Ich hab eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass ich trauere. Dass die pauschale Bedrückung, die ich seit dem 07. Oktober empfinde nichts mit meinen konkreten privaten Umständen zu tun hat. Etwas in mir ist weiterhin entsetzt und am Boden zerstört. Vor dreizehn Jahren haben ein paar Freunde und ich in Tel Aviv zufällig eine kleine Gruppe Israelis kennengelernt. Wir waren nachts in einem etwas abgelegenen Viertel herumgelaufen und dabei in einer Ausstellung gelandet, in deren Rahmen verschiedene Künstler etwas vorlasen oder performten, ich erinnere mich nicht mehr genau an den Ablauf. Im Anschluss daran standen wir mit den Israelis vor der Galerie, sprachen miteinander und gingen dann zusammen essen. In den folgenden drei Tagen und Nächten trafen wir sie immer wieder, Tel Aviv ist ja nicht groß, einmal in einer Jazzbar, ein anderes Mal in dem einzigen Lokal, das an Pessach geöffnet hatte und ich glaube, in einer Nacht nahmen sie uns mit in einen Club. Keiner der Israelis war mit der Siedlungspolitik ihrer Regierung einverstanden, alle engagierten sich auf irgendeine Weise für gerechtere Lösungen in den aktuellen Konflikten, demonstrierten für bezahlbare Mieten oder schüttelten den Kopf über die Absurdität, gegen Menschen kämpfen zu müssen, in die sie sich unter anderen Umständen verlieben würden. In allen Gesprächen wurde differenziert zwischen Hamas und der restlichen Bevölkerung. Einer der Männer hatte, um während seines Militärdienstes nicht aktiv an Kampfhandlungen teilnehmen zu müssen, drei Jahre im Garten des Stützpunkts Gemüse gepflanzt. Andere hatten den Dienst regulär durchlaufen, kritisierten aber jeden Kurs, der die Rechte der Palästinenser nicht mit einschloss und deren Lebensgrundlagen weiter beschnitt. Die Biografien dieser Israelis und ihrer palästinensischen Kollegen und Bekannten waren damals schon derart kompliziert, zersetzt von Angst, in ständiger Bemühung eine heillos verfahrene Situation, die niemand von ihnen aktiv gewählt hatte, zu verbessern oder zumindest nicht zu verschlimmern, dass eine weitere Eskalation, weitere Gewalt, eigentlich nicht mehr vorstellbar waren. Ich denke in diesen Wochen häufig an sie und die Schwierigkeiten, die sie auf so vielen Ebenen meistern müssen.
Ich habe keine Palästinenser kennengelernt, während der zwei Wochen, die ich in Jerusalem und Tel Aviv verbracht habe, bin aber sicher, dass auch sie mehrheitlich in Bars sitzen, vor Galerien herumstehen, sich in Menschen aus der ganzen Welt verlieben wollen und im Grunde keine Lust haben, zu töten oder getötet zu werden.
Am Dienstag gehen wir auf einen der mir liebsten Berge in diesem Gebirge, eine gelbe Graslandschaft, stetes Gehen, 27 Grad, Schlaufe um Schlaufe, Serpentine um Serpentine, die immer gleichen trockenen Wendungen, ein vertikal aufgerichtetes Labyrinth, versengt von der Oktobersonne.
Ich denke an die 11 konzentrischen Kreise und 34 Kehren des Labyrinths in der Kathedrale von Chartres aus dem 13. Jahrhundert. Ein langer Weg zum Zentrum hin, in dessen Mitte der finale Kampf mit dem Minotauros wartet, das Mischwesen, das wir selbst sind, unsere größte Furcht, unser hellstes Licht. Ich bin vor zwei Jahren durch eine Nachbildung dieses Labyrinths gegangen. Die Kehrtwenden sind sehr eng, sie erfordern eine totale Umkehr und lösen manchmal eine Art psychomotorischer Irritation aus. Wenn andere Menschen gleichzeitig das Labyrinth begehen, treffen sich an den Umkehrpunkten die Arme, Schultern und Blicke der Menschen. Ich weiß noch, wie eine Frau in einer dieser engen Wendungen unvermittelt meine Hand in ihre genommen hat.
Am Wochenende zuvor hatte ich getanzt, ausgelassen, unruhig, rastlos, das hat mit dem Ende des Sommers zu tun, das kann ich mittlerweile einordnen. Die Halle war voller als sonst, ich ging absichtlich in das Epizentrum der Tanzenden, wo sich die größte Enthemmung einstellt, die Leute am wenigsten steuern, was sie tun. Gegen Ende, nach mehreren Stunden konstanter Bewegung, trat für einen kurzen Moment eine Form von Entgrenzung ein und für den Zeitraum von etwa zwanzig Sekunden war ich nicht sicher, ob ich in meinem Körper tanze oder in dem Körper der anderen.
This is a waltz thinking
about our bodies
what they mean
for our salvation
(Thom Yorke)
An den Vormittagen danach ist das Licht milchig, weiße Schlieren vor blauem Grund, die Nachbarin bringt einen Strauß geschnittener Dahlien aus ihrem Garten, weil in meinem Garten diese Blumen nicht gedeihen. Die Dahlien sind die florale Verbindung, die ich zu meiner nicht mehr lebenden Großmutter aufrecht erhalte. Alles andere, das ständige Backen, Singen, Kräuter Sammeln und Kinder Herumtragen ist bei mir nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, die Dahlien aber und die Hitze zwischen den langen Beeten vor ihrem Haus.
An einem dieser warmen Oktoberabende schlendere ich mit einem Freund durch die Straßen Richtung Schlachthofviertel, in T-Shirt, Rock und Turnschuhen als wäre es Mitte August. Ich bleibe eine Weile stehen unter dem verhaltenen Sound der Nachtbeschäftigung der Stadt, während mein Kopf die Diagnosekriterien, Ätiologie und Behandlungsoptionen für verschiedene psychische Erkrankungen wiederholt. Am Bahnsteig später und in der U-Bahn liegen die Manuale und Tabellen auf meinem Schoß. Ich weiß nicht genau, wie es gehen soll, aber auf irgendeinem Weg muss dieses Material in mich hinein. Während ich andere Sachen mache.
Bei der Fortbildung am nächsten Morgen erzählt die Dozentin, wie sie in den Neunzigern mit einer offenen Bauchwunde und Granatsplittern in den Eingeweiden 2 km übers Feld zu ihrem Team zurückrannte und dabei nichts wahrnahm, als ein gedankenloses, manisches high. Erst auf der sicheren Seite im Versorgungszelt fiel ihr Blick auf das blutgetränkte Hemd an ihrem Leib und schlagartig setzten die Schmerzen ein. Sie ist eine ziemliche Erscheinung, diese Dozentin und sie wird uns ein Jahr lang eine Methode lehren, um mit Menschen zu arbeiten, deren Sprache wir nicht sprechen, deren Geschichte wir nicht kennen, deren Werte wir vielleicht nicht teilen und die uns doch in der wichtigsten Angelegenheit gleichen: sie haben einen Körper und Gefühle.
Zu dem Zeitpunkt ist der Angriff auf Israel bereits in vollem Gange. Als wir in der Pause auf den Hof treten, schaut einer der Teilnehmer auf sein Handy und sagt: das kann doch gar nicht sein.
Neu in diesem Jahr sind bunte Trinkblasen, die junge Frauen am Schürzenband ihres Dirndl tragen. Ich weiß nicht, ob sich darin Alkohol zum Vorglühen befindet oder ob es darum geht, die Wasserzufuhr zwischen den Bierphasen zu gewährleisten. Mich erinnern die Trinkblasen in erster Linie an Beutel, die ich in Krankenhäusern an verschiedenen Patienten im Endstadium ihres Lebens gesehen habe.
Der Tag, an dem ich diesen Text schreibe fängt kalt an und wird dann immer heißer. Sie sind daher fest verschnürt und mehrlagig gewandet, die Menschen an diesem Morgen in den U-Bahnen. Die Bahnmitarbeiter tragen komplette Uniform mit Leuchtstreifen und Windjacke, die Jugendlichen von der Landwirtschaftsschule dicke Kapuzenpullover mit dem Logo der Ausbildungsbetriebe, während Leute wie ich mit Schal über Sommerkleidkompromissen den Herbst leugnen und Wiesngänger in unterschiedlicher Entschiedenheit darauf hoffen, dass ihnen später schon warm wird, in fünf oder sechs Stunden.
Relativ viele Münchner tragen Urlaubsspuren in diversen Verblassungsgraden am Leib; bedenklich dunkel gebräunte Haut zwischen T-Shirtausschnitt und Rucksack, nachblutende abgeklebte Tattoos auf Unterarmen, Sonnenbrillen, die in Campingshops am Mittelmeer gekauft wurden, nachdem die eigene irgendwo liegen geblieben ist - vermutlich in einer Tankstellentoilette am Brennero. Am untrüglichsten sind die Sommerwochen jedoch in den Augen zu sehen, in verwaschenen Blicken unter schweren Lidern, dem vielen Lehnen an Laternenmasten und Händchen halten, wenn grade jemand da ist zum Händchen halten. Eine deutlich auszumachende und in dem Ausmaß selten vorkommende Unterspannung in der Körpermasse dieser Stadt.
So kommt es dann auch, dass eine S-Bahn einfährt, während ich in der Sonne am Gleis stehe, in Gedanken bin, die S-Bahn betrachte, die Ein- und Aussteigenden, das Schließen der Türen und wie sie abfährt. Ohne mich. Erst als sie fast verschwunden ist am Horizont fällt mir auf, dass ich drinsitzen sollte in dieser S-Bahn und nun weitere zwanzig Minuten tatenlos hier verweilen werde. Ich schätze mich glücklich. Wann war ich das letzte Mal so neben der Spur, so ziellos, langsam, eine Tagediebin und Liebhaberin der Versunkenheit vor dem Herrn.
An einem kühlen Sonntag stehen wir auf einem Berg vor der Ruine einer bis auf die Grundmauern abgetragenen Alm, die Holzwände sind wohl schon vor Jahrzehnten eingestürzt oder verbrannt. Innerhalb des von Steinen umgrenzten ehemaligen Wohnraums hat sich ein Mikroklima gebildet, in dem rot und violett leuchtende Sträucher gedeihen. Sie scheinen nur die 2-3 Grad mehr Wärme und etwas Windschutz zu benötigen, um jetzt im Herbst ein Farbspektrum hervorzubringen, das hier sonst nicht existiert.
Unterdessen ist in der Institution ein neuer Kollege hinzugekommen. Er stellt sich als ein außergewöhnlich lachfreudiger Mann heraus, eine Kichererbse und zu trockenen Bemerkungen neigende Ungewöhnlichkeit in diesem Haus der ernsten und gründlichen Gesichter. Auch wegen ihm denke ich in den letzten Wochen häufig an Heinrich Heine, seine Reise von München nach Genua, die Postkutsche durch Norditalien und wie er dort an schwülen Nachmittagen in der jeweiligen Provinzkirche liegt und notiert:
„Man mag sagen, was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es lässt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, und die Madonnen nicken so verzeihend aus ihren Nischen.“
Es gab eine Zeit, in der ich mit toten, durch Europa reisenden Schriftstellern eine solch fortgeschrittene Obsession entwickelt hatte, Personal vergangener Epochen dem gegenwärtigen soweit vorzog, dass schließlich auch mir eine gewisse Schädlichkeit darin auffiel und ich meine mangelnde Kontaktbereitschaft der lebenden Umwelt gegenüber überdachte.
Meine Kontaktbereitschaft ist mittlerweile moderat bis gut ausgeprägt, vor allem wenn ich mit ein paar Vertrauten zwei Stunden durch Wald und Dickicht einer abgelegenen Gegend spazieren kann. Am erwähnten Sonntag folgte der Ruine ein selten begangener Pfad, der vorbei an feuchten, morschen Bäumen und dunkelgrünem Farn bis runter an das Wasserbecken eines Flussarms führte. Alleine wäre ich nicht hineingegangen, an diesem bewölkten und reichlich kalten Tag, die nackte Haut der anderen jedoch und ihre platzenden Münder als das Wasser ihren Bauchnabel erreichte…
Ich denke, das ist der Sinn von Herden, Sippen, Schwärmen und zusammen lebenden Säugetieren, auch den vernunftbegabten Säugetieren: mitzugehen, wenn die anderen ziehen, sich verführen zu lassen von ihrer Bewegung, reinzuschlittern in Zustände, Gefühle und Reifungsgrade, die allein nicht zu erlangen sind.
Und während das seit einigen Jahren mit zunehmender Bedeutung für mich gilt, ist parallel dazu für andere das genaue Gegenteil nötig; rauszugehen aus fremden, nicht gewählten Dynamiken und Zuständen, sich eine Weile zu separieren, das eigene Urteil zu schärfen und die Verführung in der Begegnung mit sich selbst zu suchen.
Es hilft nun mal nichts, wie zwei Hobbits bei ihrer Wanderung durch Mittelerde bemerkten, den Elben eine Frage zu stellen. Sie antworten immer mit: Ja und Nein.
In ein paar Tagen ist Oktober, es wird wieder dieses spezifische Herr der Ringe Licht über den Bergen flackern, die Sonne horizontal einfallen durch das Blattwerk und der erste Schnee auf den Zacken der Gipfel liegen. Ich wünsche mir Unsterblichkeit. Immer weiter eingesponnen zu sein in die Erscheinungen dieser Erde, zu dokumentieren, wie sie aufprallen an mir und den anderen, unsere Zeit auf dieser nicht endenden Rotation, Hand in Hand mit der dunklen Zeitlosigkeit.
Am Abend braten wir Auberginen und schichten sie in eine Auflaufform. In den Pinien vor dem Fenster sitzt ein Kuckuck und ruft, ihm antworten Elstern, Käuzchen und Grillen, die den Garten um das steinerne Haus bewohnen. Wir sind eines der wenigen Lichter auf dem Hügel, es ist dunkel, der Mond scheint nicht.
Nach dem Essen, die Teller stehen noch auf dem Tisch, nimmt einer der Anwesenden das Akkordeon zur Hand und spielt Pop der späten Neunziger, langsam und getragen, die Melodien dehnend bis sie zu etwas werden, das Folklore sein könnte oder Fado. Ich sitze auf dem Vorsprung des Kamins und sehe dem Akkordeonspieler dabei zu, müde, die Lippen manchmal eine Strophe mitsingend, wenn ich nicht seit zwanzig Jahren in diesen Mann verliebt wäre, ich würde mich jetzt verlieben.
Am anderen Morgen mache ich Pfannkuchen, während mir die Freundin den Espresso reicht. Später geht sie im von Pinienzapfen übersäten Hof auf und ab, einen Stab über ihren Rücken schwingend, sich darunter duckend, wendend, eine Choreographie wie aus der Feder eines Samurai, geschrieben für Frauen mit langen, hellen Haaren und entschlossenen Gedanken. In wenigen Tagen wird sie damit zu sehen sein, auf einer Bühne in Deutschland, weit weg von hier.
Unterdessen befestigt jemand auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes eine Hängematte. Die sachgerechte Verknotung des Seils am Baum gibt Anlass zu einem zeitlich überschwänglich geführten Austausch bisheriger Erfahrungen mit Knoten für verschiedene Lebenssituationen, während sich die Kaffeetassen weiter leeren, der Tag dahin geht, neu gelernte Worte und Phrasen angewandt werden. Der Luxus über nichts zu reden. Nichts von Belang. Mit großer Liebe und Zuwendung füreinander und für diesen sonnigen Morgen auf einem einsamen Hügel. Es werden sich in den folgenden Stunden unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weise dem Gefühl des Gewogen Werdens in der Hängematte überlassen und unterschiedlich lang darin verbleiben.
Ich denke an das Wasser, als ich in der Hängematte liege, an den Strand gestern und die Senioren, die mit ihren wunderschönen, alten Körpern daran entlang flanierten, uns später am Kassenautomat Münzen wechselten und winkten, bis wir durch die Schranke des Parkplatzes fuhren. Einen Moment lang war ich in totaler Sprach- und Handlungslosigkeit vor dem Automat gestanden, überfordert mit den bunten Hinweisen und Pfeilen, auf die Nachfrage der hinter mir Wartenden kein Wort heraus bringend, weder in der Landessprache noch in meiner Muttersprache, bis die Senioren fürsorglich das Ruder übernahmen, alle Knöpfe drückten, wechselten und lächelten bis ich aus meiner Zungensperre wieder raus war.
In der Hängematte werde ich schläfrig, ich ziehe mich zurück in den Schatten meines Zimmers, wo zwei Geckos diagonal über die Wände laufen, um die Ecke schauen, wenn sich Türen öffnen und ihren fabelhaft beweglichen Rumpf in Richtung des jeweiligen Interesses biegen. Ein Königreich für einen solchen Rumpf. Draußen zieht ein Gewitter auf, es wird den gesamten weiten Himmel überziehen, erst lautlos und fern, dann nah einschlagend, Blitz und Donner keine Sekunde mehr voneinander getrennt. Ich erinnere mich an die alte, vor einiger Zeit in dieser Gegend angetroffene, Amerikanerin, die auf meine Frage, warum sie hier her ausgewandert war, antwortete: Wegen der dramatischen Gewitter. Wegen der Gefühle der Protagonisten in den Filmen der 60‘er Jahre, entfacht und ausgehalten unter zu heißen Nachmittagen und ausgetragen unter solchen Stürmen nach Mitternacht. Ich kenne die Filme, von denen sie gesprochen hat. Ich weiß, was sie damit meint und frage mich, ob sie bekommen hat, was sie wollte. Der Mann an ihrer Seite war sehr dünn, als ich die beiden kennenlernte, sie pflegte ihn, zusammen mit einer Frau aus dem Dorf. Die Töpferei hinter dem Haus und die Werkstatt lagen brach, unbenutzt, seit vielen Jahren, ein Garten voller Skulpturen und Schalen, die niemand mehr kaufte, das gemeinsame Leben zusammengeschrumpft auf einen minimalen Radius. Es endet alles. Irgendwie muss es enden. Zum Schluss endet es sehr konkret. Ich nehme Richard Rohr zur Hand und lese:
filling the tragic gap
with pure presence
often in the presence
of nothing or even death
Das Gewitter rauscht noch eine Stunde weiter, dann geht es über in einen feinen konstanten Regen, die bis dahin trockenen Felder werden später in einem etwas dunkleren Braun den Hügel strukturieren. Es wird schon wieder warm. Auf das Wetter hier ist Verlass.
Am andern Morgen gehe ich spazieren, die auf dem Schilf landenden Libellen sind purpurrot, am Wegesrand blüht wilder Fenchel, dessen Blüten ich zwischen meinen Fingern zerreibe. Wie wenig Überwindung diese Landschaft von mir verlangt. Der Wärmegrad des Wassers ist nur Einladung und keine Herausforderung, die Luft ist mild, die Pflanzen sind mild, die Begegnungen mit den Einheimischen mild, alle wollen freundlich sein und sind es. Ich weiß, dass auch hier Härte und Ausgrenzung, das Erstarken faschistischer Parteien und die Folgen erodierender Lebensräume dauerhaft präsent sind. Ich werde während meines kurzen Aufenthalts nicht damit konfrontiert, weil ich eine Hautfarbe habe, die mir viele Türen öffnet sowie die Statussymbole eines geregelten Einkommens und Verhaltensweisen, die niemandes Weltsicht herausfordern. Es ist nicht gerecht, dass ich aufgenommen und angelächelt werde und andere nicht. Dennoch trifft und beruhigt mich diese anhaltende, großzügige Zugewandtheit und eine unspezifische, aus meinem Herkunftsland mitgebrachte, Fracht fällt von mir ab.
Am Nachmittag danach gehen wir die Straßen rauf in das Dorf auf dem nächst gelegenen Hügel. Das eine Lokal, in dem sich alle Bewohner des Ortes treffen, fungiert tagsüber als Frühstückscafe und Eisdiele, am frühen Abend als Tresen für den Aperitif und ab 21 Uhr als Karaokebar. Ein Mann singt mehrere Schlager und bekommt von uns viel Applaus, seine Freundin drängt uns, nach vorne zu kommen, wir lehnen mehrmals dankend ab, lassen uns aber nachhaltig euphorisieren von dem Sound der Platten unserer Eltern. Disko. Am anderen Tag bei einer Fahrt durch das Hinterland fällt auf, wie häufig hier ein bestimmtes Modell eines Elektroautoherstellers in der Farbe Weiß gefahren wird. Vielleicht gab es da vor einiger Zeit ein Angebot. Es muss eingeschlagen haben wie ein Bombe.
Es bleibt dann nicht aus, dass wir einmal länger an einem Tisch zusammensitzen und Wissen, Halbwissen und ehemaligen Rechercheeifer bezüglich des römischen Imperiums des 5. Jahrhunderts kurz vor seinem Niedergang zusammentragen. Die ausgegrabenen Fußbodenheizungen römisch angelegter Bauernhöfe in den bayerischen Bergregionen, Erbrecht, Versorgungslinien, Rasur, diese ganze abartig fortgeschrittene strukturelle Überlegenheit. Und wie das hier später kein Imperium mehr ist, aber immer noch Menschen wie uns in sich hineinmagnetisiert. Und wie ab dem 18. Jahrhundert lauter junge deutsche Schreiberlinge mit Sehnsucht in den Augen über die Alpen rennen, verklärte Briefe nach Hause schreiben, Reisetagebücher und Romanfragmente, in denen sie mit Schrecken und Lust feststellen, nur ein wenig Sonne, Ästhetik und Sauerkrautpause zu benötigen, um sich besser zu fühlen, und eben nicht Ehre, Karriere und was ihr Vaterland ihnen noch alles eingebläut hatte.
Wir übergeben die Schlüssel und verabschieden uns, die Wildschweinjagdsaison beginnt. Beim Zurückkommen bewegt ein sachter Wind die Hibiskussträucher, deren Blütenköpfe aufgegangen sind in meiner Abwesenheit. Es ist still in der Nachbarschaft, über dem Feld kreisen zwei Milane. Im Briefkasten liegt ein Schreiben der Deutschen Rentenversicherung, sie fragt, was ich im Oktober 1997 getan habe. Ich weiß es nicht, liebe Rentenversicherung. Ich nehme an, und hoffe, nichts.
Ich bin oft an diesem Fluss gesessen und oft darin geschwommen. Was ich nie getan habe, ist mich in ihm treiben zu lassen. Gelegentlich an heißen Tagen beobachte ich, wie einzelne Menschen das Ufer mehrere hundert Meter aufwärts gehen, an der breitesten Stelle hinein waten und in der Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten ist, loslassen. Die Strömung ist reißend.
An einem Tag in dieser letzten Augustwoche, nach zwei Jahren in beobachtender Haltung an den Kiesbänken, glaube ich, bereit zu sein. Mir ist nicht klar, wie genau ich wieder aus der Strömung herauskommen soll, wie weit der Fluss mich tragen wird, bereits das Waten zu der tiefsten Stelle fühlt sich nach fortschreitendem Kontrollverlust an, sobald das Wasser meine Brust erreicht, werde ich mich nicht mehr halten können. Es ist wichtig, mit dem Kopf oben zu bleiben, um Baumstämmen und größeren Steinen auszuweichen, die Geschwindigkeit des Wassers lässt mich allerdings erahnen, dass ich eventuell nicht ausweichen können werde, selbst wenn ich ein Hindernis rechtzeitig sehe.
Vielleicht könnte ich jetzt noch umkehren, vielleicht könnte ich es im nächsten Sommer versuchen, mit mehr Mut und mehr Wissen über den Fluss, mit Erfahrungen, die diesen Kontrollverlust zu etwas machen, das sich weniger nach Kontrollverlust anfühlt. Das Wasser erreicht meine Brust, es ist kalt, auch jetzt im August, gekühlt von den Nächten des Karwendels und Schmelzwasser, das bis auf wenige Wochen konstant von den Flanken der Berge herunter rinnt. Ein paar Sekunden noch kralle ich die Zehen in die Steine am Grund des Flussbetts, ehe ich nichts mehr aufhalten kann. Die Bewegung ist stärker, ich überlasse mich.
Als ich später über das heiße Kiesbett zurücklaufe zum Ausgangspunkt, leuchtet eine kleine, aufgeschürfte Hautstelle an meinem Ellbogen, ansonsten ist alles intakt und heil. Ich habe mich nicht sehr weit treiben lassen und nach etwa einer Minute den Fluss runter das linke Ufer angesteuert. Ich denke es wird noch eine Weile dauern, bis das Mitfließen an sich zu etwas wird, dem ich vertraue.
In den Tagen darauf hat es endlich dreißig Grad, das geschnittene Heu wird gewendet, die Kühe liegen matt im Feld, auf den Wegen huschen die Eidechsen ins Gras. Der Halbmond hängt im Himmel, blass am Nachmittag und fantastisch weiß in der Dunkelheit, ich bin wunschlos glücklich, zwei Monate im Jahr kann ich das wirklich sagen: Ich wünsche nichts, es ist alles hier. Freunde kommen zu Besuch, wir sitzen Melone essend am See, es wird ein Floß gebaut und der untergehenden Sonne zugesehen. Einige Tage zuvor hatte ich mit einer Körperlehrerin den Atemraum entlang meiner Rippen erkundet. Seither empfinde ich auf der Vorder- und Rückseite des Herzens eine Weitung und es sind Momente wie der Melonen triefende Abend am See, in denen der Sommer, die Freunde, das Schnitzen am Floß über den Atem direkt in mich einzusickern scheinen.
Ich vermute, dass solche Sensationen für manche Menschen recht normal sind und ich lediglich ein solches Aufheben darum mache, weil der Weg in meinen Körper hinein, ein so langwieriger, tastender und verstörter war.
Bei einer Wanderung in der Woche zuvor kommen wir an der Gedenktafel für den Wildschütz Georg Jennerwein vorbei, tragen alle Informationsschnipsel, die wir zu seiner Geschichte haben, zusammen, können aber erst beim Nachlesen zu Hause das Bild vervollständigen. Etwas oberhalb der Tafel treffen wir auf einen Fels, der unerwartet schwierig zu erklettern ist, eine halbe Stunde darf sich jede und jeder mit der eigenen Angst konfrontieren, später dann mit dem Abklingen der Angst und wie viel Käsebrot, Wasser und Schokolade nötig sind, um wieder in einen einigermaßen stabilen Zustand zurückzufinden. Nur eine Person in der Gruppe meistert den Fels ohne mit der Wimper zu zucken. Was soll man sagen: ein Tier, eine Maschine.
Zwei Nächte lang habe ich schlechte Träume, die mit der Prüfung im nächsten Frühjahr zu tun haben. Ich beginne, die Prüfung am Horizont wahrzunehmen, den Stoff, der bis dahin noch in mich hineinmuss, die Stunden, die ich dafür am Schreibtisch festkleben werde. Zwei Tage lang ringe ich den Reflex nieder, aufgrund der Träume meine Sommerpause abzubrechen, die Ordner auf den Tisch zu knallen und umgehend loszulegen.
Es würde mir so schaden. Es würde mir so unendlich schaden.
Einer der letzten Stürme hat den halben Hagebuttenstrauch ausgehebelt und umgelegt. Der Hagebuttenstrauch ist ein altes, sehr großes Exemplar, eher ein kleiner Baum, als ein Strauch. Ich bespreche mich mit etlichen Leuten und entscheide letztlich, den Strauch wieder aufzurichten und mit Spanngurten an der stehengebliebenen Hälfte zu befestigen. Die Wurzel scheint nicht komplett abgerissen, vielleicht kann sie die Hagebutten bis zum November weiter versorgen, so wäre zumindest die Ernte gerettet.
Es ist nicht einfach, 120 tanzwillige Menschen vom Tanzen abzuhalten. Haben sie einmal bei Regen und Unwetter den Weg durch die halbe Stadt auf sich genommen, Eintritt gezahlt, das Handy ausgeschaltet, die Anoraks zusammen geknäult und den Rucksack in die Ecke gepfeffert, braucht es eigentlich nur einen durchschnittlich talentierten DJ und durchschnittlich gute Musik, um diese Menge für mehrere Stunden bei der Stange zu halten. Ich bin daher einigermaßen verwundert, als ich mich nach 45 Minuten, in denen ich aufrichtig versuche, die Musik in Bewegung umzusetzen, am Rand der Halle wiederfinde und tatsächlich nicht tanzen kann. Etlichen anderen scheint es ebenso zu gehen, ich sehe sie irritiert auf der Fläche stehen oder bereits kapitulierend an der Wand sitzen. Eigentlich ist es keine Wissenschaft. Wenn die Leute schreien, die Hände heben und der Boden zittert, sind alle an Bord. Verlassen sie die Tanzfläche oder wackeln nur noch mit dem Kopf, ist es Zeit, das Set zu überdenken, beziehungsweise es umgehend anzupassen. Jedenfalls wenn man als DJ keine internationale Größe ist.
Eine Weile hoffe ich noch auf Besserung, dann setze auch ich mich an die Wand und fange an, über fehlende Einstimmung nachzudenken, über aneinander vorbeilaufende Dialoge und zeitlich versetzte Anziehung. Der Abend geht dahin. Erst eine Stunde, dann eine zweite. Ich erinnere mich an Texte unterschiedlicher Autoren zu körperlichen Reaktionen, wenn Bedürfnisse fortwährend nicht befriedigt werden und beobachte diese Reaktionen live bei den immer angestrengter um Entladung bemühten Tanzenden.
Unterdessen ist mein Platz an der Wand etwas ungemütlich geworden, der DJ ist in eine Art Privatveranstaltung in seinem Kopf abgetaucht, er wippt mit geschlossenem Augen hinter dem Pult, auf der Tanzfläche befindet sich fast niemand mehr. Es ist das erste Mal, dass ich in dieser Halle nicht mehrere T-Shirts durchgeschwitzt habe und und gewissermaßen grundtrocken nach Hause komme.
Am Samstag bin ich auf einem Straßenfest. Die Musik ist zu laut und das Bier lauwarm, aber das Beisammensitzen auf aufgeheiztem Asphalt und in vertraute Gesichter Schauen, nachdem so viele Umwälzungen, Umzüge und Neuanfänge über uns hinweggegangen sind, ist unbezahlbar. Ich bekomme Lust auf ein zweites lauwarmes Bier.
Am Tag danach gehen wir zu fünft auf einen Berg. Es ist sehr heiß, als wir am Gipfel essen. Jemand aus der Gruppe hat sich aufs Brotbacken verlegt, eine andere aufs Gemüse Ziehen, es fehlen nur noch Sachkundige für Quittengelee und vielleicht ein, zwei Personen, die eine kleine genossenschaftlich geführte Molkerei betreiben. Der Abstieg ist ein langwieriger und gelenkabnutzender Loop aus scheinbar genau gleich bemessenen Serpentinen zwischen scheinbar genau gleich aussehenden Fichtengruppen, es ist ein Abstieg wie die Träume, die ich hatte, als ich einen Sommer lang an einem Fließband gearbeitet habe. Unten angekommen sind wir zu faul und erledigt, eine idyllische Badestelle zu suchen und springen direkt unter der Autobrücke in den See. Das Wasser ist astrein, auch wenn am Parkstreifen die Plastiktüten rumfliegen. Ein interessanter Kontrast, nach vielen Quadratkilometern Natur den Tag so trashig enden zu lassen.
Es folgt Arbeit in der Institution und ein Handvoll Auszubildende, die ich mit Statistik quälen muss. Immer wenn ich ihnen eine Aufgabe übertrage, den Raum verlasse und den Gang runtergehe, fühle ich mich einen Moment lang porös und seltsam gerührt von ihren Schmetterlingstattoos, den schlecht gefärbten Haaren und der Wackerheit, mit der sie durch die Institution stolpern. Im Nachgespräch lasse ich ich dann auch die kleinen Nachlässigkeiten, die ihnen bei der Erledigung der Aufgaben unterlaufen sind, unter den Tisch fallen. Es ist mir ohnehin ein Rätsel. Ich weiß von mir selbst, in diesem Alter in einer wasserdicht abgeschotteten Privatwirklichkeit gelebt und mich selten mit äußeren Tatsachen befasst zu haben. Die Auszubildenden scheinen mir im Vergleich dazu recht gut verortet und einigermaßen orientiert durch die Gegend zu steuern. Kein Grund, wenig von ihnen zu fordern…Ich bin da wohl zu weich.
Wieder zu Hause stehen vor dem Pflegeheim ein Stück die Straße runter zwei junge Pflegerinnen in türkisen Kitteln und Hosen. Die eine gibt der anderen Feuer, dann rauchen sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Es ist eines der guten Pflegeheime, angeschlossen an ein Mehrgenerationenhaus mit Gemeinschaftsgarten und nicht völlig heruntergewirtschaftet aussehendem Personal. Die zwei Pflegerinnen erzählen sich etwas, die eine ist parallel zum Rauchen damit beschäftigt, ihren Zopf neu zu flechten, die Sonne geht unter, im horizontal einfallenden Licht leuchtet das Türkis der Uniform auf. Wer legt die Farbe der Pflegekleidung fest? Die Betreiber des Heims, die Verwaltung, das Team miteinander in einer Teamsitzung?
In einem früheren Job bekam ich jeden zweiten Tag Besuch von einer Dame mittleren Alters, die von Kopf bis Fuß in Türkis gekleidet war. Die Dame hatte eine leichte Lernbehinderung, glaube ich, und las bzw. betrachtete mit Vorliebe Bildbände zu Steppentieren des afrikanischen Kontinents. Ich lieh Dutzende Bücher aus verschiedenen Bibliotheken aus, um den Bilderdurst der Dame zu stillen. Als Dank bastelte sie regelmäßig kleine Zettel, auf denen mit Schreibmaschine getippt die Ankündigung des nächsten Sendetermins von Reich-Ranickis „Literarischem Quartett“ zu lesen war. Einen der Zettel bewahre ich bis heute in meinem Geldbeutel auf. Darauf steht:
Frau Unendlichkeitsfiktion,
am Dienstag, 11.05.
ab 23:15 Uhr
der ZDF Bücheropa!
Gegen Ende der Woche bemerke ich eine eigentümliche unbegründete Unzufriedenheit. Alles kommt mir eng, verschnürt und klamm vor. Ein Blick auf das Thermometer offenbart, dass die Wohnung seit Tagen immer weiter auskühlt. Nach zehn Tagen Regen ist keinerlei Restwärme mehr in den Räumen gespeichert. Ich laufe einen weiteren Tag unzufrieden herum, dann hole ich Feuerholz rein und schüre den Ofen. August.
In dem anderen Beruf sehe ich einen Tag lang einer Kollegin beim Arbeiten zu. Die nächste Woche verbringe ich damit, zu prüfen, welche Puzzlestücke ihrer Herangehensweise ich für meine Arbeit verwenden kann. Die Kollegin ist auf einem bestimmten Gebiet spezialisiert, sie arbeitet mit Menschen, die als Kind in Täterkreisen aufgewachsen sind, hält Vorträge dazu und unterrichtet Studierende. Obwohl ich die Theorie und Teile der Praxis kenne, fallen mir ihre besonderen Interventionen, ihre Art der Zuwendung und ihre Scharfsinnigkeit auf. Sie weiß, dass Menschen, die eine solche Kindheit überlebt haben, Sicherheit und Kontrolle brauchen. In einem weitaus größeren Maß als verschont Gebliebene. Diese Sicherheit und Kontrolle stellt die Kollegin für ihr Gegenüber immer wieder her, alle paar Minuten steckt sie neu ab, wo man sich gerade befindet, was hier passiert, wer welche Rechte hat und dass in diesem Raum nichts gegen den Willen eines anderen Menschen getan oder gesagt werden darf. Mit ihrer Körpersprache und der eigenen emotionalen Aufgeräumtheit vermittelt sie dem Nervensystem ihres Gegenübers immer wieder die Botschaft von Annahme, Würde und Entscheidungsfreiheit. Innerhalb dieses Rahmens tritt nach einer Weile eine erste Entspannung ein und macht das eigentliche Arbeiten an der Verbesserung eines leidvollen Zustandes erst möglich.
Ich sitze in der Seide meines Kimonos zwischen zwei Gewittern in einem Sonnenfleck und drossel die Geschwindigkeit, mit der ich in der letzten Woche unterwegs war. Es liegt eine süße Versuchung darin, jetzt durchzuziehen, das aufgebaute Momentum der vergangenen Tage nicht abreißen zu lassen, meine Stärke noch mehr auszukosten, noch mehr Dinge anzustoßen und Begegnungen zu suchen, aber ich bin diesem Impuls nicht ausgeliefert, ich erkenne ihn und halte an. Das Abbremsen ist unangenehm, ich kann es nicht leugnen. Nach 7 oder 8 Tagen auf einem Endorphin-Adrenalin-Cocktail belastet mich die eintretende Stille eher, als dass sie mich befriedet. Ich weiß, da muss ich durch. Durch diesen Korridor. Den Übergang.
Eigentlich habe ich Urlaub, aber in meinem Urlaub arbeite ich mehr in dem zweiten Beruf und das kickt und fordert mich regelmäßig auf eine Weise, die ich nur schwer in Worte kleiden kann. Daneben treffe ich Freunde und nage mich durch neue Gedanken, an der Peripherie meiner Aufmerksamkeit verdichtet sich eine kommende Aufgabe, die, nachdem ich drei Jahre auf sie gewartet habe, ins Zentrum schießt und mich erst mal ziemlich okkupiert.
Am Montag stehe ich einer anderen Stadt in einem leeren Kirchenschiff und weil niemand außer mir da ist, gehe ich nach vorn zum Altar und lasse die Architektur des großen Raums auf meinen inneren Raum wirken. Die Wirkung setzt verlässlich nach einigen Minuten ein und ich kann diesen Satz wahrnehmen, der seit Längerem in meinem inneren Raum auf und ab geht und sich meldet. Ich schaue zum Kreuz und sage den Satz. Die Antwort folgt auf den Fuß. Die Antwort ist natürlich nicht Gott, sondern das, wofür ich ihn halte, was übrig bleibt, wenn er, sie und es durch die Filter meiner Sozialisation, Kultur, Epoche, politischen Einstellung und Biografie gelaufen ist. Der ankommende Rest ist aber immer noch gut genug, mich mitten in einer alten, ich möchte fast sagen, uralten emotionalen Verrenkung zu treffen und genau an dieser Stelle ein bisschen zu dehnen, eine Ausdehnung von vielleicht 0,5 Zentimetern.
Als ich zurück bin in meiner Stadt werde ich die 0,5 Zentimeter mehr Spielraum umgehend brauchen und während ich sie in einer explizit mich angehenden Situation gebrauche, registriere ich den Moment, an dem üblicherweise meine Verrenkung eingeschritten wäre und wie sie es jetzt nicht tut, weil dieses Nichts gut ist.
Unterdessen hocke ich weiterhin in der Seide meines Kimonos in dem Sonnenfleck, der Wind bewegt mein Haar in alle vier Himmelsrichtungen, die Duftwicken und der Lavendel verbinden sich zu einer Betäubung, die mir die Augen schließt. Ich möchte, dass irgendwann der ganze Garten voller Duftwicken ist. Ich möchte, dass an Tagen wie heute, wenn der Wind unentwegt von den Bergen her über die Ebene gleitet, die ganze Nachbarschaft und alle Tiere, auf den Feldern, im Wald und in der Luft die Augen schließen, tief einatmen und „Mh, Duftwicke“, sagen.
Ich habe heute tagsüber, in wachem Zustand, neun Stunden am Stück nicht auf mein Handy geschaut. Das ging nur nach ernsthaftem Entschluss und mittels Aufbewahrung des Geräts an einem unbequem zu erreichenden Ort.
Am Freitag zuvor waren wir auf einem Grat unterwegs. Die moosige Grasdecke oben am Gipfel empfing mich weich und bettend, ich döste, nachdem mir beim steilen Aufstieg etwas kreislaufig geworden war. Vier Traubenzucker und Geschichten aus dem Leben der anderen haben geholfen. Die Wanderung war, in Höhenmetern gemessen, die für mich längste und anstrengendste. Ich will mir nicht zu viel vornehmen, aber ich würde sehr gern auf diesem Leistungsniveau ein paar Jahre bleiben und es ausbauen, um mir bisher unbekannte Landschaften zu erschließen, auf die ich große Lust habe.
An einem sehr heißen Nachmittag streife ich am Fluss herum, die Eidechsen huschen unter die Weiden, es liegt eine bleierne Trägheit auf mir, ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, je wieder etwas erreichen zu wollen. Das Wasser kühlt, die Hitze wärmt, ich werde zu dem Menschenteig, der ich bin. Ein Stein sieht seltsam und schön aus, ich nehme ihn mit. Ich habe jetzt sechs Steine in Armreichweite meines Kopfkissens, nachts taste ich nach ihnen und hoffe von den Flüssen zu träumen, in denen sie, wie lang, gelegen sind. Die Steine sind älter als ich, sie waren unten oder oben, als sich die Platten schoben, eventuell in anderer Verfassung, eventuell Teil eines größeren Massivs oder Partikel, die sich erst finden und vermengen mussten. Für die Steine bin ich eine flüchtige Erscheinung, zugehörig zu den Wesen verdammt zu kurzem Leben, unfeste Materie, ein Fragezeichen. Trotzdem liegen sie in meiner Hand, als wären wir verwandt.
In der ersten Nacht im Juli wird auf dem Hügel neben der Kapelle das Johannifeuer abgebrannt. In mehreren Arbeitseinsätzen haben die Vereine dafür Baumstämme herangebracht, von den Anhängern heruntergezogen und aufgerichtet. Am Tag zuvor liegt Unruhe in der Luft, das Zelt ist aufgestellt, die gute Strickjacke rausgelegt, im Dorf laufen die Leute auf und ab und warten auf dieses einmal jährliche Brennen, so heiß und hoch, dass die Wiese in einem Radius von fünf Metern mitbrennen wird. Eine halbe Stunde vor Einbruch der Dunkelheit gehe ich um den Hügel herum, die Kinder können nicht mehr anders, als die angesammelte Spannung mit besinnungslosem einander Fangen, Jagen und gellenden Schreien stoßweise zu entladen. Es ist wirklich kaum auszuhalten. Wann wird es endlich angezündet?
Als dann endlich die Dämmerung zur Dunkelheit wird, die Zweige knistern und das Feuer aufflammt ist es größer, stiller und schöner, als ich erhofft hatte. Es ist das erste Johannifeuer, an dem ich teilnehme und wer auch immer sich diesen Brauch ausgedacht hat, muss mich oder alle Menschen sehr geliebt haben. Der Funkenflug im Nachthimmel. Ist jedes Brandloch in der Kleidung wert.
In der Nacht wird es regnen. Konstant einregnen, stundenlang. Am Vormittag darauf beschließen wir auf den Unnütz zu gehen, ein Massiv eingebettet in Gipfel, die alle Unnütz heißen; Vorderunnütz, Hinterunnütz usw. Es nieselt bis in den Mittag hinein und verschafft uns die seltene Erfahrung, mehrere Stunden durch Nebel zu laufen, verschluckt zu werden von Schwaden, dem feuchtwarm sich unter unseren Füßen biegenden Farn. Einmal bleiben auf der Hochebene zwei Frauen und ich hinter den anderen zurück, heben die Hände in das, uns von allem trennende, Dickicht der Wassertröpfchen gesättigten Atmosphäre und es bleibt uns wirklich nichts übrig, als die Worte der drei Hexen aus Macbeth in diesen Nebel zu deklamieren. Und später noch die Worte der Lady in Vorbereitung auf die Bluttat.
When shall we three meet again?
In thunder, lightning or in rain?
Die Streuung des spärlichen Lichts und Auflösung des Übergangs von Nebel in Wolke, deren Unterschied ohnehin nur im Bodenkontakt und nicht in der Konsistenz liegt – es ist ein Ort des Spuks, der Passage und wirklich, erzählen wir uns hier, was man auf Gehwegen nicht sagen kann. Greifvögel fliegen nah über unseren Köpfen hinweg, aber keiner stößt einen Pfiff aus, sie liegen auf der Luft, kaum dass sie die Flügel bewegen. Zwei Schemen kommen uns entgegen und wir schauen lange zu den Umrissen und Nuancen von Grau, ehe wir darin Freunde erkennen, die voraus gegangen waren.
Unten angekommen verfestigen sich die Erscheinungen und teilen sich auf in Kälber, Hollerschorle und warme Holzbänke an einer warmen Stallwand. Kuchen essend lehnen und liegen wir ermattet in der Sonne. Die eben an die Tränke tretenden Kälber sind ungewöhnlich zutraulich, unverschreckt und zeigen eine entspannte Dynamik innerhalb der Herde. Die Almwirtin berichtet, die Tiere in den ersten Wochen tagsüber überwiegend im Stall gehalten und erst ab Einbruch der Dämmerung auf die Weide geführt zu haben, damit die junge Haut der Kälber nicht von Bremsen und Ungeziefer zerstochen wird und ihre Gesichter und Augenlider anschwellen. Nachts weiden sie ruhiger. Demnächst, wenn sie etwas robuster sind, wird der Weiderhythmus langsam umgestellt.
Schwarz glänzende Salamander zeigen sich zwischen dem Gras und lassen sich berühren. Ein korall farbener Schmetterling begleitet mich eine Weile auf dem Handrücken, während wir weiter abwärts steigen. Man muss es den Österreichern lassen, sie haben einfach die bessere Natur. Der Wechsel von den Kalkalpen zum Granitstein fühlt sich jedes Mal gleich sehr solide und weniger porös an, die Blumenvielfalt nimmt noch mal zu, die schiere Menge an Bergen, die höhere Höhe und damit die Kontraste.
Am Mittwoch tanzen wir in einer kleinen Gruppe. Es gibt keine Choreografie, nur Elemente, die von den Tanzenden beliebig aneinander gereiht werden. In der Pause kommt die Tanzlehrerin zu mir herüber, schaut mich freundlich an und sagt: Bleib nicht in Deckung. Gib raus, was du hast.
Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, dass diese Frau zu einem solchen Schwergewicht an Weisheit, Menschenkenntnis und Lust wurde. Ich kenne ein paar Stationen ihres Lebens, ich kann mir ungefähr denken, durch welche Zustände sie gegangen ist, was sie verloren hat, was sie nie bekommen hat, warum sie die Dinge begreift wie ein Tier. Als Erklärung reicht das aber nicht hin. Neulich habe ich mich vor ihr versteckt. Ich saß in einer voll besetzten U-Bahn, als ich sie einige Meter entfernt an einer Haltestange lehnen sah. Reflexartig drehte ich mich weg und rutschte etwas tiefer in den Sitz. Es gelingt mir nicht immer, mich ihrer Präsenz zu stellen. Mich auf diese bestimmte Weise durchschauen und annehmen zu lassen. Sie ist sehr nahbar und die am wenigsten lehrende Lehrerin, die ich je hatte.
Am Dienstag sitze ich mit Freunden im Garten und trinke Rosé, danach dänischen Schnaps und dann aus Nostalgiegründen einen Drink, den ich vor langer Zeit in einem Hamburger Club mit einer Freundin zu mir genommen habe. Ich glaube, es war das Nachtasyl. Um auszunüchtern gehe ich in der Dunkelheit eine Runde über die Felder. Es blitzt über dem Karwendel, aber es wird auch in dieser Nacht nicht regnen. Der Wind ist angenehm an diesen heißen Tagen und ich höre der Bewegung in den Baumwipfeln zu, beim Aufwachen, beim Einschlafen und in jeder stillen Minute.
Am Donnerstag liegt ein toter Vogel vor der Treppe. Wo seine Augen waren, sind dunkle Dellen. Ich ziehe einen Gartenhandschuh über und berühre ihn unter den Flügeln. Dann lege ich ihn unter einen Strauch, wo ihn später eine Elster abholt, kurz darauf aber wieder zurücklegt. Vielleicht ist der Vogel nicht mehr frisch genug gewesen. Oder die Elster war neugierig und wollte ihn auch nur mal kurz halten.
In der Institution stehen die Bürotüren zum Gang hin offen, was ungewöhnlich ist, hier arbeiten viele Menschen, die Wert legen auf Rückzug und Konzentration. Es bedarf schon eines Tages mit 33 Grad im Schatten, um die Kolleg*innen dazu zu veranlassen, ihre heilige Ruhe gegen ein bisschen Durchzug zu tauschen. Während ich über der griechischen Lautschrift brüte, höre ich es im Nachbarzimmer leise sprechen, verhalten lachen und noch ein Büro weiter, wie jemand eine Stunde lang der Hospitantin erklärt, welche Schnittstellenproblematik uns zu der umständlichen Statistikaufbereitung zwingt, die wir hier seit Jahren praktizieren.
Am Wochenende gehen wir auf einen Berg und picknicken, der Gipfel ist ein weitläufiges Plateau, eine Wiese, groß genug, ein Dorf darauf zu errichten. Alle haben Käse mitgebracht, aber niemand Eier. Etwas unterhalb vom höchsten Punkt klettert eine Gams herum, vertieft in ihre Kletterei und den ätherischen Duft der Latschenkiefern, durch die sie sich hindurch drückt. Sie bemerkt mich nicht oder zeigt nicht, dass sie mich bemerkt. Eine Weile betrachte ich die Gams aus der Nähe, ihre eleganten und sicher auftretenden Beine, den braun glänzenden Rücken und wie sie knabbert an den Trieben der Kiefern. Auf der anderen Seite des Plateaus finde ich einen interessanten Ast, der zu groß ist, um ihn nach unten zu tragen und mit nach Hause zu nehmen. Die ausgesprochen wettbewerbsfreudige Wandergruppe fordert mich heraus, mit einem Taschenmesser ein Teilstück des Astes herauszusägen. Ich gebe alles, komme innerhalb kürzester Zeit an meine Grenze und muss das Messer weiterreichen. Die nach mir sägende Person beugt sich über den Ast, strengt sich kaum an und hat das Holz in drei Minuten durch. Es ist manchmal, obwohl das ja vollkommen klar sein sollte, so erstaunlich, wie stark manche Menschen sind. Physisch. In den Armen.
Es ist sehr schwül und die Wanderung lang. Als wir unten ankommen, schält sich jeder aus der klebrigen Kleidung und robbt in den Gebirgsfluss hinein. Die Kälte ist umfassend, nach wenigen Sekunden beginnen die Zehen zu schmerzen, die Strömung rüttelt und reißt an den Beinen, der Fluss ist in diesem Moment eindeutig allem überlegen, kompromisslos, wahllos, zweifellos, türkis, klar und in Bewegung. Wieder raus aus dem Wasser fühle ich mich selbstbewusst und bereit, in irgendetwas reinzurennen. Ein Freund hat mal gesagt: Uns allen würde gelegentlich eine Prise Koks stehen. Ich denke, damit hatte er recht. Wenn es keine Gebirgsflüsse gäbe.
Die Wohnung verschmutzt zusehends, was ein gutes Zeichen ist und den Anfang des Sommers markiert. Möbelstücke und Flächen sind ab jetzt nur noch dafür da, benutzt zu werden und dürfen frühestens im Herbst wieder mit Pflege rechnen. Auf dem Boden treten sich Essensreste der letzten und vorletzten Zusammenkunft mit Freunden fest, die Fenster erblinden unter Pollenstaub und Fingerabdrücken, eigentlich weiße Waschbecken nehmen einen Farbton aus dem Sepiaspektrum an. Ich will mich nicht länger in Innenräumen aufhalten, als es braucht, um den nassen Badeanzug auszuwringen, aber dann sitze ich doch zwei Stunden an den Büchern und lerne. Es bleibt sogar was hängen, aber es hängt anders als im Winter, es wird bedrängt und manchmal erdrückt von dem, was noch alles ist.
Im Schatten unter den Zweigen baumeln die Waldakeleien in ihrer drachenkopfartigen Gestalt, vom Feld duftet das Heu herüber, der Flieder verblüht, die Pfingstrosen gehen auf, um den Mispelstrauch kreisen hunderte Bienen sirrend vor Nektartrunkenheit. Es ist mal wieder alles so herrlich gleichzeitig, überladen und lockend, es würde mich nicht wundern, beim nächtlichen Spaziergang auf zwölf Jungfrauen in griechischen Gewändern zu treffen, die im Wiesengrund etwas opfern oder Blumen weihen.
In der Institution pflüge ich durch ein paar fremdsprachliche Probleme. Bei fast allen ist die Lösung, aufzugeben, nach Hause zu gehen und am nächsten Morgen beim Drüberschauen plötzlich doch zu wissen, wie es gehen könnte.
Kurz darauf treffe ich eine Freundin, die psychisch schwer verwundete Kinder betreut, oft in Nachtdiensten, oft im Team mit Kolleg*innen, die nicht lange auf der Stelle bleiben werden. Etwa zwei Stunden sprechen wir, danach bin ich aufgeräumt für den Rest der Woche. Ich weiß, man kann kaputt gehen an solchen Jobs, auch als stabile Person kann man daran kaputt gehen. Die Freundin hingegen entwickelt entgegen aller Wahrscheinlichkeit immer mehr Stärke, Beziehungsfähigkeit und Heiterkeit im Respektieren der eigenen Grenze. Es ist, wie einem Leoparden beim Wachsen zuzusehen.
Ich grabe mich tiefer in die Atempraxis ein. An einem Dienstag lasse ich mich dafür zum ersten Mal von jemandem anleiten. Nach fünf Minuten angeleiteten Atmens beginnt mein gesamter Körper zu zittern. Das Zittern ist mir nicht unbekannt, es hat sich jedoch noch nie so heftig geäußert, wie in der Gegenwart des Atemlehrers. Er hält meine Hand und schaut mich freundlich an.
Abends, wenn die Sonne untergeht, gerate ich für etwa zwanzig Minuten in einen Zustand akuter Aufmerksamkeit, muss alles liegen lassen und mich Hineinstellen in das rote runde Flimmern und sei es nur, um hinterher sagen zu können, auch heute ist sie untergegangen, ich war dabei und hab es gesehen. Es ist nicht umsonst geschehen.
Ich habe einmal in einem langen, episch erzählten und über weite Strecken handlungsarmen japanischen Kriegsfilm eine Szene gesehen, in der eine Frau auf einer Mauer stehend in die untergehende Sonne ein Gebet rezitiert. In den Untertiteln wurden ihre Worte, wenn ich mich recht erinnere, übersetzt mit: Ich preise dich, ich preise dich, 38 Trillionen Seelen.
Es ist ein Tag wie aus einem Joaquín Sorolla Gemälde. Der Wind fährt in die Wäsche und hebt die leichten Stoffe, die papiernen Mohnblumenköpfe taumeln unter der Last der Insekten, Menschen mit nackten Beinen und gesunder Gesichtsfarbe lehnen an Zäunen und schließen die Augen in der schweren, ersehnten Mittagshitze. Nur das Meer fehlt. Ja, das fehlt.
Weil es Pfingstmontag ist mäht keiner der Nachbarn den Rasen, sägt Holz, zimmert am Ziegenstall oder wartet die landwirtschaftlichen Maschinen. Auch das ist schön, die noise cancelling Kopfhörer kommen kaum zum Einsatz. Die Tamariske wippt zwischen den alten Fliedersträuchern, ich lese Novellen aus dem 19. Jahrhundert, die Langeweile, mit der sich der Landadel herumschlug, die genaue Beschreibung der Leiden dieser tatenlosen Männer und Frauen, das ist alles so weit weg und erholsam, ich schlafe immer wieder ein.
Gestern im Karwendel eine der in diesem Jahr häufig vorkommenden halbhalb-Wanderungen. In kurzen Hosen unter brennender Sonne rauf, oben zuschauen, wie sich die Wolken senkrecht türmen, frieren, Wollpullover anziehen, runtergehen und gerade noch rechtzeitig vor dem Schauer ins Auto klettern. Im Auto hat erfreulicherweise ein Freund vorgesorgt und die Kühlbox befüllt. Es ist sehr behaglich so eng und erschöpft beieinander zu sitzen und Spezi in sich reinlaufen zu lassen.
Vor sieben Jahren wollte mich eine Bekannte auf eine Sorolla Ausstellung mitnehmen. Ich habe abgesagt. Mir war das alles zu fluffig und heiter. Im Rückblick manchmal erschreckend, wie vernagelt man sein kann.
Am vorletzten Tag bevor es endlich warm wird, stehen wir erneut auf einem Berg im Wind, frierend, tapfer, unglücklich. Auf dem Gruppenfoto sind nur Ausschnitte von Gesichtern unter Wollmützen, Kapuzenpullovern und Softshellhauben zu sehen. Es ist natürlich trotzdem besser, als in der Wohnung zu sitzen und sich nicht zu bewegen. Und am Ende ist es ja alles Kitt, die vielen widrigen Erfahrungen, die man gemeinsam macht.
In der Institution steht der Jahresurlaub der Fremdsprachenmeisterin an und es ist der erste, dem ich nicht mit Sorge entgegen sehe. Ich hätte mir, als ich vor drei Jahren bei ihr anfing, gewünscht, die Auseinandersetzung mit der Materie von einer Kollegin zu lernen, die etwas langsamer im Kopf ist, linear vorgeht, weniger viel weiß, weniger als 17 offene Tabs auf dem Bildschirm hat und weniger volle Kaffeetassen auf bedrohlich schwankenden Papierstapeln abstellt. Ich neigte zum damaligen Zeitpunkt zu der Unterstellung, ein unordentlicher Schreibtisch ziehe fehlerhaftes Arbeiten nach sich und würde in aufwendigen Korrekturläufen münden. Ich sollte mich sehr irren.
Mittlerweile habe ich selbst Papierstapel angelegt, Kopien von Übersetzungsvorlagen aus so zum Teil nicht mehr verlegten und online nicht existenten Werken, Tabellen für neue und alte griechische Buchstaben, Transkriptionen und Transliteration, Reihenangaben, die von türkischen und rumänischen Verlagen gern verwendet werden, Kodierung für Literaturnachweise auf Arabisch und Farsi. Es wird und es wird besser. Dennoch übe ich bei jedem Urlaub der Meisterin den endgültigen beruflichen Abschied von ihr, der irgendwann, ich hoffe nicht zu bald, eintreten wird. Mit ihr geht nicht nur implizites Wissen, das in keinen Papierstapel Eingang gefunden hat, sondern auch eine der letzten Mitarbeiterinnen, die im Stundentakt runter in den Hof gehen, um dort am Lüftungsschacht eine zu rauchen.
Auf der Hauptversammlung spricht ein Mitarbeiter der obersten Stadtbaurätin und stellt den Stadtentwicklungsplan vor. Es geht darum, trotz Erschließung weiterer Neubaugebiete und Nachverdichtung, Kaltluftschneisen aus dem unverbauten Umland frei zu halten, um zu verhindern, dass die für das Jahr 2040 in München prognostizierten Sommertemperaturen ein Niveau erreichen, wie es zurzeit in Mailand üblich ist.
Er erwähnt in einem Nebensatz den Stadtentwicklungsplan von 1983, in dem eigentlich vorgesehen war, eine Autobahn direkt am Sendlinger Tor enden zu lassen. Wer oder was das Vorhaben gestoppt hat, erzählt er leider nicht. Die Pause der Hauptversammlung besteht im Wesentlichen darin, an der Brezelstation eine Brezel zu essen und dann mit Laugenkrümeln im Mundwinkel innerhalb von 20 Minuten möglichst viele Kolleginnen und Kollegen zu sprechen, die zu sprechen ein Jahr lang nicht geklappt hat.
Am Dienstag fallen wegen einer Signalstörung für mehrere Stunden in beide Richtungen die S-Bahnen aus und weil es hier draußen kaum Busse gibt, wird ein Ersatzverkehr mit Taxen eingerichtet. Eine viertel Stunde später sitze ich mit einer Handvoll 15-Jähriger in einem Großraumtaxi, das uns zum nächsten Bahnhof bringt – im Wageninneren teenagerbedingtes stoisches Schweigen und aneinander Vorbeisehen, aber beim Aussteigen wendet jeder einzelne Junge brav den Kopf zum Fahrer, bedankt sich und wünscht noch einen schönen Tag. Ich muss manchmal so lachen. Die Kinder aus dem bayerischen Oberland. Wie gut erzogen die sind.
Die Hortensien haben überlebt. Es geht ihnen nicht gut, aber sie stehen. Am Wochenende wurde Heu gemacht. In der jetzt stoppelkurzen Wiese sind abends die Fuchsjungen zu sehen. Ihre noch etwas ungelenken Mausjagdversuche in der untergehenden Sonne. Alle paar Minuten werden sie müde, rollen sich ein und schlafen einen Moment, ehe es weitergeht.
Wenn es viel regnet, will ich beim S-Bahnfahren elektronische Musik hören. Dabei lande ich immer wieder bei Jean-Michel Jarre. Es stellt sich in dieser Woche eine angenehme Synchronizität ein zwischen seinem 1976 erschienen Album Oxygène und dem vertieften Atmen, das ich aktuell lerne und in der S-Bahn übe. Vor etwa fünf Jahren hat ca. ein Viertel meines Bekanntenkreises mit breath work, Atemyoga, vollständiger Atmung und Ähnlichem begonnen. Ich war sofort dagegen. Das ist mir jetzt unangenehm zuzugeben, aber es ist so. Sobald etwas ein Trend wird, sträube ich mich. Das bewahrt mich davor, manche Dummheit zu machen, es bremst mich allerdings auch dabei, notwendige Schritte zu gehen, die zufällig ein Viertel meines Bekanntenkreises vor mir getan hat. Ich war nicht dagegen im Sinne eines offen geführten Kampfes, sondern im Sinne eines mir sehr vertrauten, introvertierten, stillen, zähen Verweigerns.
Es hat alles angefangen mit Qigong, 2004. In der Theaterschule damals stand jeden Montag von 8 - 9 Uhr Qigong auf dem Stundenplan und innerhalb der ersten drei Minuten der ersten Einheit an dem ersten Tag war mir klar, dass ich nicht atmen kann. Dass ich beim Versuch in meine Brust oder gar in meinen Bauch zu atmen, aggressiv werde (und bin) und diese Aggression nicht Montags um 8 mit mir unzuverlässig erscheinenden Mitschülern teilen will. Ich habe deshalb so oft wie möglich die erste Stunde geschwänzt, mich gefreut, wenn die Trainerin krank war und flach geatmet, bis die Theaterzeit um war. Man kann sich denken, dass dabei nicht viel rausgekommen ist.
2012 traf ich in einem Schwabinger Kellerstudio zum ersten Mal auf meine Tanzlehrerin und habe mich auf der Stelle in sie verliebt. Wie jedes Kind durch Nachahmung lernt, war ich in den ersten Monaten überwiegend damit beschäftigt, ihr hinterher zu trotteln, irgendwie mitzukommen und sie ergriffen anzuschauen. Sie hat immer sehr liebevoll zurückgeschaut und getan, was eine für mich ideale Mutter tun würde. Dem Prozess vertraut. Wieder ein Jahr darauf ist mir im steten Beisein ihres Körpers so langsam gedämmert, dass ich niemals auch nur ansatzweise versammelt und aus meinem Wesen heraus tanzen werde, wenn ich nicht zumindest den Versuch unternehme, wenigstens hier, in dem Schwabinger Kellerstudio, in meinen Bauch zu atmen, genauer; in mein Becken.
2015 habe ich es dann parallel noch mal mit Zen probiert. Es ging etwas besser. Mittlerweile hatte ich vor meiner Aggression weniger Respekt und an meiner Seite Leute, die mir gezeigt haben, wie ich durch Emotionen gehen kann, ohne mich darin aufzulösen oder davon weggerissen zu werden. Das Atmen blieb trotzdem mittelmäßig.
Erst im letzten Sommer, der Sommer, als ich beinahe täglich am Fluss saß, die Steine von links nach rechts gedreht und mein Gehirn bei dreißig Grad in den Zustand geistiger Umnachtung versetzt habe, sah ich einmal zufällig runter auf meine Bauchdecke, die sich eindeutig hob und senkte. Hob und senkte. Wie ein ganz normaler Mensch. Ich hab viel geweint an diesem Fluss. Ich war eine Lache aus Dankbarkeit.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so aufgeplatzte Gesichter gesehen habe. Ob ich überhaupt schon mal solche gesehen habe. Für den Zeitraum von etwa drei Stunden lag im Prinzip alles blank: Einsamkeit, Schmerz, Lust, Freude von etwa 150 Menschen, zusammengekommen in einem dunklen Raum, angetreten aus unterschiedlichen Motiven, vielleicht auch nur aufgrund einer kurzfristig sich bemerkbar machenden Schubkraft, dem dumpfen Wissen, hineingestülpt zu sein in diese Welt. Da.
Viele Mädchen können im Alter von 13 Jahren nicht mehr beschreiben, was sie fühlen, aber detailliert Auskunft geben darüber, wie sie glauben aussehen zu müssen, um eine Existenzberechtigung zu haben. Für Jungs muss es ähnlich schlimm sein, oder anders schlimm. Das kann ich nicht beurteilen. Zwanzig Jahre später und die ersten Bröckelerscheinungen im Gesicht bleibt eigentlich nur Verzweiflung und das Anrudern gegen die sichtbare Sterblichkeit. Wenn daher aus vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Gründen an einem verregneten Tag im Mai 150 Menschen mit ihren wie auch immer gearteten Körpern einen Abend lang Hingabe an diese vorgefundene Existenz praktizieren, ist das rar. Ein rares Ereignis.
Jedes Mal wenn ich für ein paar Sekunden die Augen öffne, krümmt, stampft oder zuckt eine andere Person an mir vorbei. Darunter Frauen, die aktiv und passiv viele hunderttausende Frauenbilder in ihrem Leben konsumiert haben und es dennoch für diese Zeitspanne schaffen, von ihrem Erwartungsgerüst herunter zu kommen, zu tanzen wie ein Schimpanse es tun würde, ein Insekt, ein Pferd, ein Walfisch, ein Erdrutsch, ein Kometenschauer.
Ich glaube wirklich, keiner der Anwesenden hat Drogen genommen. Zumindest sieht keiner danach aus. Ich schaue etlichen in die Augen und viele schauen zurück. Ich erkenne nüchterne Menschen, sie sehen roh aus und meist nicht souverän. Sie müssen durch sich durchwaten; die Bewertung, die Abwertung, den drängenden Impuls, manche Gefühle zu betäuben und andere zu verstärken und dabei ununterbrochen bleiben, nicht weglaufen. Dennoch passiert manchmal, was niemand tun oder herholen, wofür man sich nur bereit und bis dahin möglichst schadlos halten kann. Die Fassung springt, der Bewegungsfluss entgleist, schwappt über und gehört nicht mehr den Einzelnen selbst. When there is only dancing and no dancer.
Einmal, ungefähr in dem Moment, als irgendwo am anderen Ende des Raums eine Rotation beginnt, sich an den Körpern entlang fortsetzt, verdichtet und in Form pitschnasser Rücken, Arme und Laute an mir vorbei schrammt, drehe ich meinen Kopf nach links und schaue zu meiner Freundin. Sie lacht mit aufgerissenem Mund. Sie lacht so aufgerissen und enthemmt, wie es im Leben einer Erwachsenen nur nach grenzwertigen, eigentlich überwältigenden, Strapazen möglich ist. In der Sekunde der Erkenntnis, dass man nicht kaputt gegangen ist.
Es ist ein Löwenzahnjahr, soviel steht fest. Nachdem im Jahr zuvor nur vereinzelt gelbköpfige Inseln aus den Wiesen am Waldrand wuchsen, schauen jetzt umgekehrt nur vereinzelt Grasinseln aus dem gelben Teppich hervor. Der Imker bringt mehrere Bienenvölker auf die Anhöhe, wenn das Wetter hält und der Raps sich verspätet, wird er später sortenreinen Löwenzahnhonig verkaufen.
Zwei Tage am Stück ist es warm, die Sonne knallt an die Hauswand, im Garten breiten sich hellblaue Bodendecker aus, Hummeln saugen an den Zierapfelblüten, ich stehe wunschlos vor der Tür und lasse ein wenig ab von meiner Zerknirschung. In der Arbeit geschieht nichts. Einmal läuft meine Milch im Kühlschrank aus, aber weil es für alles in der Institution Vorschriften gibt, auch dafür, wie Milch in dafür vorgesehenen Plastikboxen im Kühlschrank gelagert werden soll, läuft sie einfach in die Plastikbox. Und nicht in den ganzen Kühlschrank. Was soll ich dazu sagen? Danke Vorschriften.
An einem anderen Tag gehen wir zu viert auf einen Berg. Es ist eigentlich zu kalt und grau, um draußen zu sein, ich bedauere, keinen Tee mitgenommen zu haben, am Gipfel sitzen wir zusammengekauert in unseren Jacken und harren der Dinge. Beim Abstieg wird es wärmer, wir schälen uns aus den Lagen und versuchen gerade einigermaßen zivilisiert ein Schneefeld runter zu kommen, als das eine Kind, das an diesem Tag dabei ist, an uns vorbeizieht, den Hang hinab rennt, rutscht, fällt, aufsteht und weiter rennt. Ich habe oft erlebt, dass mein verhärteter Erwachsenenkörper angebotenen Impulsen nicht mehr folgt und kann daher nur überrascht sein, als ich mich ebenfalls das Schneefeld herunter rennend finde. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Rest der Gruppe an mir vorbei kegeln, unten angekommen ist die Schneeballschlacht bereits im Gange. Es ist eine seltene und wichtige Genugtuung, jemandem eine Hand voll Schnee hinten ins T-Shirt stecken zu können, auch wenn das in einer Einseifung mündet, bei der man eventuell unterliegt.
Die restlichen Stunden gehen wir mit nasser Kleidung und nassen Füßen in den Schuhen, am nächsten Morgen werde ich wunde Zehen haben, was ein bisschen weh tut, aber was wäre die Alternative, sich immer schonen? Wirklich riskant verhalte ich mich nicht mehr, mit einem Bier in der Hand auf Kräne klettern, das ist alles lang vorbei. Eine Einordnung meiner Risikobereitschaft im Vergleich zu der eines durchschnittlichen Zehnjährigen bekomme ich gegen Ende des Tages, als das eben beschriebene Kind Anlauf nimmt und ohne Ankündigung über einen viele Meter tiefen und Wasser führenden Abgrund springt. Wer sich an die Verfilmung von Ronja Räubertochter aus dem Jahr 1984 erinnert und darin an die Szene, in der sie und Birk Borkasohn über den Riss in der Burg springen – ein solcher Spalt – nur mit Anlauf zu schaffen, wenn überhaupt. Ich sehe das Kind einen Moment ungläubig an und drehe mich dann zu dessen Vater. In der Sekunde, als sich unsere Blicke treffen, beschließen wir einvernehmlich nichts zu sagen.
Ich denke, erst nach etwa zwei Jahrzehnten auf dem Erdball hängt man wirklich und entschlossen an der Fortsetzung dieser menschlichen Erfahrung, lässt Vorsicht walten und geht in einen eher konservierenden Zustand über. Bis dahin sollte man von den Bedenken der Erwachsenen nicht allzu oft gestört werden. Eine Woche später berichtet die lokale Zeitung vom Tod eines fünfzehnjährigen Jungen, der bei einem wohl ähnlichen Manöver hier in der Nähe von einer Felsenplatte gefallen und ertrunken ist. Es muss manchmal kaum auszuhalten sein. Ein Kind zu haben und es gleichzeitig nicht zu haben.
Ein Buch, das seit Jahren vergriffen und in keinem Antiquariat unter 80 Euro zu erstehen ist, wird von einem älteren Freund aufwändig recherchiert und in einem österreichischen Depot ausfindig gemacht. Er schickt mir alle Daten zum Abgleich, übernimmt die Bestellung und Lieferung an eine Freundin in Tirol, die es mir bei Gelegenheit mitbringen wird. Es ist ein großes Plus Freunde zu haben, die bereits in Rente sind und gerne Detektiv spielen.
Man sieht es dem Garten nicht an, dass ich in den vergangenen zwei Jahren annähernd fünfzig Sträucher, Stauden und Pflanzen darin eingesetzt habe. Die meisten hatten beim Kauf eine Höhe von etwa 60 Zentimeter und kaum eine davon ist heute über 80 Zentimeter hinaus. Ein Drittel ist gar nicht erst angewachsen oder hat sich selbst kompostiert, ein weiteres Drittel wurde mehrmals von Ameisen überrannt oder von vorzeitiger Entblätterung heimgesucht. Ein Garten, hier, unweit der Berge, mit den kalten Nächten, später Blüte und dem langsamen Wachstum ist insgesamt eine Erfahrung, die viel mit Ausnüchterung zu tun hat und wenig mit der Üppigkeit, Verrankung und Opulenz, die ich darin zu schaffen und zu finden hoffte. Das Gemüse habe ich aufgegeben, die Dahlien, Cosmea und Jasminsträucher aufgegeben, die Tomaten geraten geschmacklos, Erdbeeren kümmerlich, zwei Mal täglich Schnecken absammeln reicht nicht, um den Salat im Hochbeet zu retten. Die Nachbarin sagt, hier überleben nur Zwiebeln. Es muss sich also entweder ein Gewächshaus zugelegt und erheblicher Arbeitsaufwand betrieben werden oder man fügt sich in Landschaft und Klima. Ich bin jetzt in der Fügungsphase. Die nächste Stufe ist, ein Trampolin aufzustellen und Plastikspielzeug auf den Rasen zu schmeißen.
Auf dem Balkon ist unterdessen etwas Gutes von selbst passiert. Eine Art Vergissmeinnicht hat sich in die Balkonkästen gesät und wuchert blau-lila vor sich hin. Und ein geschenkter Mohn im Kübel gedeiht trotz Temperatur und Wind, die transparenten Blütenblätter leuchten in der Sonne, als sie einen Nachmittag lang in dieser Woche scheint.
Ein Freund sagt, ich würde den Garten zu genau beobachten, das sei nicht gut. Wie man einen Teenager auch nicht mit direkten Fragen in die Ecke drängen dürfe. Das müsse alles beiläufig geschehen. Also keine face-to-face Kommunikation. Ich bin sofort überzeugt. Am Abend gehe ich doch heimlich ans Fenster und schaue auf die angepflanzten Hortensien herunter. Ob die auch gleich wieder sterben oder zurecht kommen.
Der Regen fühlt sich nicht gut an, aber unterstützt mich bei der Anhäufung von Basiswissen in dem anderen Beruf. Ein paar bestellte Bücher zur Anwendung eines bestimmten Verfahrens sind eingetroffen und angelesen, kein Sonnenstrahl hält mich davon ab, die Kapitel herunterzuschlingen, es ist freudlos aber praktisch. Am Montag muss ich mich anmelden für eine Prüfung, die in einem Jahr stattfinden wird und die die Einreichung zahlreicher Unterlagen erfordert. In einem seltsamen Aktionsbündnis aus Sabotage und Bequemlichkeit habe ich das hinausgezögert bis nahe an das Ende der Anmeldefrist. Damit ich zur Prüfung zugelassen werde, muss eine Ärztin meine Stressresistenz bewerten. Sie befasst sich eine halbe Stunde mit mir und fragt ein paar Fragen, auf die ich völlig ehrlich antworte. Erst hinterher registriere ich, nicht mit meinen früheren Vorsichtsmaßnahmen und -antworten reagiert zu haben. Es wird sich noch zeigen, ob sich das bewährt. Die Ärztin jedenfalls hält mich für stressresistent und stempelt das ab.
Ich selbst halte mich für bedingt stressresistent. Ich kann nicht mit Verkehrslärm umgehen, nicht mit Beschallung durch Nachbarn, Baustellen, Gastronomieaußenbereiche, ständigen Durchsagen, akustischen Warnungen bevor Türen schließen und mittels Lautsprecher telefonierenden Mitmenschen. Aber wenn jemand eine Panikattacke hat, sich von Leere gelähmt fühlt, einen Stuhl gegen die Wand werfen will oder beim Weinen krampft, bin ich zentriert und klar. Und natürlich würde ich, wie jeder andere Mensch auch, umgehend einbrechen, wenn meine Existenz, Würde oder Rechte bedroht werden, wenn mein Neurotransmittersystem ungenügende Mengen von Serotonin ausschüttet oder ich eine Woche mit häufigen Schlafunterbrechungen hinter mir habe. Wollte die Ärztin das wissen? Ist das Stressresistenz?
Es gibt viele Wege, Stress zu vermeiden oder sich nach einer Stressspitze wieder zu beruhigen und ich halte es für eine zentrale Lebensaufgabe, herauszufinden, wie ich mir während und nach meinem Stress beistehe. Als ich vor drei Wochen nach einer beruflich fordernden und irritierenden Situation etwas belämmert im Raum herumstand, bot mir eine Kollegin an, sich mit mir auf ein Sofa zu setzen. Und da saßen wir dann. Eine viertel Stunde. Nebeneinander aus dem Fenster sehend, ohne ein einziges Wort. Sie hat das einfach mit mir ausgehalten.
Donnerstagnacht fahre ich beinahe ein Reh an. Es ist ein kleines Reh, die älteren Tiere der Herde sind bereits über die Straße gerannt, ich sehe sie spät, aber noch rechtzeitig, drossel das Tempo und weiche aus, als rechts aus dem Gebüsch ein Kleines heraus springt, um zu den anderen aufzuschließen. Ich bremse hart und komme wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen. Die nächsten 24 Stunden fühle ich mich deutlich weniger robust als sonst. Eine Kollegin, die mit mir plaudern will, wimmel ich nach zwei Sätzen ab, dann sitze ich eine halbe Stunde im Büro und schaue vor mich hin. Ich weiß, dass es für das Reh besser war, vor mein Auto zu laufen, anstatt vor das Auto einer schneller fahrenden Person. Noch besser wäre, ich müsste seltener Auto fahren und die Waldstücke hier in der Gegend würden nahtlos zusammenhängen. Mir geht nicht aus dem Kopf, wie zwei der älteren Tiere am Fahrbahnrand stehen geblieben sind und ohne ihrem Fluchtimpuls zu folgen auf das jüngere warteten. Sie hätten zuschauen müssen, wenn etwas passiert wäre.
Kurz danach liegt ein Amselei auf dem Boden hinterm Haus. Ein Nest, aus dem es herausgefallen sein könnte, entdecke ich nicht. Bis zum Nachmittag lasse ich das Ei liegen, dann hebe ich es auf und trage es eine Weile herum. Die Rotmilane kreisen in letzter Zeit auffallend tief über den Gärten, ich frage mich, ob sie sich gelegentlich bei den Singvögelnestern bedienen. Über Ostern habe ich mit großer Lust Nuancen von Blau und Grün durch kurze Eintauchintervalle in verschiedene Farbbäder erzeugt. Ein so fabelhaft Lapislazuli-gesprenkeltes Ei wie das der Amsel ist mir dabei nicht gelungen.
Wegen eines Termins halte ich mich in einem Münchner Neubaugebiet auf. Konkret sind das vier Hochhäuser mit einer Fassadengestaltung von geradezu lächerlicher Abscheulichkeit, daneben ein Flachbau, in dem Supermärkte untergebracht sind, und niedrigere Wohnblocks, die den Plattenbauten meiner Kindheit in kaum etwas nachstehen. Ich werde das nie verstehen. Nur wenige Jahre zuvor und wenige Kilometer entfernt wurde ebenfalls ein Neubaugebiet mit Hochhäusern, Einkaufsmöglichkeiten und weiteren Gebäudetypen in München hochgezogen. Alles daran sieht gut aus. Ich habe mir zwischendurch gewünscht, da leben zu dürfen. Es ist also prinzipiell nicht unmöglich, wirtschaftlich und schön zu bauen.
Der Waldboden am Montag darauf ist von Blumen übersät, auf den Felsvorsprüngen wächst violettes Heidekraut und Moos. Es sind die einzig sonnigen Stunden in dieser verregneten Woche, der in den Bergen noch massig vorhandene Schnee schmilzt, sammelt sich in Rinnen und fließt gurgelnd abwärts. Die Pfade verwandeln sich in vollgesogene Schwämme, in den Wiesensenken entstehen knietiefe Lachen, die Hütten geben ihre gespeicherte Wärme ab, ich lehne ohne inneren Lärm eine Stunde an den Fichtenschindeln einer Holzwand.
Am andern Tag ist es wieder kalt, zwei Freunde kommen spontan vorbei und bleiben bis Mitternacht, wir sprechen über Trinität, versuchen das unirdische Beziehungsgefüge auf irdische Bezüge herunterzubrechen, es menschlich einzukreisen. In einer so verregneten Woche lässt es sich gut herum operieren an Fragen, für die man sonst keine Verwendung hat. Tatsächlich aber fühle ich mich die folgenden Tage ungewohnt sortiert und heiter. Irgendeine in der Dreifaltigkeit liegende Aussage scheint an meinen Filtern vorbei eingesickert zu sein und mich zu bereichern.
In dem anderen Beruf schaue ich einen Tag lang einer Kollegin zu und denke dann einen weiteren Tag lang darüber nach, wie sie vorgeht, warum, mit welcher Haltung, zu welchen Ergebnissen das führt, ob sie im Anschluss müde wirkt, wie sie zurück bleibt. Ich habe das Glück, mit einigen Menschen zusammenzuarbeiten, die sich in die Karten schauen lassen, auch während sie stellenweise unsicher sind, Dinge probieren müssen und nicht auf alles vorbereitet sein können.
An drei bis vier Tagen im Jahr ist die Arbeit in der Institution schlimm. Immer im März, wenn das Budget auf hunderte bestehende und hunderte neu hinzugekommene Positionen verteilt werden muss und ich dafür nichts zur Verfügung habe, als veraltete Software, einen Taschenrechner und ausgedruckte Exceltabellen, die ich mit Tesafilm zu einem etwa 2 qm² großen Gesamteindruck zusammenklebe. In die Aufgabe wurde ich hineingetrickst. Von allen Beteiligten. Von dem Kollegen, der mich mit einer zuckersüßen Email angeworben hatte, von der direkten Vorgesetzten, die nicht wusste, um was genau es geht und von der indirekten Vorgesetzten, die beim Einstellungsgespräch von leicht zu verrichtenden Tätigkeiten in der Etatansetzung sprach. Nur mein Vorgänger war ehrlich und sagte bei seinem Abschied und nachdem ich unterschrieben hatte: Ich muss Sie warnen. Auch wenn Ihnen keine Fehler unterlaufen, wird das Programm Fehler melden. Wenn Sie dann nicht improvisieren, kann hier innerhalb von einer Woche niemand mehr handeln.
Was meinen Sie mit improvisieren, habe ich gefragt.
Tricksen, hat er gesagt.
Ich habe also in den letzten Tagen zuerst alles korrekt eingegeben und Dutzende Fehlermeldungen erhalten, darauf alles noch mal eingegeben, Geld erfunden, wo keines ist und Geld verschwinden lassen, wo es eigentlich existiert und mir handschriftlich vermerkt, was ich manipuliert habe. Das Programm ist darauf reingefallen. Es hat zwei Mal mit einem Fragezeichen reagiert und dann mit okay. Mittlerweile ist es Anfang April, der schlimme Teil des Jahres rum, die Kollegen schauen schuldbewusst und ehrerbietig zu mir auf, entrichten kleine Gefälligkeiten und versuchen mich weitere Jahre bei der Stange zu halten. Ich kann jetzt und die nächsten zwei Wochen stündlich mit Blattsalat angerichtete Sandwiches, für mich erledigte Post und auf kleinen Tabletts gereichten Kaffee einfordern, bevor mein Ruhm allmählich verblassen wird und ich für den Rest des Jahres zurücksinke in die Bedeutungslosigkeit, auf die ich mich ursprünglich beworben hatte.
Den anhaltenden Regen versuche ich mir mit dem dringend nötigen Steigen des Grundwasserpegels schönzureden, dem Lernen weiche ich aus, dafür sind jetzt zwei Bäume beschnitten, die Silikonfuge des Badewannenrands herausgekratzt, gesäubert und neu verfugt, der im Winter eingefrorene und abgebrochene Außenwasserhahn entfernt, Dichtungsband bestellt, ein Rucksack getestet und für untragbar befunden (und damit 11 Monate Rucksack-Recherche einen Schritt voran gebracht), die Kommode nach Feuchtigkeitsunfall abgeschliffen, geölt und aus Schafwolle Schlüsselanhänger für Zweit- und Drittschlüssel geflochten. Heute Morgen habe ich noch erwogen, aus Naturmaterialien Ostereierfarbe herzustellen, ehe ich einsah, dass ich irgendwann wieder lernen muss und mich nicht ewig in einem Fantasieheimwerkerleben verstecken kann, nur weil mich das nächste Kapitel inhaltlich nicht reizt.
Auf dem Weg zu Freunden, die an dem Abend Halloumiburger machen werden, höre ich Musik der frühen Nullerjahre und sitze zufrieden in Öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen sich ausgehbereit angezogene Menschen mittels Lautstärke, Lachwilligkeit und über Sitze hinweggerufene Aufforderungen, mit ihrem Wochenendkörper vertraut machen.
Ich mag es, neue Freunde zu finden, zu begreifen, wie sie sind, was da los ist, in was sie sich reinschrauben, womit sie glänzen und auf welche Weise sie in sich hängen bleiben. Genauso bereichernd ist es, alte Freunde kennenzulernen. Noch mal von vorn zu ertasten, was das eigentlich für Wesen sind, wie sie reingespült wurden in diese Welt, worüber sie sich seit Jahrzehnten den Kopf zerbrechen und wie sie ihre Gefühle inkarnieren in Gegenstände, Handlungen, Wohnungen und Politik.
Auf Amazon ein Set Lebensmittelfarben bestellt. Sobald das Kapitel, das mich inhaltlich nicht reizt, absorbiert, verstanden und verwahrt ist, darf ich die Eier bemalen. Laut Wetterbericht wird es an Ostern 8 Grad und sonnig. Ich will das dieses Jahr so richtig prall durchziehen mit Nestern im Garten, Weidenkätzchen und den Schafen des Nachbarn, die hoffentlich im richtigen Moment vorübergehen.