go as a river
Man sieht es dem Garten nicht an, dass ich in den vergangenen zwei Jahren annähernd fünfzig Sträucher, Stauden und Pflanzen darin eingesetzt habe. Die meisten hatten beim Kauf eine Höhe von etwa 60 Zentimeter und kaum eine davon ist heute über 80 Zentimeter hinaus. Ein Drittel ist gar nicht erst angewachsen oder hat sich selbst kompostiert, ein weiteres Drittel wurde mehrmals von Ameisen überrannt oder von vorzeitiger Entblätterung heimgesucht. Ein Garten, hier, unweit der Berge, mit den kalten Nächten, später Blüte und dem langsamen Wachstum ist insgesamt eine Erfahrung, die viel mit Ausnüchterung zu tun hat und wenig mit der Üppigkeit, Verrankung und Opulenz, die ich darin zu schaffen und zu finden hoffte. Das Gemüse habe ich aufgegeben, die Dahlien, Cosmea und Jasminsträucher aufgegeben, die Tomaten geraten geschmacklos, Erdbeeren kümmerlich, zwei Mal täglich Schnecken absammeln reicht nicht, um den Salat im Hochbeet zu retten. Die Nachbarin sagt, hier überleben nur Zwiebeln. Es muss sich also entweder ein Gewächshaus zugelegt und erheblicher Arbeitsaufwand betrieben werden oder man fügt sich in Landschaft und Klima. Ich bin jetzt in der Fügungsphase. Die nächste Stufe ist, ein Trampolin aufzustellen und Plastikspielzeug auf den Rasen zu schmeißen.
Auf dem Balkon ist unterdessen etwas Gutes von selbst passiert. Eine Art Vergissmeinnicht hat sich in die Balkonkästen gesät und wuchert blau-lila vor sich hin. Und ein geschenkter Mohn im Kübel gedeiht trotz Temperatur und Wind, die transparenten Blütenblätter leuchten in der Sonne, als sie einen Nachmittag lang in dieser Woche scheint.
Ein Freund sagt, ich würde den Garten zu genau beobachten, das sei nicht gut. Wie man einen Teenager auch nicht mit direkten Fragen in die Ecke drängen dürfe. Das müsse alles beiläufig geschehen. Also keine face-to-face Kommunikation. Ich bin sofort überzeugt. Am Abend gehe ich doch heimlich ans Fenster und schaue auf die angepflanzten Hortensien herunter. Ob die auch gleich wieder sterben oder zurecht kommen.
Der Regen fühlt sich nicht gut an, aber unterstützt mich bei der Anhäufung von Basiswissen in dem anderen Beruf. Ein paar bestellte Bücher zur Anwendung eines bestimmten Verfahrens sind eingetroffen und angelesen, kein Sonnenstrahl hält mich davon ab, die Kapitel herunterzuschlingen, es ist freudlos aber praktisch. Am Montag muss ich mich anmelden für eine Prüfung, die in einem Jahr stattfinden wird und die die Einreichung zahlreicher Unterlagen erfordert. In einem seltsamen Aktionsbündnis aus Sabotage und Bequemlichkeit habe ich das hinausgezögert bis nahe an das Ende der Anmeldefrist. Damit ich zur Prüfung zugelassen werde, muss eine Ärztin meine Stressresistenz bewerten. Sie befasst sich eine halbe Stunde mit mir und fragt ein paar Fragen, auf die ich völlig ehrlich antworte. Erst hinterher registriere ich, nicht mit meinen früheren Vorsichtsmaßnahmen und -antworten reagiert zu haben. Es wird sich noch zeigen, ob sich das bewährt. Die Ärztin jedenfalls hält mich für stressresistent und stempelt das ab.
Ich selbst halte mich für bedingt stressresistent. Ich kann nicht mit Verkehrslärm umgehen, nicht mit Beschallung durch Nachbarn, Baustellen, Gastronomieaußenbereiche, ständigen Durchsagen, akustischen Warnungen bevor Türen schließen und mittels Lautsprecher telefonierenden Mitmenschen. Aber wenn jemand eine Panikattacke hat, sich von Leere gelähmt fühlt, einen Stuhl gegen die Wand werfen will oder beim Weinen krampft, bin ich zentriert und klar. Und natürlich würde ich, wie jeder andere Mensch auch, umgehend einbrechen, wenn meine Existenz, Würde oder Rechte bedroht werden, wenn mein Neurotransmittersystem ungenügende Mengen von Serotonin ausschüttet oder ich eine Woche mit häufigen Schlafunterbrechungen hinter mir habe. Wollte die Ärztin das wissen? Ist das Stressresistenz?
Es gibt viele Wege, Stress zu vermeiden oder sich nach einer Stressspitze wieder zu beruhigen und ich halte es für eine zentrale Lebensaufgabe, herauszufinden, wie ich mir während und nach meinem Stress beistehe. Als ich vor drei Wochen nach einer beruflich fordernden und irritierenden Situation etwas belämmert im Raum herumstand, bot mir eine Kollegin an, sich mit mir auf ein Sofa zu setzen. Und da saßen wir dann. Eine viertel Stunde. Nebeneinander aus dem Fenster sehend, ohne ein einziges Wort. Sie hat das einfach mit mir ausgehalten.