Bezeugen

Abends, wenn die Sonne untergeht, gerate ich für etwa zwanzig Minuten in einen Zustand akuter Aufmerksamkeit, muss alles liegen lassen und mich Hineinstellen in das rote runde Flimmern und sei es nur, um hinterher sagen zu können, auch heute ist sie untergegangen, ich war dabei und hab es gesehen. Es ist nicht umsonst geschehen.

Ich habe einmal in einem langen, episch erzählten und über weite Strecken handlungsarmen japanischen Kriegsfilm eine Szene gesehen, in der eine Frau auf einer Mauer stehend in die untergehende Sonne ein Gebet rezitiert. In den Untertiteln wurden ihre Worte, wenn ich mich recht erinnere, übersetzt mit: Ich preise dich, ich preise dich, 38 Trillionen Seelen.

Ende Mai

Es ist ein Tag wie aus einem Joaquín Sorolla Gemälde. Der Wind fährt in die Wäsche und hebt die leichten Stoffe, die papiernen Mohnblumenköpfe taumeln unter der Last der Insekten, Menschen mit nackten Beinen und gesunder Gesichtsfarbe lehnen an Zäunen und schließen die Augen in der schweren, ersehnten Mittagshitze. Nur das Meer fehlt. Ja, das fehlt.

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Weil es Pfingstmontag ist mäht keiner der Nachbarn den Rasen, sägt Holz, zimmert am Ziegenstall oder wartet die landwirtschaftlichen Maschinen. Auch das ist schön, die noise cancelling Kopfhörer kommen kaum zum Einsatz. Die Tamariske wippt zwischen den alten Fliedersträuchern, ich lese Novellen aus dem 19. Jahrhundert, die Langeweile, mit der sich der Landadel herumschlug, die genaue Beschreibung der Leiden dieser tatenlosen Männer und Frauen, das ist alles so weit weg und erholsam, ich schlafe immer wieder ein.

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Gestern im Karwendel eine der in diesem Jahr häufig vorkommenden halbhalb-Wanderungen. In kurzen Hosen unter brennender Sonne rauf, oben zuschauen, wie sich die Wolken senkrecht türmen, frieren, Wollpullover anziehen, runtergehen und gerade noch rechtzeitig vor dem Schauer ins Auto klettern. Im Auto hat erfreulicherweise ein Freund vorgesorgt und die Kühlbox befüllt. Es ist sehr behaglich so eng und erschöpft beieinander zu sitzen und Spezi in sich reinlaufen zu lassen.

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Vor sieben Jahren wollte mich eine Bekannte auf eine Sorolla Ausstellung mitnehmen. Ich habe abgesagt. Mir war das alles zu fluffig und heiter. Im Rückblick manchmal erschreckend, wie vernagelt man sein kann.

Versuche

Am vorletzten Tag bevor es endlich warm wird, stehen wir erneut auf einem Berg im Wind, frierend, tapfer, unglücklich. Auf dem Gruppenfoto sind nur Ausschnitte von Gesichtern unter Wollmützen, Kapuzenpullovern und Softshellhauben zu sehen. Es ist natürlich trotzdem besser, als in der Wohnung zu sitzen und sich nicht zu bewegen. Und am Ende ist es ja alles Kitt, die vielen widrigen Erfahrungen, die man gemeinsam macht.

In der Institution steht der Jahresurlaub der Fremdsprachenmeisterin an und es ist der erste, dem ich nicht mit Sorge entgegen sehe. Ich hätte mir, als ich vor drei Jahren bei ihr anfing, gewünscht, die Auseinandersetzung mit der Materie von einer Kollegin zu lernen, die etwas langsamer im Kopf ist, linear vorgeht, weniger viel weiß, weniger als 17 offene Tabs auf dem Bildschirm hat und weniger volle Kaffeetassen auf bedrohlich schwankenden Papierstapeln abstellt. Ich neigte zum damaligen Zeitpunkt zu der Unterstellung, ein unordentlicher Schreibtisch ziehe fehlerhaftes Arbeiten nach sich und würde in aufwendigen Korrekturläufen münden. Ich sollte mich sehr irren.

Mittlerweile habe ich selbst Papierstapel angelegt, Kopien von Übersetzungsvorlagen aus so zum Teil nicht mehr verlegten und online nicht existenten Werken, Tabellen für neue und alte griechische Buchstaben, Transkriptionen und Transliteration, Reihenangaben, die von türkischen und rumänischen Verlagen gern verwendet werden, Kodierung für Literaturnachweise auf Arabisch und Farsi. Es wird und es wird besser. Dennoch übe ich bei jedem Urlaub der Meisterin den endgültigen beruflichen Abschied von ihr, der irgendwann, ich hoffe nicht zu bald, eintreten wird. Mit ihr geht nicht nur implizites Wissen, das in keinen Papierstapel Eingang gefunden hat, sondern auch eine der letzten Mitarbeiterinnen, die im Stundentakt runter in den Hof gehen, um dort am Lüftungsschacht eine zu rauchen.

Auf der Hauptversammlung spricht ein Mitarbeiter der obersten Stadtbaurätin und stellt den Stadtentwicklungsplan vor. Es geht darum, trotz Erschließung weiterer Neubaugebiete und Nachverdichtung, Kaltluftschneisen aus dem unverbauten Umland frei zu halten, um zu verhindern, dass die für das Jahr 2040 in München prognostizierten Sommertemperaturen ein Niveau erreichen, wie es zurzeit in Mailand üblich ist.

Er erwähnt in einem Nebensatz den Stadtentwicklungsplan von 1983, in dem eigentlich vorgesehen war, eine Autobahn direkt am Sendlinger Tor enden zu lassen. Wer oder was das Vorhaben gestoppt hat, erzählt er leider nicht. Die Pause der Hauptversammlung besteht im Wesentlichen darin, an der Brezelstation eine Brezel zu essen und dann mit Laugenkrümeln im Mundwinkel innerhalb von 20 Minuten möglichst viele Kolleginnen und Kollegen zu sprechen, die zu sprechen ein Jahr lang nicht geklappt hat.

Am Dienstag fallen wegen einer Signalstörung für mehrere Stunden in beide Richtungen die S-Bahnen aus und weil es hier draußen kaum Busse gibt, wird ein Ersatzverkehr mit Taxen eingerichtet. Eine viertel Stunde später sitze ich mit einer Handvoll 15-Jähriger in einem Großraumtaxi, das uns zum nächsten Bahnhof bringt – im Wageninneren teenagerbedingtes stoisches Schweigen und aneinander Vorbeisehen, aber beim Aussteigen wendet jeder einzelne Junge brav den Kopf zum Fahrer, bedankt sich und wünscht noch einen schönen Tag. Ich muss manchmal so lachen. Die Kinder aus dem bayerischen Oberland. Wie gut erzogen die sind.

Die Hortensien haben überlebt. Es geht ihnen nicht gut, aber sie stehen. Am Wochenende wurde Heu gemacht. In der jetzt stoppelkurzen Wiese sind abends die Fuchsjungen zu sehen. Ihre noch etwas ungelenken Mausjagdversuche in der untergehenden Sonne. Alle paar Minuten werden sie müde, rollen sich ein und schlafen einen Moment, ehe es weitergeht.

Oxygène

Wenn es viel regnet, will ich beim S-Bahnfahren elektronische Musik hören. Dabei lande ich immer wieder bei Jean-Michel Jarre. Es stellt sich in dieser Woche eine angenehme Synchronizität ein zwischen seinem 1976 erschienen Album Oxygène und dem vertieften Atmen, das ich aktuell lerne und in der S-Bahn übe. Vor etwa fünf Jahren hat ca. ein Viertel meines Bekanntenkreises mit breath work, Atemyoga, vollständiger Atmung und Ähnlichem begonnen. Ich war sofort dagegen. Das ist mir jetzt unangenehm zuzugeben, aber es ist so. Sobald etwas ein Trend wird, sträube ich mich. Das bewahrt mich davor, manche Dummheit zu machen, es bremst mich allerdings auch dabei, notwendige Schritte zu gehen, die zufällig ein Viertel meines Bekanntenkreises vor mir getan hat. Ich war nicht dagegen im Sinne eines offen geführten Kampfes, sondern im Sinne eines mir sehr vertrauten, introvertierten, stillen, zähen Verweigerns.

Es hat alles angefangen mit Qigong, 2004. In der Theaterschule damals stand jeden Montag von 8 - 9 Uhr Qigong auf dem Stundenplan und innerhalb der ersten drei Minuten der ersten Einheit an dem ersten Tag war mir klar, dass ich nicht atmen kann. Dass ich beim Versuch in meine Brust oder gar in meinen Bauch zu atmen, aggressiv werde (und bin) und diese Aggression nicht Montags um 8 mit mir unzuverlässig erscheinenden Mitschülern teilen will. Ich habe deshalb so oft wie möglich die erste Stunde geschwänzt, mich gefreut, wenn die Trainerin krank war und flach geatmet, bis die Theaterzeit um war. Man kann sich denken, dass dabei nicht viel rausgekommen ist.

2012 traf ich in einem Schwabinger Kellerstudio zum ersten Mal auf meine Tanzlehrerin und habe mich auf der Stelle in sie verliebt. Wie jedes Kind durch Nachahmung lernt, war ich in den ersten Monaten überwiegend damit beschäftigt, ihr hinterher zu trotteln, irgendwie mitzukommen und sie ergriffen anzuschauen. Sie hat immer sehr liebevoll zurückgeschaut und getan, was eine für mich ideale Mutter tun würde. Dem Prozess vertraut. Wieder ein Jahr darauf ist mir im steten Beisein ihres Körpers so langsam gedämmert, dass ich niemals auch nur ansatzweise versammelt und aus meinem Wesen heraus tanzen werde, wenn ich nicht zumindest den Versuch unternehme, wenigstens hier, in dem Schwabinger Kellerstudio, in meinen Bauch zu atmen, genauer; in mein Becken.

2015 habe ich es dann parallel noch mal mit Zen probiert. Es ging etwas besser. Mittlerweile hatte ich vor meiner Aggression weniger Respekt und an meiner Seite Leute, die mir gezeigt haben, wie ich durch Emotionen gehen kann, ohne mich darin aufzulösen oder davon weggerissen zu werden. Das Atmen blieb trotzdem mittelmäßig.

Erst im letzten Sommer, der Sommer, als ich beinahe täglich am Fluss saß, die Steine von links nach rechts gedreht und mein Gehirn bei dreißig Grad in den Zustand geistiger Umnachtung versetzt habe, sah ich einmal zufällig runter auf meine Bauchdecke, die sich eindeutig hob und senkte. Hob und senkte. Wie ein ganz normaler Mensch. Ich hab viel geweint an diesem Fluss. Ich war eine Lache aus Dankbarkeit.

mit euch

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so aufgeplatzte Gesichter gesehen habe. Ob ich überhaupt schon mal solche gesehen habe. Für den Zeitraum von etwa drei Stunden lag im Prinzip alles blank: Einsamkeit, Schmerz, Lust, Freude von etwa 150 Menschen, zusammengekommen in einem dunklen Raum, angetreten aus unterschiedlichen Motiven, vielleicht auch nur aufgrund einer kurzfristig sich bemerkbar machenden Schubkraft, dem dumpfen Wissen, hineingestülpt zu sein in diese Welt. Da.

Viele Mädchen können im Alter von 13 Jahren nicht mehr beschreiben, was sie fühlen, aber detailliert Auskunft geben darüber, wie sie glauben aussehen zu müssen, um eine Existenzberechtigung zu haben. Für Jungs muss es ähnlich schlimm sein, oder anders schlimm. Das kann ich nicht beurteilen. Zwanzig Jahre später und die ersten Bröckelerscheinungen im Gesicht bleibt eigentlich nur Verzweiflung und das Anrudern gegen die sichtbare Sterblichkeit. Wenn daher aus vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Gründen an einem verregneten Tag im Mai 150 Menschen mit ihren wie auch immer gearteten Körpern einen Abend lang Hingabe an diese vorgefundene Existenz praktizieren, ist das rar. Ein rares Ereignis.

Jedes Mal wenn ich für ein paar Sekunden die Augen öffne, krümmt, stampft oder zuckt eine andere Person an mir vorbei. Darunter Frauen, die aktiv und passiv viele hunderttausende Frauenbilder in ihrem Leben konsumiert haben und es dennoch für diese Zeitspanne schaffen, von ihrem Erwartungsgerüst herunter zu kommen, zu tanzen wie ein Schimpanse es tun würde, ein Insekt, ein Pferd, ein Walfisch, ein Erdrutsch, ein Kometenschauer.

Ich glaube wirklich, keiner der Anwesenden hat Drogen genommen. Zumindest sieht keiner danach aus. Ich schaue etlichen in die Augen und viele schauen zurück. Ich erkenne nüchterne Menschen, sie sehen roh aus und meist nicht souverän. Sie müssen durch sich durchwaten; die Bewertung, die Abwertung, den drängenden Impuls, manche Gefühle zu betäuben und andere zu verstärken und dabei ununterbrochen bleiben, nicht weglaufen. Dennoch passiert manchmal, was niemand tun oder herholen, wofür man sich nur bereit und bis dahin möglichst schadlos halten kann. Die Fassung springt, der Bewegungsfluss entgleist, schwappt über und gehört nicht mehr den Einzelnen selbst. When there is only dancing and no dancer.

Einmal, ungefähr in dem Moment, als irgendwo am anderen Ende des Raums eine Rotation beginnt, sich an den Körpern entlang fortsetzt, verdichtet und in Form pitschnasser Rücken, Arme und Laute an mir vorbei schrammt, drehe ich meinen Kopf nach links und schaue zu meiner Freundin. Sie lacht mit aufgerissenem Mund. Sie lacht so aufgerissen und enthemmt, wie es im Leben einer Erwachsenen nur nach grenzwertigen, eigentlich überwältigenden, Strapazen möglich ist. In der Sekunde der Erkenntnis, dass man nicht kaputt gegangen ist.

Mai

Es ist ein Löwenzahnjahr, soviel steht fest. Nachdem im Jahr zuvor nur vereinzelt gelbköpfige Inseln aus den Wiesen am Waldrand wuchsen, schauen jetzt umgekehrt nur vereinzelt Grasinseln aus dem gelben Teppich hervor. Der Imker bringt mehrere Bienenvölker auf die Anhöhe, wenn das Wetter hält und der Raps sich verspätet, wird er später sortenreinen Löwenzahnhonig verkaufen.

Löwenzahn by Joe MiGo/ Wikipedia

Zwei Tage am Stück ist es warm, die Sonne knallt an die Hauswand, im Garten breiten sich hellblaue Bodendecker aus, Hummeln saugen an den Zierapfelblüten, ich stehe wunschlos vor der Tür und lasse ein wenig ab von meiner Zerknirschung. In der Arbeit geschieht nichts. Einmal läuft meine Milch im Kühlschrank aus, aber weil es für alles in der Institution Vorschriften gibt, auch dafür, wie Milch in dafür vorgesehenen Plastikboxen im Kühlschrank gelagert werden soll, läuft sie einfach in die Plastikbox. Und nicht in den ganzen Kühlschrank. Was soll ich dazu sagen? Danke Vorschriften.

An einem anderen Tag gehen wir zu viert auf einen Berg. Es ist eigentlich zu kalt und grau, um draußen zu sein, ich bedauere, keinen Tee mitgenommen zu haben, am Gipfel sitzen wir zusammengekauert in unseren Jacken und harren der Dinge. Beim Abstieg wird es wärmer, wir schälen uns aus den Lagen und versuchen gerade einigermaßen zivilisiert ein Schneefeld runter zu kommen, als das eine Kind, das an diesem Tag dabei ist, an uns vorbeizieht, den Hang hinab rennt, rutscht, fällt, aufsteht und weiter rennt. Ich habe oft erlebt, dass mein verhärteter Erwachsenenkörper angebotenen Impulsen nicht mehr folgt und kann daher nur überrascht sein, als ich mich ebenfalls das Schneefeld herunter rennend finde. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Rest der Gruppe an mir vorbei kegeln, unten angekommen ist die Schneeballschlacht bereits im Gange. Es ist eine seltene und wichtige Genugtuung, jemandem eine Hand voll Schnee hinten ins T-Shirt stecken zu können, auch wenn das in einer Einseifung mündet, bei der man eventuell unterliegt.

Die restlichen Stunden gehen wir mit nasser Kleidung und nassen Füßen in den Schuhen, am nächsten Morgen werde ich wunde Zehen haben, was ein bisschen weh tut, aber was wäre die Alternative, sich immer schonen? Wirklich riskant verhalte ich mich nicht mehr, mit einem Bier in der Hand auf Kräne klettern, das ist alles lang vorbei. Eine Einordnung meiner Risikobereitschaft im Vergleich zu der eines durchschnittlichen Zehnjährigen bekomme ich gegen Ende des Tages, als das eben beschriebene Kind Anlauf nimmt und ohne Ankündigung über einen viele Meter tiefen und Wasser führenden Abgrund springt. Wer sich an die Verfilmung von Ronja Räubertochter aus dem Jahr 1984 erinnert und darin an die Szene, in der sie und Birk Borkasohn über den Riss in der Burg springen – ein solcher Spalt – nur mit Anlauf zu schaffen, wenn überhaupt. Ich sehe das Kind einen Moment ungläubig an und drehe mich dann zu dessen Vater. In der Sekunde, als sich unsere Blicke treffen, beschließen wir einvernehmlich nichts zu sagen.

Ich denke, erst nach etwa zwei Jahrzehnten auf dem Erdball hängt man wirklich und entschlossen an der Fortsetzung dieser menschlichen Erfahrung, lässt Vorsicht walten und geht in einen eher konservierenden Zustand über. Bis dahin sollte man von den Bedenken der Erwachsenen nicht allzu oft gestört werden. Eine Woche später berichtet die lokale Zeitung vom Tod eines fünfzehnjährigen Jungen, der bei einem wohl ähnlichen Manöver hier in der Nähe von einer Felsenplatte gefallen und ertrunken ist. Es muss manchmal kaum auszuhalten sein. Ein Kind zu haben und es gleichzeitig nicht zu haben.

Ein Buch, das seit Jahren vergriffen und in keinem Antiquariat unter 80 Euro zu erstehen ist, wird von einem älteren Freund aufwändig recherchiert und in einem österreichischen Depot ausfindig gemacht. Er schickt mir alle Daten zum Abgleich, übernimmt die Bestellung und Lieferung an eine Freundin in Tirol, die es mir bei Gelegenheit mitbringen wird. Es ist ein großes Plus Freunde zu haben, die bereits in Rente sind und gerne Detektiv spielen.

Foto: Joe MiGo/ Wikipedia

go as a river

Man sieht es dem Garten nicht an, dass ich in den vergangenen zwei Jahren annähernd fünfzig Sträucher, Stauden und Pflanzen darin eingesetzt habe. Die meisten hatten beim Kauf eine Höhe von etwa 60 Zentimeter und kaum eine davon ist heute über 80 Zentimeter hinaus. Ein Drittel ist gar nicht erst angewachsen oder hat sich selbst kompostiert, ein weiteres Drittel wurde mehrmals von Ameisen überrannt oder von vorzeitiger Entblätterung heimgesucht. Ein Garten, hier, unweit der Berge, mit den kalten Nächten, später Blüte und dem langsamen Wachstum ist insgesamt eine Erfahrung, die viel mit Ausnüchterung zu tun hat und wenig mit der Üppigkeit, Verrankung und Opulenz, die ich darin zu schaffen und zu finden hoffte. Das Gemüse habe ich aufgegeben, die Dahlien, Cosmea und Jasminsträucher aufgegeben, die Tomaten geraten geschmacklos, Erdbeeren kümmerlich, zwei Mal täglich Schnecken absammeln reicht nicht, um den Salat im Hochbeet zu retten. Die Nachbarin sagt, hier überleben nur Zwiebeln. Es muss sich also entweder ein Gewächshaus zugelegt und erheblicher Arbeitsaufwand betrieben werden oder man fügt sich in Landschaft und Klima. Ich bin jetzt in der Fügungsphase. Die nächste Stufe ist, ein Trampolin aufzustellen und Plastikspielzeug auf den Rasen zu schmeißen.

Auf dem Balkon ist unterdessen etwas Gutes von selbst passiert. Eine Art Vergissmeinnicht hat sich in die Balkonkästen gesät und wuchert blau-lila vor sich hin. Und ein geschenkter Mohn im Kübel gedeiht trotz Temperatur und Wind, die transparenten Blütenblätter leuchten in der Sonne, als sie einen Nachmittag lang in dieser Woche scheint.

Ein Freund sagt, ich würde den Garten zu genau beobachten, das sei nicht gut. Wie man einen Teenager auch nicht mit direkten Fragen in die Ecke drängen dürfe. Das müsse alles beiläufig geschehen. Also keine face-to-face Kommunikation. Ich bin sofort überzeugt. Am Abend gehe ich doch heimlich ans Fenster und schaue auf die angepflanzten Hortensien herunter. Ob die auch gleich wieder sterben oder zurecht kommen.

Der Regen fühlt sich nicht gut an, aber unterstützt mich bei der Anhäufung von Basiswissen in dem anderen Beruf. Ein paar bestellte Bücher zur Anwendung eines bestimmten Verfahrens sind eingetroffen und angelesen, kein Sonnenstrahl hält mich davon ab, die Kapitel herunterzuschlingen, es ist freudlos aber praktisch. Am Montag muss ich mich anmelden für eine Prüfung, die in einem Jahr stattfinden wird und die die Einreichung zahlreicher Unterlagen erfordert. In einem seltsamen Aktionsbündnis aus Sabotage und Bequemlichkeit habe ich das hinausgezögert bis nahe an das Ende der Anmeldefrist. Damit ich zur Prüfung zugelassen werde, muss eine Ärztin meine Stressresistenz bewerten. Sie befasst sich eine halbe Stunde mit mir und fragt ein paar Fragen, auf die ich völlig ehrlich antworte. Erst hinterher registriere ich, nicht mit meinen früheren Vorsichtsmaßnahmen und -antworten reagiert zu haben. Es wird sich noch zeigen, ob sich das bewährt. Die Ärztin jedenfalls hält mich für stressresistent und stempelt das ab.

Ich selbst halte mich für bedingt stressresistent. Ich kann nicht mit Verkehrslärm umgehen, nicht mit Beschallung durch Nachbarn, Baustellen, Gastronomieaußenbereiche, ständigen Durchsagen, akustischen Warnungen bevor Türen schließen und mittels Lautsprecher telefonierenden Mitmenschen. Aber wenn jemand eine Panikattacke hat, sich von Leere gelähmt fühlt, einen Stuhl gegen die Wand werfen will oder beim Weinen krampft, bin ich zentriert und klar. Und natürlich würde ich, wie jeder andere Mensch auch, umgehend einbrechen, wenn meine Existenz, Würde oder Rechte bedroht werden, wenn mein Neurotransmittersystem ungenügende Mengen von Serotonin ausschüttet oder ich eine Woche mit häufigen Schlafunterbrechungen hinter mir habe. Wollte die Ärztin das wissen? Ist das Stressresistenz?

Es gibt viele Wege, Stress zu vermeiden oder sich nach einer Stressspitze wieder zu beruhigen und ich halte es für eine zentrale Lebensaufgabe, herauszufinden, wie ich mir während und nach meinem Stress beistehe. Als ich vor drei Wochen nach einer beruflich fordernden und irritierenden Situation etwas belämmert im Raum herumstand, bot mir eine Kollegin an, sich mit mir auf ein Sofa zu setzen. Und da saßen wir dann. Eine viertel Stunde. Nebeneinander aus dem Fenster sehend, ohne ein einziges Wort. Sie hat das einfach mit mir ausgehalten.

14

Donnerstagnacht fahre ich beinahe ein Reh an. Es ist ein kleines Reh, die älteren Tiere der Herde sind bereits über die Straße gerannt, ich sehe sie spät, aber noch rechtzeitig, drossel das Tempo und weiche aus, als rechts aus dem Gebüsch ein Kleines heraus springt, um zu den anderen aufzuschließen. Ich bremse hart und komme wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen. Die nächsten 24 Stunden fühle ich mich deutlich weniger robust als sonst. Eine Kollegin, die mit mir plaudern will, wimmel ich nach zwei Sätzen ab, dann sitze ich eine halbe Stunde im Büro und schaue vor mich hin. Ich weiß, dass es für das Reh besser war, vor mein Auto zu laufen, anstatt vor das Auto einer schneller fahrenden Person. Noch besser wäre, ich müsste seltener Auto fahren und die Waldstücke hier in der Gegend würden nahtlos zusammenhängen. Mir geht nicht aus dem Kopf, wie zwei der älteren Tiere am Fahrbahnrand stehen geblieben sind und ohne ihrem Fluchtimpuls zu folgen auf das jüngere warteten. Sie hätten zuschauen müssen, wenn etwas passiert wäre.

Kurz danach liegt ein Amselei auf dem Boden hinterm Haus. Ein Nest, aus dem es herausgefallen sein könnte, entdecke ich nicht. Bis zum Nachmittag lasse ich das Ei liegen, dann hebe ich es auf und trage es eine Weile herum. Die Rotmilane kreisen in letzter Zeit auffallend tief über den Gärten, ich frage mich, ob sie sich gelegentlich bei den Singvögelnestern bedienen. Über Ostern habe ich mit großer Lust Nuancen von Blau und Grün durch kurze Eintauchintervalle in verschiedene Farbbäder erzeugt. Ein so fabelhaft Lapislazuli-gesprenkeltes Ei wie das der Amsel ist mir dabei nicht gelungen.

Wegen eines Termins halte ich mich in einem Münchner Neubaugebiet auf. Konkret sind das vier Hochhäuser mit einer Fassadengestaltung von geradezu lächerlicher Abscheulichkeit, daneben ein Flachbau, in dem Supermärkte untergebracht sind, und niedrigere Wohnblocks, die den Plattenbauten meiner Kindheit in kaum etwas nachstehen. Ich werde das nie verstehen. Nur wenige Jahre zuvor und wenige Kilometer entfernt wurde ebenfalls ein Neubaugebiet mit Hochhäusern, Einkaufsmöglichkeiten und weiteren Gebäudetypen in München hochgezogen. Alles daran sieht gut aus. Ich habe mir zwischendurch gewünscht, da leben zu dürfen. Es ist also prinzipiell nicht unmöglich, wirtschaftlich und schön zu bauen.

Der Waldboden am Montag darauf ist von Blumen übersät, auf den Felsvorsprüngen wächst violettes Heidekraut und Moos. Es sind die einzig sonnigen Stunden in dieser verregneten Woche, der in den Bergen noch massig vorhandene Schnee schmilzt, sammelt sich in Rinnen und fließt gurgelnd abwärts. Die Pfade verwandeln sich in vollgesogene Schwämme, in den Wiesensenken entstehen knietiefe Lachen, die Hütten geben ihre gespeicherte Wärme ab, ich lehne ohne inneren Lärm eine Stunde an den Fichtenschindeln einer Holzwand.

Am andern Tag ist es wieder kalt, zwei Freunde kommen spontan vorbei und bleiben bis Mitternacht, wir sprechen über Trinität, versuchen das unirdische Beziehungsgefüge auf irdische Bezüge herunterzubrechen, es menschlich einzukreisen. In einer so verregneten Woche lässt es sich gut herum operieren an Fragen, für die man sonst keine Verwendung hat. Tatsächlich aber fühle ich mich die folgenden Tage ungewohnt sortiert und heiter. Irgendeine in der Dreifaltigkeit liegende Aussage scheint an meinen Filtern vorbei eingesickert zu sein und mich zu bereichern.

In dem anderen Beruf schaue ich einen Tag lang einer Kollegin zu und denke dann einen weiteren Tag lang darüber nach, wie sie vorgeht, warum, mit welcher Haltung, zu welchen Ergebnissen das führt, ob sie im Anschluss müde wirkt, wie sie zurück bleibt. Ich habe das Glück, mit einigen Menschen zusammenzuarbeiten, die sich in die Karten schauen lassen, auch während sie stellenweise unsicher sind, Dinge probieren müssen und nicht auf alles vorbereitet sein können.

April

An drei bis vier Tagen im Jahr ist die Arbeit in der Institution schlimm. Immer im März, wenn das Budget auf hunderte bestehende und hunderte neu hinzugekommene Positionen verteilt werden muss und ich dafür nichts zur Verfügung habe, als veraltete Software, einen Taschenrechner und ausgedruckte Exceltabellen, die ich mit Tesafilm zu einem etwa 2 qm² großen Gesamteindruck zusammenklebe. In die Aufgabe wurde ich hineingetrickst. Von allen Beteiligten. Von dem Kollegen, der mich mit einer zuckersüßen Email angeworben hatte, von der direkten Vorgesetzten, die nicht wusste, um was genau es geht und von der indirekten Vorgesetzten, die beim Einstellungsgespräch von leicht zu verrichtenden Tätigkeiten in der Etatansetzung sprach. Nur mein Vorgänger war ehrlich und sagte bei seinem Abschied und nachdem ich unterschrieben hatte: Ich muss Sie warnen. Auch wenn Ihnen keine Fehler unterlaufen, wird das Programm Fehler melden. Wenn Sie dann nicht improvisieren, kann hier innerhalb von einer Woche niemand mehr handeln.
Was meinen Sie mit improvisieren, habe ich gefragt.
Tricksen, hat er gesagt.

Ich habe also in den letzten Tagen zuerst alles korrekt eingegeben und Dutzende Fehlermeldungen erhalten, darauf alles noch mal eingegeben, Geld erfunden, wo keines ist und Geld verschwinden lassen, wo es eigentlich existiert und mir handschriftlich vermerkt, was ich manipuliert habe. Das Programm ist darauf reingefallen. Es hat zwei Mal mit einem Fragezeichen reagiert und dann mit okay. Mittlerweile ist es Anfang April, der schlimme Teil des Jahres rum, die Kollegen schauen schuldbewusst und ehrerbietig zu mir auf, entrichten kleine Gefälligkeiten und versuchen mich weitere Jahre bei der Stange zu halten. Ich kann jetzt und die nächsten zwei Wochen stündlich mit Blattsalat angerichtete Sandwiches, für mich erledigte Post und auf kleinen Tabletts gereichten Kaffee einfordern, bevor mein Ruhm allmählich verblassen wird und ich für den Rest des Jahres zurücksinke in die Bedeutungslosigkeit, auf die ich mich ursprünglich beworben hatte.

Den anhaltenden Regen versuche ich mir mit dem dringend nötigen Steigen des Grundwasserpegels schönzureden, dem Lernen weiche ich aus, dafür sind jetzt zwei Bäume beschnitten, die Silikonfuge des Badewannenrands herausgekratzt, gesäubert und neu verfugt, der im Winter eingefrorene und abgebrochene Außenwasserhahn entfernt, Dichtungsband bestellt, ein Rucksack getestet und für untragbar befunden (und damit 11 Monate Rucksack-Recherche einen Schritt voran gebracht), die Kommode nach Feuchtigkeitsunfall abgeschliffen, geölt und aus Schafwolle Schlüsselanhänger für Zweit- und Drittschlüssel geflochten. Heute Morgen habe ich noch erwogen, aus Naturmaterialien Ostereierfarbe herzustellen, ehe ich einsah, dass ich irgendwann wieder lernen muss und mich nicht ewig in einem Fantasieheimwerkerleben verstecken kann, nur weil mich das nächste Kapitel inhaltlich nicht reizt.

Auf dem Weg zu Freunden, die an dem Abend Halloumiburger machen werden, höre ich Musik der frühen Nullerjahre und sitze zufrieden in Öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen sich ausgehbereit angezogene Menschen mittels Lautstärke, Lachwilligkeit und über Sitze hinweggerufene Aufforderungen, mit ihrem Wochenendkörper vertraut machen.
Ich mag es, neue Freunde zu finden, zu begreifen, wie sie sind, was da los ist, in was sie sich reinschrauben, womit sie glänzen und auf welche Weise sie in sich hängen bleiben. Genauso bereichernd ist es, alte Freunde kennenzulernen. Noch mal von vorn zu ertasten, was das eigentlich für Wesen sind, wie sie reingespült wurden in diese Welt, worüber sie sich seit Jahrzehnten den Kopf zerbrechen und wie sie ihre Gefühle inkarnieren in Gegenstände, Handlungen, Wohnungen und Politik.

Auf Amazon ein Set Lebensmittelfarben bestellt. Sobald das Kapitel, das mich inhaltlich nicht reizt, absorbiert, verstanden und verwahrt ist, darf ich die Eier bemalen. Laut Wetterbericht wird es an Ostern 8 Grad und sonnig. Ich will das dieses Jahr so richtig prall durchziehen mit Nestern im Garten, Weidenkätzchen und den Schafen des Nachbarn, die hoffentlich im richtigen Moment vorübergehen.

Das Stundenbuch

Nach einer Woche Fieber stehe ich auf, wanke zur Musikanlage und tanze eine Stunde ins Abendlicht, in die Unerklärlichkeit, aus der alles kommt.

Die Forsythien blühen. Die Frau, die hier lebte, hat sehr unterschiedliche Sträucher und Büsche gepflanzt, von den Forsythien aber drei. Ich vermute, sie stand, wie ich jetzt im März am Fenster und sah zu, wie die Knospen stündlich springen, ein Zweig nach dem anderen.

Als Mitte der Woche das Thermometer über 39 Grad klettert und ich den vierten Tag am Stück keinen Hunger habe, kauft der Freund Vanillepudding und legt ihn mit einem kleinen Löffel neben meine Matratze. Es hilft. Der Vanillepudding führt mich zurück zu Toastbrot, das Toastbrot zu Reis, der Reis zu Spiegelei und dann bin ich über den Berg. Ich habe trotzdem drei Kilo abgenommen. Das hat mich ein bisschen erschreckt.

Unterdessen ist Sepp, ein alter Bekannter hier aus der Gegend, gestorben. Er hat als junger Mann in den 50‘er Jahren Baumstämme den Fluss runter geführt. Der Fluss war reissend, bei der Arbeit gab es häufig Verletzte und Tote. Das geschlagene Holz wurde aus dem Wald gezogen, an den Ufern zur Flößen zusammengebunden, die Flöße mit weiterem Holz beladen und dann Richtung Lenggries und München getrieben. Sepp hatte die seltene Gabe, einem lang in die Augen sehen zu können ohne Eile und scheinbar ohne Wertung. Ich weiß nicht, wie er sich diese Weichheit bewahren konnte, wo er doch in absolut unweichen Zeiten aufgewachsen ist. Er muss unfassbar Glück gehabt haben mit seinen wichtigsten Bezugspersonen. Oder eine unfassbare Reise durch sein Inneres und diese Welt gemacht haben. Er hat in den letzten Jahren oft in der Abendsonne am Haus gesessen.

Am Samstag liege ich mit Freunden im gelben Gras neben einem Wasserfall und trockne. Die Haare noch nass, der thrill des Reingleitens, Reinfallens, nicht kontrollieren zu können, wie schnell und haltlos man den glitschigen Steinrand hinunter ins Becken rutscht. Die Kälte ist schmerzhaft, zwingend, nach zehn Sekunden übernehmen die Reflexe und hieven einen wieder raus aus dem Wasser, es ist unerträglich und schön für diese kurze Spanne Zeit. Hypnotisiert am Rand sitzen und den anderen zusehen, wie sie zögern, den Halt verlieren, drinnen sind.

…eins muss ich wieder können: fallen.

3 Steine

Es stürmt vier Tage und Nächte. Ich weiß nicht, wie das Leute machen, die an Küsten leben. Den ganzen Tag Wind? Wie soll man da zur Ruhe kommen. Ich habe mal jemand sagen hören, Erziehern, Landwirtinnen und Pflegerinnen von demenzkranken Menschen sei das Phänomen bekannt. Ab einer gewissen Windstärke drehen die Anvertrauten ab. Die allgemeine Schusseligkeit, Gereiztheit und Bereitschaft, lang aufgesparte Emotionen umgebremst in die Gruppe zu kanalisieren, springt wetterbedingt auf ein Monatshoch, pädagogische Interventionsversuche schlagen fehl, am Abend liegen alle heulend und zerstritten im Bett. Es ist so lächerlich und beschränkt, ein Mensch zu sein. Man ist einfach allem ausgeliefert.

Am Ende der Woche ist Streik. Es wird skandiert, gefordert und gebuht, wenn von dem Angebot unseres Arbeitgebers die Rede ist. Ich verhalte mich auf solchen Veranstaltungen eher still, trage keine Leuchtweste und pfeife nicht auf Pfeifen, aber halte mit den Kolleginnen eines der Banner bei der Kundgebung. Was soll man machen? Wir müssen da alle zwei bis drei Jahre wieder durch.

Jetzt wo der Winter aufhört stehe ich manchmal bei 13 Grad und temporärem Sonnenschein an eine Hauswand gedrückt oder in der Glaseinhausung einer Trambahnstation oder an einem Feldrand in der immer noch kahlen, schlammgrauen, ausharrenden Landschaft und verorte mich in diesem März, als Davongekommene. Als auf der anderen Seite des Winters Herausgekommene.

Am Samstag feiern wir den Geburtstag eines Freundes. Wir sitzen in einem dunklen Raum auf einer Decke am Boden und essen Suppe aus Müslischalen. Es gibt 9 Flaschen Bier, die sich 15 Leute teilen, verklebte Salzstreuer und eine recht spontan zusammen gekommene Gästerunde, darunter Menschen, die ich zum ersten Mal sehe. Die Feierlichkeiten in letzter Zeit kehren optisch und choreographisch zunehmend zurück in die WGs, aus denen sie ursprünglich entwichen sind. Es fehlen nur noch tropfende Kerzen auf unter Wachs kaum mehr zu erkennenden Weinflaschen und verwursteltes Bettzeug in der Ecke. Ich weiß nicht wann der Trend umgekehrt ist und sich auf den Heimweg gemacht hat. Vor Kurzem noch saßen wir allwöchentlich gepflegt an anspruchsvoll ausgeleuchteten Tafeln mit einheitlichem Geschirr, in unserem Schoß Leinenservietten, auf den Lippen teurer Alkohol, im Ofen libanesische Cuisine, für die jemand stundenlang in der Küche gestanden hatte.

Am Samstag jedenfalls ist das Essen zwar da, spielt aber keine tragende Rolle, der hereingebrachte Kuchen wird beklatscht, der Freund besungen und dann die Playlist angeschmissen. Der Rest ist Tanz und in dunklen Winkeln stehende Menschen, vertieft in irgendwas, manchmal ineinander. Es ist ein gutes Fest, um wieder Haut, Blut und Knochen zu werden, nachdem man eine Woche lang meinte, es ginge darum, Resultate zu erzielen. Ich freue mich wie ein Kind, als ich gegen Ende des Abends mit ein paar Tanzenden in synchrone Bewegungen verfalle, darunter Menschen, die ich eigentlich nicht kenne, aber in dem Moment doch erkenne.

Unter der Woche

Ich mag das abendliche Tschilpen der Vögel, ihre gesteigerte Gesprächigkeit bevor sie einschlafen. Es reihen sich ein paar Nächte aneinander, in denen die Sichel gut zu sehen ist, dann zwei Tage Nebel und eine darin erahnbare Sonne kurz bevor sie untergeht.

Nach dem Wintereinbruch letzte Woche taut und tropft es von den Dächern, ich wache auf vom Gurgeln des konstant sich verflüssigenden Schnees. Ein Freund hat Geburtstag. Er ist einer der zwei Männer in meinem Umfeld, die sich explizit über Blumen freuen und sich auch selbst Blumen kaufen, daher gehe ich zur Floristin an der Hauptstraße und wähle weißen Ginster für ihn und blasslila Rosen für mich. Bei allen bleichen, welk wirkenden Farben muss ich regelmäßig an Egon Friedell denken, der 1928 so unterhaltsam den Hang des Rokoko zu Blutarmut, Niedergang und Stadien des Verfalls beschrieb:

“Das Rokoko fühlt sich krank und anämisch, die Tönung der Gewänder ist delikat, diskret: man wählt die Farbe der Pistazie, der Reseda, der Aprikose, des Seewassers, des Flieders, des Reisstrohs und gelangt bisweilen zu ganz abenteuerlichen Nuancen: ein neues Gelbgrün heißt Gänsedreck, ein Braungelb dem neugeborenen Thronfolger zu Ehren caca Dauphin… Gesundheit gilt für uninteressant, Kraft für plebejisch. Das aristokratische Ideal wandelt sich zum Ideal der Feinheit, Hypersensibilität und vornehmen Schwäche, der betonten Lebensunfähigkeit und Morbidität.” [Kulturgeschichte der Neuzeit]

Zurück in der Institution fallen alle drei Zimmerkolleginnen krankheitsbedingt aus, zeitgleich treffen mehrere Jahreslieferungen Literatur ein. Die Kartons und Transportkisten stehen in drei Reihen zwei Meter hoch gestapelt. Ich würde die Kolleginnen unterstützen, aber sie haben sich bei der Systematisierung eine spezielle Kodierung ausgedacht, die niemand außer ihnen selbst versteht, daneben habe ich andere Aufgaben und vertrete bereits genügend Leute. Daher sitze ich einfach in dem weiter zuwachsenden Büro und winke die Lieferanten heran, die keine zwei Schritte mehr ins Zimmer machen können, erschrocken schauen und mit entschuldigendem Lächeln weitere Pakete auf die vorhandenen oben drauf schieben.

Am Freitag ist die Klimademo, aber ich bin verhindert und muss zu Hause bleiben. Ich lerne noch mal die Diagnosekriterien für affektive Störungen und träume in der Nacht danach, dass jemand bipolar Typ 2 ist und mir seine Symptome ins Ohr sagt. Worauf ich erwidere: Ja, das sind Kennzeichen einer Hypomanie. Sie sind vermutlich bipolar Typ 2.
Ohne Witz, so flach und harmlos sind meine Träume mittlerweile. Einfach die Wiederholung des Gelernten. Als würde ich meinem Gehirn dabei zusehen, wie es den Gang runter zum Langzeitgedächtnis läuft, den Tagesinput darin archiviert, umkehrt und “fertig” ruft.

Ich habe seit ich klein war immer fürchterlich geträumt. Krieg, Flutwellen, verwaiste unterernährte Babys, verwundete Freunde auf dem Bürgersteig, Ringkämpfe mit Menschen, die mir physisch überlegen sind, von Hochhäusern herunterstürzen, schwarze Löcher, die mich schlucken. Einmal musste ich Alexej Nawalny in einer Altbauwohnung im Münchner Westend verstecken, ein ander Mal Auto fahren in einem Auto ohne Bremsen. Bis vor etwa zwei Jahren war das fast jede Nacht so. Dann bin ich aufs Land gezogen und die Albträume haben aufgehört. Die ländliche Umgebung ist aber sicher nicht der einzige Grund für die Besserung. Wenn ich jetzt morgens aufwache gibt es nichts mehr zu entschlüsseln, zu deuten, keine Verkleidung, Verzerrung, Metaphern und Traumreste, die mir bis zum Abend nachgehen.

Eine von mir geschätzte Lehrerin hat gesagt: Wenn der nicht selbst gewählte, aber doch selbst aufrechterhaltene Stress, nachlässt oder gar aufhört, wird einem die darauf folgende Stille komisch vorkommen. Vielleicht auch langweilig. Nach mehreren Jahrzehnten Adrenalin fühlt sich langsamer werden oder Stille nicht gleich nach Frieden an.

Ich unterscheide an dieser Stelle zwischen stressenden gesellschaftlich-politischen Bedingungen, die niemand im Alleingang wegoptimieren kann und Bedingungen, die tatsächlich von mir steuerbar sind.

Im Traum und im Wachzustand nicht mehr gegen Übermächte zu kämpfen ist immer noch eine eher neue Erfahrung für mich. In meinem Schlafkörper scheint sich die Gewissheit auszubreiten, gut aufgehoben zu sein, obwohl diese Welt kein sicherer Ort ist. Ich finds nicht langweilig. Ich habe Lust auf mehr von diesem Frieden.

Die blasslila Rosen sind jetzt aufgegangen. Im Laden an der Hauptstraße beschlichen mich noch Zweifel. Geschlossene Rosen sehen immer so hart konservativ aus. Aber nach 48 Stunden in lauwarmen Wasser: exaltiert und aufgeklappt bis zum grünen Stengel.

Kassiopeia, wo bist du?

Nach dem Homeoffice fülle ich Pfefferminztee in eine Flasche, packe den Rucksack und gehe auf einen der näheren Berge. Das erste Drittel ist mühsam, der Schnee ist teils getaut und wieder überfroren, ich hadere mit den Bedingungen und erwäge umzukehren, um die Zeit fürs Lernen zu nutzen. Ich bin bei den Kapiteln zu dissoziativen Störungen angekommen, aus gegebenem Anlass brauche ich das Wissen aktuell häufig in der praktischen Arbeit, recherchiere und lese erneut die Sekundärliteratur. Ich merke aber auch, dass meine Instinkte nach 8 Jahren Auseinandersetzung damit einigermaßen gereift sind, einspringen und die Lücken füllen, wo ich noch nicht alle Fakten zusammen habe. Es ist befriedigend, das zu erleben. Im Zweifelsfall reicht manchmal ein Blick zu einem anwesenden Kollegen oder einer Kollegin für die Zweitmeinung Es kommt im Moment einiges zusammen, was über einen gewissen Zeitraum parallel und ohne Verknüpfung koexistiert hat.

Weiter oben am Berg wird es milder und einfacher zu gehen, die Vögel in den Fichten befinden sich bereits in ihrem Abendgespräch. Auf der Kuppe lehne ich mich an eine Schuppenwand, wärme die Finger und schaue zu, wie die Farbe des Himmels von Eisblau nach Lavendel kippt. Nach dem Lila kommt ein blasses Rosa, das sich 20 Minuten mit dem kalten Gelb im Westen die Waage hält, bevor es an den Zacken der Karwendelkette anfängt rot zu glühen. Ich steige in der Dunkelheit ab. Wo der Lichtkegel meiner Stirnleuchte den Schnee trifft funkelt es. Der Halbmond ist nicht zu sehen, die Venus mit ihrem orangen Schein deutlich zu unterscheiden von den silbernen Sternen. In den dichten Waldstücken dringt kaum Himmelslicht nach unten, es ist so finster, wie ich manchmal will, dass es finster ist.

Ich glaube, die Füchse sind jetzt durch mit der Paarung. Man hört sie nicht mehr schreien, kläffen und kichern auf diese irritierende Weise, mit der sie im Janaur und Anfang Februar die Geräuschkulisse des Waldes vervollständigen. An zwei Tagen treffe ich Freunde und freu mich daran, was sie machen und erleben. Dass ich manchmal darin involviert sein darf und manchmal nur vorbeischramme, während ihre Erzählung stattfindet.

Später in der Woche werde ich krank, schreibe in der Minute, in der es mir auffällt, eine Mail an die Vertretung, lasse den Stift fallen und fahre nach Hause. Es war kein leichter Weg für mich zu verstehen, wohin verschleppte Grippen führen und ich bin nicht gewillt, den Weg noch mal zu gehen. Ich erinnere mich an das Gesicht der Ärztin in der Notaufnahme, die meine entzündeten, zugeschwollenen Augen untersuchte, den Kopf schüttelte und mich neun Tage an einen Antibiotikatropf im Krankenhaus hängte. Im Zimmer lag ich mit einer Graphikdesignerin, die sich in einer Werbeagentur mit 16-Stunden-Tagen in einen Burnout plus Hautreaktion gearbeitet hatte und einer blutjungen Erzieherin, die monatelang unterbesetzt und damit alleinverantwortlich Kinder aus prekären Verhältnissen betreute, ehe eine Autoimmunerkrankung und/oder Panikattacken etwas in ihrer Lunge regelmäßig zuschwellen ließ.

Die Erziehering bekam auf der Station jeden zweiten Tag Besuch von ihrer alkoholisierten Mutter. Wenn die Mutter weg war, stand das Mädchen auf, öffnete ein Fenster und legte sich wieder ins Bett, mit dem Gesicht zu Wand.

Mit diesen zwei Zimmergenossinnen habe ich zusammen sehr viel Joghurt gegessen, die Gänge nach ruhigen Plätzen zum Telefonieren abgesucht und auf einen Bildschirm gestarrt, als es in Fukushima nach dem Tsunami zur Kernschmelze in den Reaktorblöcken des Kraftwerks kam. Und weil die Realität oft dichter und schräger ist als Ausgedachtes befanden wir uns dabei die ganze Zeit auf der Kinderstation des Krankenhauses, da die Stationen für Erwachsene alle belegt und überbelegt waren. Das heißt, die Pfleger, die morgens und abends reinkamen, um Blutdruck zu messen und Infusionen zu legen, waren manchmal als Pumuckl verkleidet und sprachen dann auch so wie er. Die Türklinken der Zimmer hatte man höher gesetzt, um das Weglaufen kleiner Patienten zu verhindern. Die Klinken befanden sich etwa auf Höhe meines Halses. Ich bin aus dem Krankenhaus gegangen mit dem Entschluss, dies die letzte Erfahrung dieser Art sein zu lassen. Wenn ich beim nächsten Mal eingeliefert werde, will ich völlig schuldlos sein an was auch immer mir dann passiert sein wird.

What is, is the great teacher

Aus dem Auto tritt eine Flüssigkeit aus. Der junge Mann, der zwei Häuser weiter in seiner Garage eine Hebebühne mit Notfallservice betreibt, versichert, es sei keine Bremsflüssigkeit, sondern das Kontrastmittel der Klimaanlage, kein akuter Handlungsbedarf. Er macht das umsonst und lächelt, als ich auf dem Glatteis in seiner Einfahrt umherschlittere. Ich mag diese Nachbarschaft. Jede und jeder kann irgendwas oder hat irgendwas. Werkzeug, Anhänger, Leitern, einen Vogelschutzverein, eine Blaskapelle, einen kleinen Knall oder eine Meditationsgruppe, die das Meditieren aufgegeben hat und sich nur noch zum Backen trifft.

Schräg gegenüber lebt eine Französin ein unauffälliges Leben mit dem Kirchenmusiker und ihrer Katze. Nur einmal hat sie einen Stein in das Schuppenfenster des Nachbarn geschmissen, weil ihre Katze in ebendiesen Schuppen eingestiegen war, der Schuppenbesitzer (ein Grantler, wie man hier sagt) die Katze darin einschloss und sich weigerte, wieder aufzusperren. Die Katze wurde befreit, die Polizei kam, das zerschmissene Fenster musste von der Französin bezahlt werden. Das hat sie mir erzählt, während ich ihre Katze streichelte. Ich kann mich erinnern an den Abend, als das geschah. Ich sah die Französin rübergehen zum Schuppen und davor schreiend vor Wut in ihrer Wohnung toben. Die Katze hat das gut verkraftet. Sie ist weiterhin neugierig und voller Elan.

Normalerweise ist jetzt die Jahreszeit, in der ich webe. Nichts Aufwendiges, lediglich eine hellbraune Reihe nach der anderen aus Ziegenhaar und Schafwolle. Aber der Webrahmen steht im Keller und wird dort bleiben müssen, bis der Prüfungsstoff in meinem Kopf ist. Ich kriege es jetzt einigermaßen hin, zwischen Theorie und Praxis zu wechseln und meine Gedanken zu stoppen, wenn sie kurz vorm Einschlafen noch mal zu den bedrückenden Fakten mancher Inhalte zurückkehren. Ich habe dieses Stoppen intensiv trainiert, nachdem ich im Anschluss an die Auseinandersetzung mit menschlich sehr leidvollen Situationen manchmal in einen unangenehmen Zustand gerutscht bin.

Etwas nicht zu denken, was denkbar ist, aber mich inhaltlich noch überfordert, hat überraschenderweise viel damit zu tun, eine körperliche Grenze zu markieren. Ich mache also vor dem Einschlafen manchmal Bewegungen, die unter anderem in Selbstverteidigungskursen geübt werden. In Hinblick auf die somatischen Stufen der Entwicklungspsychologie ist das nicht verwunderlich. Wer sich traut, körperlich etwas abzuwehren oder zu stoppen, kann auch eigene Gedanken in die Schranken weisen. Die äußere Bewegung ist der inneren Bewegung verwandt. Mir ist dabei wichtig, nicht in einen offenen Kampf mit meinen Gedanken einzutreten. Ich bedanke mich für ihre Anregung und vertage sie auf später - zum Beispiel auf den Zeitpunkt, ab dem ich in der Lage sein werde, mich ihnen zu widmen ohne dabei Schaden zu nehmen.

Meine Tanzlehrerin musste während der Pandemie ihr Studio aufgeben. Jetzt treffen wir uns in dem schlecht beheizbaren Erdgeschoss einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik. Es fühlt sich nicht so industrial-romantisch an, wie das Wort Nähmaschinenfabrik suggeriert. Das Gebäude ist marode, die Toiletten stinken, die Wände wurden mit oranger Wischtechnik bemalt, ein Fenster lässt sich nicht vollständig schließen, der Vermieter hat den Schlitz mit Gaffer Tape “repariert”.

Die Kälte nervt. Nachdem ich den Tag über in den öffentlichen Verkehrsmitteln gefroren habe, dann im Büro und wieder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, friere ich in der Nähmaschinenfabrik weiter. Die körperliche Betätigung kommt kaum dagegen an. Aber was sollen da erst Leute sagen, deren Infrastruktur weggebombt wird. Oder der Bekannte einer Freundin in der Unterkunft für Geflüchtete, der sich für jede Minute, in der er Privatsphäre braucht, in den Schneeregen vor die Unterkunft stellt. Wegen der Residenzpflicht - dem eingeschränkten Bewegungsradius von Asylbewerbern innerhalb der ersten drei Monate in Bayern - können wir den Bekannten nicht einmal für ein Wochenende zu uns einladen. Selbst wenn wir ein Zimmer hätten, müsste er in der Unterkunft wohnen. Das muss man sich mal vorstellen. Es gibt Momente, da möchte man einen Stein nehmen und Schuppenfenster einschmeissen.

Die Freundin fährt regelmäßig 150 km zu der Unterkunft, um den Bekannten organisatorisch und emotional zu unterstützen bei dem was hinter ihm liegt und was vor ihm liegt. Daneben gibt es Studierende der juristischen Fakultät, die den Bekannten unentgeltlich in Rechtsfragen beraten, was bitter nötig ist, will man verhindern, dass er zurück in seinem Herkunftsland direkt vom Geheimdienst einkassiert wird.

Unterdessen hat ein anderer Freund für die Ukrainer, die ein 3/4 Jahr bei ihm gewohnt haben, eine Wohnung gefunden. Weiterhin verbringt er wöchentlich einige Stunden damit, ihnen beim Abschluss von Verträgen, Jobangeboten und der Kommunikation mit Behörden zu helfen.

Ich schreibe das auf, um mich daran zu erinnern, dass dieses Leben nicht gerecht ist, es darin aber immer wieder Menschen gibt, die ihr Mögliches tun, um die Härten der Ungerechtigkeit abzufedern.

Fast Februar

Die Bergkette erscheint heute schwindsüchtig und bleich. Ein allerhellstes Blau vor weißem Licht; in Bodennähe Nebel und weiter oben Farbauflösung. Selbst für ein Pastellaquarell wäre das zu wenig deckend. Gerade deshalb ist es natürlich fabelhaft. Eine Halluzination von Winter.

Es ist fabelhaft und anstrengend. Jeden Tag taut es für ein paar Stunden und jede Nacht friert alles wieder fest. Die Kälte schneidet, die Wege sind glatt, Erwachsene hangeln sich mit aufgerissenen Augen vom Laternenmast zum Gebüsch zum Treppengeländer zum S-Bahnsteig und es ist viel erreicht, wenn das ohne Sturz bewältigt wird. Er wäre eine gute Woche, um das Haus nicht zu verlassen, gerade jetzt aber liegen viele Termine an und ich bin mit den Bedingungen des Hin- und Zurückkommens mindestens so beschäftigt wie mit den Terminen an sich.

In einer Arbeitsgruppe mit Leuten, die sich zum Teil noch nicht kennen, bläst sich ein Mann bereits in der Vorstellungsrunde ganz schön auf. Als er zu einem bestimmten Zeitpunkt einer anderen Person ziemlich uninformierten Käse erzählt, hinterfrage ich seine Aussage. Er eskaliert umgehend in der hässlichsten Weise. Ich bin sehr wütend und kann mich lange nicht beruhigen. Freue mich aber, dass ich seine mangelnde Interaktionsfähigkeit entlarvt habe und die anderen das mitgekriegt haben. Besser, es ist gleich beim ersten Treffen klar, dass man es hier nicht mit einer harmlosen Person zu tun hat.

Frauen in meiner Altersspanne sollten 8-17 Liegestütze am Stück schaffen. Ich kann 0,5. Gelegentlich nehme ich einen Anlauf, trainiere und kann irgendwann 2. Dann werde ich faul und bin wieder bei 0,5. In meiner Tanzgruppe tanzen ein paar ältere Damen und ich nehme ihre Prognosen sehr ernst; die nachlassende Knochendichte, das Frakturrisiko, die verminderte Regenerationsfähigkeit. Eine schön geschminkte Achtzigjährige hat zu mir gesagt: Zum Schluss sind es nur Muskeln, die diesen Schrotthaufen zusammenhalten.

In der Institution wird nun jeden Monat ein Babyboomer verabschiedet. Kaum eine Woche ohne Ankündigung einer Feier anlässlich bevorstehender Pensionierung. Mit den meisten war eine verlässliche und angenehme Zusammenarbeit möglich. Wenn die Stellen weiterhin unbesetzt bleiben, hätte ich nichts dagegen, wenn KI ein paar davon übernimmt.

Vor einer Weile hatte ich eine ziemliche Obsession mit der japanischen, ländlichen Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ich hatte Bruno Taut “Das japanische Haus und sein Leben” gelesen und sah mir nachts die Filme von Ozu Yasujirō an, wegen der Innenräume, nicht wegen der Handlung.

Bruno Taut verließ Deutschland 1933, nachdem die Nationalsozialisten ihm die Professur an der Akademie der Künste entzogen hatten. Auf Einladung befreundeter Architekten lebte er drei Jahre in Japan, beobachtete seine Umgebung und notierte. Eindrücklich beschreibt er die erste Nacht in einem traditionellen Haus mit Außenwänden aus Papier (im Winter). Fazit: Innentemperatur = fast wie Außentemperatur. Die Idee bestand darin, den Körper zu wärmen, nicht den Raum. Daher die an der Feuerstelle aufgeheizten kleinen Metallstangen, die man sich in Ärmel und Falten der Kleidung legte.

Nachdem Bruno Taut alles mögliche beobachtet und festgehalten hatte (Toiletten und Lichtstimmung auf den Toiletten, Stauraum und Kochstelle, Religion und Nichtabschließbarkeit der Türen) widmete er sich dem Teehaus im Garten:

“Gebaut wurde eine literarische Idee. Hütte in der Natur, Vergänglichkeit des Menschenlebens, Genügsamkeit an bescheidenen Dingen, Liebe für alles dies und infolge davon: Stille des Herzens.”

Nothing stands alone

Aktuell werden ein paar junge Menschen durch das Büro geschleust, deren berufliche Laufbahn ihnen nicht erspart, vier Wochen in meiner Abteilung hospitieren zu müssen. Zu jedem einzelnen von ihnen möchte ich sagen: aufrichtiges Beileid. Sie sind bemüht, die jungen Menschen. Sie versuchen die Augen offen zu halten, streichen ihre Haare aus der Stirn und geben gelegentlich einen Laut von sich, um wenigstens vokal anwesend zu bleiben. Es hilft nichts. Ihr Körper ist zu jung für das hier.

Die für die Vermittlung zuständigen Kollegen sind seit dem Sommer in einer task force organisiert, in der sich vierzehntägig der Kopf darüber zerbrochen wird, wie man Hospitierenden vorgaukeln kann, die Tätigkeiten in unserer Abteilung würden Spaß machen. Die Körper der jungen Menschen lassen sich aber nicht belügen. Ich sehe sie sitzen unter dem Gewicht ihrer Langeweile, sie können nicht fassen, der Schule, der Uni, dem letzten Praktikum entkommen zu sein, um jetzt schon wieder durch eine Masse aus Daten zu waten, die keinerlei Emotion in ihnen hervorruft.

Und doch ist es so. Die Institution ist auf Menschen angewiesen, zur Not auch auf gelangweilte. Wie überall gibt es aber keine Menschen mehr, jedenfalls keine, die sich bewerben. Manchmal treffe ich auf dem Gang die Leute vom Recruiting. Sie winken nur ab, wenn man nach den unbesetzten Stellen fragt. Ich will unter diesen Umständen nicht wissen, mit welcher Verzweilfung Krankenhäuser, Pflegeheime und Bildungseinrichtungen den Fachkräftemangel verwalten.

Jetzt zum Mond. Ich muss mich korrigieren. Ich hatte geschrieben, auf dem Mond gäbe es nur flache Erhebungen. Das ist falsch. Es gibt einen 5.500 Meter hohen Berg auf der Vorderseite und einen fast 10.800 Meter hohen Kraterrand auf der Rückseite. Auf der Rückseite ist auch der tiefste Punkt des Mondes. Ein rund acht Kilometer tiefes Einschlagloch.

Der blauweiß marmorierte Trabant im unteren Bild ist einer der 82 Monde des Saturn. Seine Oberfläche ist bedeckt mit Wassereis, weshalb er 99 % des bei ihm ankommenden Sonnenlichts reflektiert. Er hat das größte Rückstrahlvermögen im Sonnensystem, das heißt er reflektiert Licht stärker als frisch gefallener Schnee.

Unterdessen schneit es auf der Erde, da wo ich wohne. Es fängt am Morgen an, es schneit den ganzen Tag und dann bis in die Nacht. Die Felder verwandeln sich in eine japanische Kalligrafie. Ich verbringe etliche Stunden in einer Veranstaltung, aus der ich mich vorzeitig in gebückt - gesenkter Haltung hinausschleiche, eine U-Bahn nehme und der Beschreibung in den Park folge, um den Ort zu finden, an dem heute getanzt wird.

Eine kleine Turnhalle unter kahlen Bäumen, beim Betreten knarzen die schweren Holztüren. Es gibt in diesem Stadtviertel einige alte, allein stehende Turnhallen, gebaut um die Jahrhundertwende, kaum größer als zwei Klassenzimmer, oft mit Bühne an einem Ende des Raumes, manchmal in Jugendstiloptik. Als ich eintrete ist es dunkel und es wird dunkel bleiben, die Anwesenden nur gelegentlich rot erhellt von der zurückhaltenden Lichtanlage. Durch schmale Fenster sind die unbewegten Bäume des Parks zu sehen und überall in der großen schwarzen Luft weiße Flocken. Die starken farblichen Kontraste des Januars werden in dieser Nacht getoppt von den akustischen Polen, draußen still, drinnen laut. Ich tanze einigermaßen vorgekocht, da in den Stunden zuvor bereits einiges geboten war an grenzwertig intensiven Gefühlen, Forderung und menschlichen Aufgaben. Es wundert mich daher nicht, dass ich mich gegen Ende an den Rand der Menge stelle und eine Minute lautlos weine, weil eine junge Frau in meiner Nähe ein Lied singt, dessen Inhalt ich aus Kitschgründen eigentlich ablehnen müsste. Sie singt lauthals, mit offenen Augen und mehrmals hintereinander:

Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.
Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.

Am nächsten Abend sitze ich mit Freunden in einem Lokal, in dessen durchgewetzten, hellgrünen Polstermöbeln wir seit zwei Jahrzehnten alles feiern, was Menschen widerfahren kann: sich verlieben, heiraten, älter werden, sich verlieren, die anderen verlieren, krank werden, ratlos werden, wieder auf die Beine kommen, von vorne beginnen, weitermachen. Es ist mir mittlerweile recht egal in welchen Ansichten, schlechten Gewohnheiten, politischen Vorlieben und charakterlichen Schwächen wir uns unterscheiden, solang ich gelegentlich Flanke an Flanke zwischen diesen Leuten in die Runde schauen kann, während mein Heimatplanet durch den Weltraum fliegt.

Nachtrag: Die Toiletten der Turnhalle im Park wurden vermutlich in den 70’ern saniert und befinden sich in einem Zustand, den ich noch aus meiner Schulzeit kenne. Auch die eigentlich großartige Vorrichtung, um nachhaltiges Händeabtrocknen zu ermöglichen, versagt auf die gleiche Weise wie damals.

Alle Mondfotos: Mondlandschaften, Thorsten Dambeck, 2022

Hinter uns die Maschinen

Es ist warm. Der Winterhimmel an diesem Abend aprikosenfarben. Es wäre ein guter Tag gewesen, um nach der Arbeit auf einen der nahe gelegenen Berge zu steigen, den Sonnenuntergang abzuwarten, mit der Stirnleuchte runter zu gehen, während es dunkel wird.

Ein Freund hat sich ein Fernglas gekauft, wir schauen bei Tageslicht auf den Mond. Die Krater sind gut zu erkennen, die Mondhaut pockennarbig und kreidig. Ich habe, obwohl ich mich sehr für den Mond interessiere, bisher nie durch ein Fernglas oder Teleskop auf ihn gesehen und rufe einen Verblüffungslaut, als er ins Bild rückt. Er ist wirklich eine Kugel. Wie wir.

Planetenforscher vermuten, der Mond sei nach seiner Geburt in näheren Bahnen um die Erde gekreist. Nur ca. 200.000 Kilometer entfernt von uns. Das ist ungefähr die Hälfte seiner jetzigen Entfernung. Er wirkte größer und war deutlicher auszumachen. Leider bewegt er sich jedes Jahr 3,8 Zentimeter von uns weg. Ich finde das nicht gut.

Im Büro sitze ich einmal in der Woche neben einer etwas älteren Kollegin. Menschen wie sie gab es früher viele in der Institution. Sie sterben jetzt alle aus. Immer wenn die Kollegin für einen Moment den Raum verlässt, schaue ich auf ihren Schreibtisch und versuche mir alles einzuprägen; diese Art sich zu verwalten, diese Art sich am Arbeitsort wohnlich einzurichten - wird bald für immer verschwunden sein. Ich zähle 24 gespitzte Bleistifte in dem Keramikhalter neben ihrer Tastatur, zwei gerahmte Familienfotos, eine Weihnachtstassensammlung, eine Reisetassensammlung, eine Reihe kleiner Pflanzen in bunten Töpfen. Dahinter im Regal ein auf Servietten angerichteter Obstteller mit bereitgelegtem Obstschneidemesser. Daneben ein (vom Büromanagement verbotenes) privates Möbelstück, in dem 4 Handcremes, 5 Geschirrtücher, 6 Vasen, 3 Handtücher und eine Vorratspackung Gummihandschuhe aufbewahrt werden. An der Wand dahinter zwei Wandkalender mit erbaulichen Motiven und ein neunbändiges Lexikon, dessen Inhalt eigentlich auch digital vorliegt. Unsere Abteilung ist erst Ende November in dieses Gebäude eingezogen. Wann hat die Kollegin all das hier her gebracht?

Früher, als es noch kein Büromanagement und kein Verbot privater Möbelstücke am Arbeitsplatz gab, kam es regelmäßig zu Räumungen, wenn Mitarbeiter krank wurden und aus dem Dienst ausschieden oder aus anderem Grund nicht wiederkehrten. Es fanden sich dabei Kühlschränke, Toaster, Kassettenrekorder, Gartenstühle, Nachtkästen, fünfarmige Deckenstrahler, Wechselkleidung für alle Jahreszeiten und Hausschuhe. Viele der damaligen Mitarbeiter verbrachten ihr gesamtes Berufsleben, 40 Jahre, in der Institution. Ich glaube, sie rechneten einfach nicht mehr damit, dass das jemals vorbei sein könnte.

Es gibt immer wieder kleine Mondbeben. Meistens auf der Seite, die unserer Erde zugewandt ist. Was eventuell an der Gravitation der Erde liegt. Umgekehrt hebt und senkt sich die Erdoberfläche um ein bis zwei Meter, je nachdem wo der Mond gerade steht. Als der Mond der Erde noch näher war, bog und verformte sich unsere Oberfläche in erheblichem Maß.

In meiner anderen Aufgabe nage ich mich durch das Klassifikationssystem der psychischen Erkrankungen. Letzte Woche die Kapitel zum Formenkreis der Schizophrenien abgeschlossen. Es ist die erste Runde. In einem halben Jahr werde ich das alles noch einmal anders kennenlernen. Mein begleitendes Tier in diesen Wochen ist der Biber. Sein beharrliches Hineinraspeln in den Baum. Vielleicht habe ich schon einmal darüber geschrieben: Biber nagen den Stamm nie ganz durch. Sie hören rechtzeitig auf und lassen den Rest vom Wind erledigen. Ich mag diese Haltung. Selbstschutz. Und Vertrauen in die Elemente.
Nachtrag: Sie nagen die dicken Stämme nicht ganz durch, die dünnen schon.

Ich habe ChatGPT noch nicht ausprobiert, lasse mir aber gern von allen möglichen Leuten erzählen, was sie damit machen. Mehr als die Ergebnisse interessiert mich, welche Fragen die Fragenden stellen. Was die Person will, tut, erwartet, wie sie davon erzählt, worüber sie lacht, wie genau die Annäherung vor sich ging. Passenderweise lese ich gerade wieder Buber. “Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf. Wie werden wir von Kindern, wie von Tieren erzogen. Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.”

Angenagter Baum - Foto Simon Mer
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38109529

Schwelle

Am letzten Tag des Jahres fahre ich zum Fluss und lege meine Hand ins Wasser. Es ist nicht eiskalt, es hat ungefähr Oktoberkälte. Ich streife durch die Uferböschung, das Rot der kahlen Weidenzweige und das Beige des trockenen Schilfs. Im Kies drehe ich die Steine um. Ich habe hier noch nie einen grünen Stein gesehen, kann mir aber vorstellen, heute einen zu finden.

An Silvester mache ich nichts. Ich mache sogar den Fehler, um 22:30 Uhr mit einem Projekt anzufangen, das ich lange aufgeschoben hatte. Nach 20 Uhr zu arbeiten oder irgendwas erreichen zu wollen ist gegen meine Regeln. Ich habe sehr strikte Regeln, um mich davor zu bewahren ein unentspannter Mensch zu werden. Es läuft dann auch total frustrierend.

Am ersten Tag des neuen Jahres gehen wir auf einen Berg. An der Bergflanke traben Gämse durch kniehohes papiernes Gras. Die Tiere sind gut genährt oder haben ein dichtes Winterfell, auf die Entfernung ist das schwer zu sagen. Es ist so warm wie sonst im Oktober oder März, das letzte Stück legen wir im T-Shirt zurück und ich kriege Kopfweh, weil ich schnelle Temperaturwechsel nicht vertrage.

Mehrmals kommen Freunde zu Besuch, wir sitzen um den Tisch, liegen auf dem Teppich und stehen auf der Straße in milder Luft. Der Winter liegt schon weit zurück, die Ziegen des Nachbarn schlafen in der Sonne mit ihren lächelnden Gesichtern. Beim Lernen bin ich in den Kapiteln zu Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis angekommen. Es geht voran, dennoch muss ich ab Morgen das wöchentliche Pensum erhöhen. 2023 starten zwei Zusatzausbildungen, zwei Lerngruppen und voraussichtlich werde ich eine Weile in einer Einrichtung hospitieren. Ich kann es kaum erwarten, die Erkenntnisse und Fertigkeiten in meine Arbeit zu implementieren.

Den grünen Stein finde ich noch am letzten Tag des Jahres. Er liegt in der Bucht im flachen Flussbett, wo ich im Sommer häufig saß und dem Wasser zusah, wie es um mich herum vorbeifloss. Das Wasser hat mir geholfen. Viele Stunden darin zu sitzen. Eine leibliche Erfahrung zu machen, bevor ich verstehe, warum ich genau diese Erfahrung will. Unverhältnismäßig viel Zeit damit zu verbringen. Das Wasser so lang zu fühlen bis diese eine verkrustete Stelle in mir flüssig wird, nachgibt, die Kontrolle verliert. Das ist das Gegenteil von mir. Es ist das, was ich wollte, ohne es wollen zu können.

Dezember

Im Kurs sind fast alle krank oder verhindert, wir tanzen zu dritt; meine Lehrerin, eine andere Frau und ich. Wir sind vertraut miteinander, vertraut mit den Rhythmen des traditionellen ägyptischen Tanzes und dem arabischen Gesang. Daher sprechen wir kaum und die Lehrerin gibt keine Hinweise. Wir vollziehen unsere Bewegungen, lose zusammengehalten von Schrittfolgen, die Menschen vor rund zweihundert Jahren entwickelt haben, um sich fortzubewegen, zu feiern, einen Anfang zu machen, ein Ende.

Die dunklen Flecken des Mondes werden Mondmeere genannt, weil man sie ursprünglich für Wasseransammlungen hielt. Was für damalige Astronomen wie Ozeane aussah, sind Tiefebenen, Becken und Senken, oft rund, in denen erstarrte Lavadecken liegen. Entstanden sind sie vermutlich durch Einschläge, als der Mond noch jung war und sein Mantel flüssig.

Ich kann nicht genug betonen, wie aufregend ich die Fähigkeit eines Planeten, Steins, Tiers, Menschen finde, zu einer bestimmten Zeit seiner Existenz flüssig und später fest und vielleicht noch später wieder flüssig oder etwas anderes zu sein. Die Möglichkeit irdischer und außerirdischer Körper vom Moment der Zeugung oder Entstehung an, viele gewisse und ungewisse Stadien zu durchlaufen. Die nicht abgeschlossene Umgestaltung, selbst wenn dazwischen für 1 Milliarde Jahre mal Ruhe ist.

Den Mondmeeren wurden Namen gegeben. Sie heißen Meer der Kälte, Meer der Gefahren, Schlangenmeer, Meer der Begabung, Meer der Fruchtbarkeit oder Meer der Heiterkeit. Die meisten Namen stammen von dem Astronom Giovanni Battista Riccioli, der 1651 eine Karte der dunklen Mondflecken anlegte.

Auf dem Mond gibt es auch Erhebungen, flach aufgewölbte Rücken, die Berge genannt werden und maxmimal 100 Meter hoch sind. Die Berge tragen ebenfalls Namen, meist den eines Gebirges oder einer Person der Erde. Sie heißen zum Beispiel Karpaten, Mont Blanc, Berge des ewigen Lichts oder auch einfach mal Dieter.

Ich glaube für Mondbewohner ist Dieter der Gipfel, den man gut bei gleichgültiger Laune und mäßiger Kondition an einem Montag im Februar machen kann. Wenn sonst nichts ist.

Nachtrag: Nein. Es gibt auch hohe Berge auf dem Mond.
https://unendlichkeitsfiktion.de/i/

Am Tag vor Weihnachten gehe ich in den Wald. Die Waldarbeiter, die hier im Winter Nadelbäume fällen, lassen immer einen großen Haufen Zweige liegen. Direkt an der ersten Weggabelung. Ich weiß nicht, ob das eine Art Serviceleistung für das Dorf sein soll. Jedenfalls gehe ich mit einem Arm voll Zweige nach Hause und binde sie zusammen. Der Zweighaufen an der Weggabelung im Wald ist so groß - er könnte zwei Dutzend Kranzbinde-Workshops in einer beliebigen Stadt Deutschlands mit Material versorgen.

Ich habe eine sehr konkrete Erinnerung daran, wie meine Mutter und etliche Tanten Ende der Achtziger in einem Wohnzimmer voller Trockenblumen sitzen. Am Tag darauf hing in jedem Haushalt der weitläufigen Verwandtschaft ein Flechtwerk aus Disteln, Ähren und Lavendel an Eingangstüren oder Flurwänden. Diese Gestecke hingen dort zum Teil bis weit in die Neunziger.

Ich bin eine harte Linie gefahren im Dezember und habe 2/3 aller möglichen Veranstaltungen, Institutsfeiern, Konzerte, Umtrünke, zusätzlichen Termine im Rahmen der Fortbildung und zusätzlichen Termine im Rahmen der Tanzgruppe abgesagt. Und siehe da, ich kam zur Besinnung. Jetzt gegen Ende ist mir fast ein bisschen langweilig geworden. Ich fühle mich ausgeruht, friedlich und bereit für Kontakt.

Mondfoto: Helmut Adler www.fotodesigner.org

Weiterhin Winter

Es schneit in dicken Flocken. Beim morgendlichen Vorhangzurückziehen stellen sich tschechische Märchenfilmimpulse ein. Kurz lockt der Gedanke mit offenen Haaren und nichts als einer Schafwollweste überm Leinenkleid in den Schnee zu rennen, ehe beim Öffnen des Fensters dieser Gedanke im Keim erfriert. Diese Wochen sind nur mit Outdoorkleidung zu bewältigen. Outdoorkleidung der Sorte, die mehr mit Astronautenanzügen als mit Impulsen gemein hat.

Wenn ich in Sozialen Netzwerken Fotos sehe von Menschen, die vor winterlich anmutender Landschaft in knöchelfreien Jeans und lose um sich geschlungenen Schals Winter-coziness ablichten, weiß ich, dass bei denen nicht wirklich Winter ist. Dass diese Leute gerade einen etwas kälteren Tag in Texas erleben oder eine sachte Schneewehe im Süden Frankreichs.

Wenn hier Winter ist geht nicht mehr viel. Tagsüber ist das anstrengend, weil man ja doch manchmal einkaufen oder zu einer S-Bahnstation fahren muss und dabei alles mitnimmt: Schneegestöber, Glatteis, kaum Sicht, eingefrorene Schlösser, am Holzboden festgefrorene Stiefel.

Dafür sind die Nächte selten schön. Still und zugedeckt von der weißen Masse. Die Kapelle auf dem Feld unter einer orthodoxen Schneelast, noch entrückter als sonst.

Bei einem Onlinemeeting zu den Vorschriften im neuen Gebäude weist die Abteilungsleitung darauf hin, keine Nacktkalender mehr in den Büros zu dulden. Man muss sich das vorstellen. Meine Kolleginnen und Kollegen, die mitunter 7-8 Jahre brauchen, ehe sie einem das Du anbieten, die präferiert hochgeschlossene Kleidung in gedeckten Farben tragen, die auch nicht unter äußerster Bemühung ihres Willens dazu in der Lage sind, in der Anwesenheit einer anderen Person ein vulgäres Wort über ihre Lippen zu bringen. Von diesen Menschen soll jemand einen Nacktkalender in seinem Büro hängen gehabt haben, sichtbar? Natürlich verleitet mich die Erwähnung der neuen Vorschrift zu zeitintensiven Überlegungen. Wo könnte besagter Kalender gehangen haben; bei externen Mitarbeitern im Magazin, Praktikanten in den Ausweichbüros oder in einem der Lager, wo ausrangierte Mikrowellen und Tastaturen gestapelt werden? Ich unterstelle den übrigen Teilnehmern des Meetings ähnliche Erwägungen. Ein paar sehe ich verhalten lachen - stumm geschaltet.

Unterdessen habe ich es nicht geschafft vor dem Kälteeinbruch den kranken Baum im Garten zu beschneiden. Eigentlich spricht alles dafür, ihn zu fällen. Ich sag das nicht gern, aber es ist so: Dieser Baum bringt nichts. Und es braucht mindestens ein Peter Wohlleben’sches Verständnis vom Wert eines Baumes, um ihm einen etwaigen unterirdischen Nutzen bei der Versorgung anderer Bäume zuzugestehen. Oberirdisch ist der Baum eine Katastrophe. Aber ich will nicht vorschnell handeln und lasse mich gern von Gandalf erziehen: Man weiß nie wofür ein anderes Wesen noch da ist. Es war ja auch zum Schluss Gollum, der den Ring endgültig entsorgt hat. Und nicht Frodo. Wir erinnern uns.

Wenn ich das Geld zusammen habe, wird sich vielleicht ein professioneller Baumschneider das mal ansehen. Und dann schauen wir weiter. Es schneit immer noch. Es schneit den ganzen Tag.