert”.

Die Kälte nervt. Nachdem ich den Tag über in den öffentlichen Verkehrsmitteln gefroren habe, dann im Büro und wieder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, friere ich in der Nähmaschinenfabrik weiter. Die körperliche Betätigung kommt kaum dagegen an. Aber was sollen da erst Leute sagen, deren Infrastruktur weggebombt wird. Oder der Bekannte einer Freundin in der Unterkunft für Geflüchtete, der sich für jede Minute, in der er Privatsphäre braucht, in den Schneeregen vor die Unterkunft stellt. Wegen der Residenzpflicht - dem eingeschränkten Bewegungsradius von Asylbewerbern innerhalb der ersten drei Monate in Bayern - können wir den Bekannten nicht einmal für ein Wochenende zu uns einladen. Selbst wenn wir ein Zimmer hätten, müsste er in der Unterkunft wohnen. Das muss man sich mal vorstellen. Es gibt Momente, da möchte man einen Stein nehmen und Schuppenfenster einschmeissen.

Die Freundin fährt regelmäßig 150 km zu der Unterkunft, um den Bekannten organisatorisch und emotional zu unterstützen bei dem was hinter ihm liegt und was vor ihm liegt. Daneben gibt es Studierende der juristischen Fakultät, die den Bekannten unentgeltlich in Rechtsfragen beraten, was bitter nötig ist, will man verhindern, dass er zurück in seinem Herkunftsland direkt vom Geheimdienst einkassiert wird.

Unterdessen hat ein anderer Freund für die Ukrainer, die ein 3/4 Jahr bei ihm gewohnt haben, eine Wohnung gefunden. Weiterhin verbringt er wöchentlich einige Stunden damit, ihnen beim Abschluss von Verträgen, Jobangeboten und der Kommunikation mit Behörden zu helfen.

Ich schreibe das auf, um mich daran zu erinnern, dass dieses Leben nicht gerecht ist, es darin aber immer wieder Menschen gibt, die ihr Mögliches tun, um die Härten der Ungerechtigkeit abzufedern.

Fast Februar

Die Bergkette erscheint heute schwindsüchtig und bleich. Ein allerhellstes Blau vor weißem Licht; in Bodennähe Nebel und weiter oben Farbauflösung. Selbst für ein Pastellaquarell wäre das zu wenig deckend. Gerade deshalb ist es natürlich fabelhaft. Eine Halluzination von Winter.

Vor einer Weile hatte ich eine ziemliche Obsession mit der japanischen, ländlichen Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ich hatte Bruno Taut “Das japanische Haus und sein Leben” gelesen und sah mir nachts die Filme von Ozu Yasujirō an, wegen der Innenräume, nicht wegen der Handlung.

Bruno Taut verließ Deutschland 1933, nachdem die Nationalsozialisten ihm die Professur an der Akademie der Künste entzogen hatten. Auf Einladung befreundeter Architekten lebte er drei Jahre in Japan, beobachtete seine Umgebung und notierte. Eindrücklich beschreibt er die erste Nacht in einem traditionellen Haus mit Außenwänden aus Papier (im Winter). Fazit: Innentemperatur = fast wie Außentemperatur. Die Idee bestand darin, den Körper zu wärmen, nicht den Raum. Daher die an der Feuerstelle aufgeheizten kleinen Metallstangen, die man sich in Ärmel und Falten der Kleidung legte.

Nachdem Bruno Taut alles mögliche beobachtet und festgehalten hatte (Toiletten und Lichtstimmung auf den Toiletten, Stauraum und Kochstelle, Religion und Nichtabschließbarkeit der Türen) widmete er sich dem Teehaus im Garten:

“Gebaut wurde eine literarische Idee. Hütte in der Natur, Vergänglichkeit des Menschenlebens, Genügsamkeit an bescheidenen Dingen, Liebe für alles dies und infolge davon: Stille des Herzens.”

Nothing stands alone

Aktuell werden ein paar junge Menschen durch das Büro geschleust, deren berufliche Laufbahn ihnen nicht erspart, vier Wochen in meiner Abteilung hospitieren zu müssen. Zu jedem einzelnen von ihnen möchte ich sagen: aufrichtiges Beileid. Sie sind bemüht, die jungen Menschen. Sie versuchen die Augen offen zu halten, streichen ihre Haare aus der Stirn und geben gelegentlich einen Laut von sich, um wenigstens vokal anwesend zu bleiben. Es hilft nichts. Ihr Körper ist zu jung für das hier.

Die für die Vermittlung zuständigen Kollegen sind seit dem Sommer in einer task force organisiert, in der sich vierzehntägig der Kopf darüber zerbrochen wird, wie man Hospitierenden vorgaukeln kann, die Tätigkeiten in unserer Abteilung würden Spaß machen. Die Körper der jungen Menschen lassen sich aber nicht belügen. Ich sehe sie sitzen unter dem Gewicht ihrer Langeweile, sie können nicht fassen, der Schule, der Uni, dem letzten Praktikum entkommen zu sein, um jetzt schon wieder durch eine Masse aus Daten zu waten, die keinerlei Emotion in ihnen hervorruft.

Und doch ist es so. Die Institution ist auf Menschen angewiesen, zur Not auch auf gelangweilte. Wie überall gibt es aber keine Menschen mehr, jedenfalls keine, die sich bewerben. Manchmal treffe ich auf dem Gang die Leute vom Recruiting. Sie winken nur ab, wenn man nach den unbesetzten Stellen fragt. Ich will unter diesen Umständen nicht wissen, mit welcher Verzweilfung Krankenhäuser, Pflegeheime und Bildungseinrichtungen den Fachkräftemangel verwalten.

Jetzt zum Mond. Ich muss mich korrigieren. Ich hatte geschrieben, auf dem Mond gäbe es nur flache Erhebungen. Das ist falsch. Es gibt einen 5.500 Meter hohen Berg auf der Vorderseite und einen fast 10.800 Meter hohen Kraterrand auf der Rückseite. Auf der Rückseite ist auch der tiefste Punkt des Mondes. Ein rund acht Kilometer tiefes Einschlagloch.

Der blauweiß marmorierte Trabant im unteren Bild ist einer der 82 Monde des Saturn. Seine Oberfläche ist bedeckt mit Wassereis, weshalb er 99 % des bei ihm ankommenden Sonnenlichts reflektiert. Er hat das größte Rückstrahlvermögen im Sonnensystem, das heißt er reflektiert Licht stärker als frisch gefallener Schnee.

Unterdessen schneit es auf der Erde, da wo ich wohne. Es fängt am Morgen an, es schneit den ganzen Tag und dann bis in die Nacht. Die Felder verwandeln sich in eine japanische Kalligrafie. Ich verbringe etliche Stunden in einer Veranstaltung, aus der ich mich vorzeitig in gebückt - gesenkter Haltung hinausschleiche, eine U-Bahn nehme und der Beschreibung in den Park folge, um den Ort zu finden, an dem heute getanzt wird.

Eine kleine Turnhalle unter kahlen Bäumen, beim Betreten knarzen die schweren Holztüren. Es gibt in diesem Stadtviertel einige alte, allein stehende Turnhallen, gebaut um die Jahrhundertwende, kaum größer als zwei Klassenzimmer, oft mit Bühne an einem Ende des Raumes, manchmal in Jugendstiloptik. Als ich eintrete ist es dunkel und es wird dunkel bleiben, die Anwesenden nur gelegentlich rot erhellt von der zurückhaltenden Lichtanlage. Durch schmale Fenster sind die unbewegten Bäume des Parks zu sehen und überall in der großen schwarzen Luft weiße Flocken. Die starken farblichen Kontraste des Januars werden in dieser Nacht getoppt von den akustischen Polen, draußen still, drinnen laut. Ich tanze einigermaßen vorgekocht, da in den Stunden zuvor bereits einiges geboten war an grenzwertig intensiven Gefühlen, Forderung und menschlichen Aufgaben. Es wundert mich daher nicht, dass ich mich gegen Ende an den Rand der Menge stelle und eine Minute lautlos weine, weil eine junge Frau in meiner Nähe ein Lied singt, dessen Inhalt ich aus Kitschgründen eigentlich ablehnen müsste. Sie singt lauthals, mit offenen Augen und mehrmals hintereinander:

Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.
Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.

Am nächsten Abend sitze ich mit Freunden in einem Lokal, in dessen durchgewetzten, hellgrünen Polstermöbeln wir seit zwei Jahrzehnten alles feiern, was Menschen widerfahren kann: sich verlieben, heiraten, älter werden, sich verlieren, die anderen verlieren, krank werden, ratlos werden, wieder auf die Beine kommen, von vorne beginnen, weitermachen. Es ist mir mittlerweile recht egal in welchen Ansichten, schlechten Gewohnheiten, politischen Vorlieben und charakterlichen Schwächen wir uns unterscheiden, solang ich gelegentlich Flanke an Flanke zwischen diesen Leuten in die Runde schauen kann, während mein Heimatplanet durch den Weltraum fliegt.

Nachtrag: Die Toiletten der Turnhalle im Park wurden vermutlich in den 70’ern saniert und befinden sich in einem Zustand, den ich noch aus meiner Schulzeit kenne. Auch die eigentlich großartige Vorrichtung, um nachhaltiges Händeabtrocknen zu ermöglichen, versagt auf die gleiche Weise wie damals.

Alle Mondfotos: Mondlandschaften, Thorsten Dambeck, 2022

Hinter uns die Maschinen

Es ist warm. Der Winterhimmel an diesem Abend aprikosenfarben. Es wäre ein guter Tag gewesen, um nach der Arbeit auf einen der nahe gelegenen Berge zu steigen, den Sonnenuntergang abzuwarten, mit der Stirnleuchte runter zu gehen, während es dunkel wird.

Ein Freund hat sich ein Fernglas gekauft, wir schauen bei Tageslicht auf den Mond. Die Krater sind gut zu erkennen, die Mondhaut pockennarbig und kreidig. Ich habe, obwohl ich mich sehr für den Mond interessiere, bisher nie durch ein Fernglas oder Teleskop auf ihn gesehen und rufe einen Verblüffungslaut, als er ins Bild rückt. Er ist wirklich eine Kugel. Wie wir.

Planetenforscher vermuten, der Mond sei nach seiner Geburt in näheren Bahnen um die Erde gekreist. Nur ca. 200.000 Kilometer entfernt von uns. Das ist ungefähr die Hälfte seiner jetzigen Entfernung. Er wirkte größer und war deutlicher auszumachen. Leider bewegt er sich jedes Jahr 3,8 Zentimeter von uns weg. Ich finde das nicht gut.

Es gibt immer wieder kleine Mondbeben. Meistens auf der Seite, die unserer Erde zugewandt ist. Was eventuell an der Gravitation der Erde liegt. Umgekehrt hebt und senkt sich die Erdoberfläche um ein bis zwei Meter, je nachdem wo der Mond gerade steht. Als der Mond der Erde noch näher war, bog und verformte sich unsere Oberfläche in erheblichem Maß.

Mein begleitendes Tier in diesen Wochen ist der Biber. Sein beharrliches Hineinraspeln in den Baum.

Schwelle

Am letzten Tag des Jahres fahre ich zum Fluss und lege meine Hand ins Wasser. Es ist nicht eiskalt, es hat ungefähr Oktoberkälte. Ich streife durch die Uferböschung, das Rot der kahlen Weidenzweige und das Beige des trockenen Schilfs. Im Kies drehe ich die Steine um. Ich habe hier noch nie einen grünen Stein gesehen, kann mir aber vorstellen, heute einen zu finden.

An Silvester mache ich nichts. Ich mache sogar den Fehler, um 22:30 Uhr mit einem Projekt anzufangen, das ich lange aufgeschoben hatte. Nach 20 Uhr zu arbeiten oder irgendwas erreichen zu wollen ist gegen meine Regeln. Ich habe sehr strikte Regeln, um mich davor zu bewahren ein unentspannter Mensch zu werden. Es läuft dann auch total frustrierend.

Mehrmals kommen Freunde zu Besuch, wir sitzen um den Tisch, liegen auf dem Teppich und stehen auf der Straße in milder Luft. Der Winter liegt schon weit zurück, die Ziegen des Nachbarn schlafen in der Sonne mit ihren lächelnden Gesichtern.

Den grünen Stein finde ich noch am letzten Tag des Jahres. Er liegt in der Bucht im flachen Flussbett, wo ich im Sommer häufig saß und dem Wasser zusah, wie es um mich herum vorbeifloss. Das Wasser hat mir geholfen. Viele Stunden darin zu sitzen. Eine leibliche Erfahrung zu machen, bevor ich verstehe, warum ich genau diese Erfahrung will. Unverhältnismäßig viel Zeit damit zu verbringen. Das Wasser so lang zu fühlen bis diese eine verkrustete Stelle in mir flüssig wird, nachgibt, die Kontrolle verliert. Das ist das Gegenteil von mir. Es ist das, was ich wollte, ohne es wollen zu können.

Dezember

Die dunklen Flecken des Mondes werden Mondmeere genannt, weil man sie ursprünglich für Wasseransammlungen hielt. Was für damalige Astronomen wie Ozeane aussah, sind Tiefebenen, Becken und Senken, oft rund, in denen erstarrte Lavadecken liegen. Entstanden sind sie vermutlich durch Einschläge, als der Mond noch jung war und sein Mantel flüssig.

Ich kann nicht genug betonen, wie aufregend ich die Fähigkeit eines Planeten, Steins, Tiers, Menschen finde, zu einer bestimmten Zeit seiner Existenz flüssig und später fest und vielleicht noch später wieder flüssig oder etwas anderes zu sein. Die Möglichkeit irdischer und außerirdischer Körper vom Moment der Zeugung oder Entstehung an, viele gewisse und ungewisse Stadien zu durchlaufen. Die nicht abgeschlossene Umgestaltung, selbst wenn dazwischen für 1 Milliarde Jahre mal Ruhe ist.

Den Mondmeeren wurden Namen gegeben. Sie heißen Meer der Kälte, Meer der Gefahren, Schlangenmeer, Meer der Begabung, Meer der Fruchtbarkeit oder Meer der Heiterkeit. Die meisten Namen stammen von dem Astronom Giovanni Battista Riccioli, der 1651 eine Karte der dunklen Mondflecken anlegte.

Am Tag vor Weihnachten gehe ich in den Wald. Die Waldarbeiter, die hier im Winter Nadelbäume fällen, lassen immer einen großen Haufen Zweige liegen. Direkt an der ersten Weggabelung. Ich weiß nicht, ob das eine Art Serviceleistung für das Dorf sein soll. Jedenfalls gehe ich mit einem Arm voll Zweige nach Hause und binde sie zusammen. Der Zweighaufen an der Weggabelung im Wald ist so groß - er könnte zwei Dutzend Kranzbinde-Workshops in einer beliebigen Stadt Deutschlands mit Material versorgen.

Ich bin eine harte Linie gefahren im Dezember und habe 2/3 aller möglichen Veranstaltungen, Institutsfeiern, Konzerte, Umtrünke, zusätzlichen Termine im Rahmen der Fortbildung und zusätzlichen Termine im Rahmen der Tanzgruppe abgesagt. Und siehe da, ich kam zur Besinnung. Jetzt gegen Ende ist mir fast ein bisschen langweilig geworden. Ich fühle mich ausgeruht, friedlich und bereit für Kontakt.

Mondfoto: Helmut Adler www.fotodesigner.org

Weiterhin Winter

Es schneit in dicken Flocken. Beim morgendlichen Vorhangzurückziehen stellen sich tschechische Märchenfilmimpulse ein. Kurz lockt der Gedanke mit offenen Haaren und nichts als einer Schafwollweste überm Leinenkleid in den Schnee zu rennen, ehe beim Öffnen des Fensters dieser Gedanke im Keim erfriert. Diese Wochen sind nur mit Outdoorkleidung zu bewältigen. Outdoorkleidung der Sorte, die mehr mit Astronautenanzügen als mit Impulsen gemein hat.

Dafür sind die Nächte selten schön. Still und zugedeckt von der weißen Masse. Die Kapelle auf dem Feld unter einer orthodoxen Schneelast, noch entrückter als sonst.

Unterdessen habe ich es nicht geschafft vor dem Kälteeinbruch den kranken Baum im Garten zu beschneiden. Eigentlich spricht alles dafür, ihn zu fällen. Oberirdisch ist der Baum eine Katastrophe. Aber ich will nicht vorschnell handeln und lasse mich gern von Gandalf erziehen: Man weiß nie wofür ein anderes Wesen noch da ist. Es war ja auch zum Schluss Gollum, der den Ring endgültig entsorgt hat. Und nicht Frodo. Wir erinnern uns.

Winter

In etwa vier Wochen beginnt die Paarungszeit der Füchse, ich habe bereits einen von ihnen auf den Schnee bedeckten Feldern herumturnen sehen. Die Anbahnung einer Fuchspartnerschaft ist kein leichtes Unterfangen. Ich war im letzten Januar einmal eine halbe Stunde Beobachterin, als zwei Füchse sich um den Weiher jagten, ineinander verknoteten und nacheinander schnappten. Man kann ihnen nur wünschen, dass der ganze Stress sich lohnt.

Ich war zwanzig, als ich mit Fieber im Bett lag und die Trilogie zum ersten Mal las. Obwohl mir das Buch damals gefiel glaube ich im Nachhinein, nicht viel davon verstanden zu haben. Vermutlich die oben aufliegenden Worte und eine Ahnung vom Textkörper darunter. Vielleicht musste ich vierzig werden, ehe ich die Grenzen der einzelnen Figuren erfassen, ihre quälende Sehnsucht nach irgendwas und irgendwem teilen konnte.

Es hat mich diesmal sehr mitgenommen; die für die Gefährten von Anfang bis zum Schluss anhaltende Unsicherheit darüber, was zu tun ist und wie. Die permanent zu treffenden Entscheidungen, während es vorne und hinten an Informationen und Erfahrung mangelt. Die zunächst noch empfundene Stärke durch die Anwesenheit der Gruppe und das auf sich selbst zurück geworfen Sein, als diese Gruppe zerschellt. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist jeder und jede einmal vollkommen allein und muss absteigen in das Bergwerk des eigenen Ichs.

Wenn Eowyn davon berichtet, nichts zu kennen als Stagnation und Verfall. Ein Zustand, der sie im weiteren Verlauf wohl tatsächlich ereilt hätte, wäre sie nicht für eine Weile in die Kleidung, Rüstung und den Namen einer anderen Gestalt gestiegen. Dass diese Verfremdung nötig war.

Wie überhaupt alle Beteiligten konstant in ihren Gedanken Hin- und Herstolpern im Versuch, privates Glück zu konservieren bei fortschreitender Erkenntnis der Unmöglichkeit eines privaten Glücks im globalen Unglück.

An einer Stelle überreicht Galadriel Sam ein kleines Behältnis mit Erde. Sie sagt sinngemäß: Falls du diesen Krieg überlebst und falls es dann auf der Welt noch Orte gibt, in denen man Gärten anlegen kann, beginne mit diesem Behältnis, in dem etwas heil geblieben ist und nicht verbrannt.

Advent

Am Samstagabend sitze ich mit einigen Bekannten und Freunden in einem funktionalen Raum auf dem Boden und esse Pizza aus Kartons. Wir haben die Neonröhren ausgeschaltet, Lichterketten an das Flipchart und die Wanduhr gehängt, leise Musik angemacht und damit den Raum hinreichend weihnachtlich umgepolt. Es ist das Ende eines langen Tages und der Abend vor einem weiteren langen Tag und die meisten in der Runde sehen so erschöpft aus, wie man nur aussieht, wenn grundsätzliche Dinge einmal komplett auf links und im Anschluss wieder zurückgedreht wurden.
Ich bin auch müde und unterhalte mich mit meinem Nebensitzer auf dem Boden und frage ihn dabei nach dem für ihn wichtigsten Satz in einem bestimmten Film und er überlegt eine Weile, beugt sich vor, sagt den für ihn wichtigsten Satz und dann kommen ihm die Tränen. Ich schaue in sein Gesicht und denke, dass das meine neue Realität ist: umgeben zu sein von Leuten, die ungefähr in der Mitte ihres Lebens angekommen sind, einigermaßen versehrt dastehen, zulassen, dass dieses Leben sie weiterhin trifft und beschlossen haben, nicht dicht zu machen.

Dann springt die Playlist zu Bowie, ich stehe auf, drehe lauter und tanze, während ich damit hadere, immer der Depp zu sein, der anfängt mit dem Tanzen; diese Entäußerung, mein Körper, der Hunger nach allem. Ich versuche mich abzufinden mit meiner unfreiwilligen und nur halb gewählten Tendenz, Anschauungsmaterial abzugeben. Es kommt dann aber anders und Bowie hat noch nicht zu Ende gesungen, als ein recht großer Teil der Anwesenden neben und mit mir tanzt und erst kann ich es nicht begreifen und als ich es begreife macht etwas in mir: oh.

Am Dienstag darauf sind die Pfützen auf den Straßen eingefroren und spiegelglatt, ich fahre in die Institution, arbeite ein paar Stunden und friere in dem ausgekühlten Gebäude. Es ist eines dieser Gebäude, die prinzipiell irgendwann warm werden, in dem Finger und Füße aber durchgehend kalt bleiben. Die gefürchteten zitronengelben Institutsregale, die zwei Jahrzehnte in einem Magazin standen und nun mein Büro bestücken sollen, wurden angeliefert und stellen sich als ockerbraun heraus. Ich bin erleichtert. Zitronengelb ist eine so hässliche Farbe und sie hätte mich aufrichtig gestört. Gegen Mittag bemerke ich, den ganzen Tag noch keine anderen Mitarbeitenden angetroffen zu haben, die Türen sind zu, auf dem Gang nichts zu hören. Ich gehe in die Teeküche, um mir einen Tee zu machen und sehe das:

So sind sie, meine Kollegen. Langsam zum Zorn, ausdauernd und regeltreu, gehemmt beim Smalltalk, fair und loyal, vergnügt wenn keiner hinsieht. Ich bin sicher, der oder diejenige, die das getan hat, kam heute extra um 5:30 Uhr rein, kauerte mit verdrehten Knien und Pinzette in der Hand eine Stunde vor diesem Altar der Detailverliebtheit und glomm vor kleinteilig organisierter Lust. Solche Menschen stürzen kein Regime. Ist ein Regime aber erst mal gestürzt, leisten sie hervorragende Aufbauarbeit, archivieren die Vergangenheit und verschicken an alle den Link mit den Zugangsdaten.