Entlang des Bahnsteigs werden die ersten Hagebutten reif. Beim Warten auf die S-Bahn pflücke ich eine Handvoll, öffne die Schale und esse das Mark. Eine Woche lang nebelt es über den Mooren, Füchse halten sich darin auf, Schafe, Rehe; grau in grau. Wenn die Sonne rauskommt, liegen die Kühe auf der Weide und blinzeln ins Licht. Sie sind jung und müde vom Verdauen.
Aus Göttingen und Wien treffen Kolleg*innen für eine Fortbildung ein. Am Abend gehen wir auf die Alte Utting, es ist noch warm genug um draußen zu stehen und Bier zu trinken, erst später wechseln wir in den Innenraum des Schiffs und sitzen unter den gelben Lampen. Einmal noch pflügen wir mehrere Tage gemeinsam durch die Materie, beobachten Gruppenprozesse, unsere Rolle darin und welche Taten und Worte in welche Richtung führen. Dann verabschieden wir uns voneinander unter dem karmesinroten Laubdach der Bäume an dem kleinen Stadtsee, es wird dunkel und kalt, aber wir können nicht aufhören zu erzählen und uns zu begleiten, bis zur Ampel, bis zur Kreuzung, bis zum Gleis, wissend, dass wir uns in dieser Konstellation nicht wiedersehen.
Es folgt Arbeit in der Institution und Arbeit in der Praxis. In meinem Umfeld eskaliert eine seit Langem prekäre Situation, die eine minderjährige Person einschließt, auf die nächste Eskalationsstufe. Zwei Tage rennen meine Gedanken im Kreis und ich muss mich festhalten an allem, was ich kann und gelernt habe, um nicht reflexhaft zu reagieren. Ab dem dritten Tag wird mir klar, wie ich handeln will. Ich bespreche mich mit zwei Vertrauten und gehe die Schritte, einen nach dem anderen. Zu meiner Überraschung und entgegen der sonstigen Entwicklung sind manche der Beteiligten zur Kooperation bereit. Und ich verorte mich neu in einem tragfähigen Gewebe aus Menschen, die mich halten und beschützen, während ich andere halte und beschütze.
Die Gärten hier im Dorf sind ein großes Thema im Herbst. Alle Nachbarn, egal wo man sie trifft, fragen danach, berichten davon. Wie viel Arbeit die zu beschneidenden Obstbäume machen, an welcher Schuppenwand noch Platz für das zu trocknende Holz ist, wo das meterhohe Schnittgut der Sträucher bloß hin soll, wer öfter als fünf Mal mit dem beladenen Anhänger beim Wertstoffhof war, welche Motorsäge etwas taugt, ob die Leiter stabil steht, wer aufgibt und nur noch wachsen lässt. Ich mag die Jahreszeitengespräche. Es ist ein verbaler Kalender, an dem alle teilhaben. In Kürze geht es wieder um Raureif und Eis.
Der kleine schielende Kater (Schiagli) scheint verstorben zu sein. Über vier Wochen hat ihn niemand gesehen. Er war eine der verwilderten Katzen der Umgebung, die zwei Mal täglich an der Futterstation von der Catlady des Dorfes versorgt werden. Schiagli wurde von vielen Bewohnern des Viertels geliebt, hat sich aber auf niemanden eingelassen. Er schlief oft in der Sonne mit dem Gesicht zur Hauswand oder im Schafstall beim Hof gegenüber. Er war befreundet mit anderen Katzen, die immer an seiner Seite waren und hat sich so gut wie nicht bewegt. Als ich einmal mit meinem gebrochenen Fuß an Schiagli vorbei gehumpelt bin, hat er mich lange und eindringlich angeschaut.
Samstagnacht liege ich nach dem Tanzen mit Stella auf einer Decke und fühle den Herbst durch mich durchziehen. Es ist nicht so schlimm, wie es schon mal war. Es hilft, die heranrollende Kälte mit anderen gleichzeitig zu erleben. Es hilft, Kürbisse zu essen, deren Farbe ich nicht mag, und Maronen zu rösten, deren Farbe ich sehr liebe. Morgen gehe ich zu dem kleinen Fest einer Freundin, das sie jährlich ausrichtet, um mit uns an einem Tisch zu sitzen, der Erde zu danken, dem Wachstum, der Freundschaft.
Mehr passiert nicht. Es ist November und weiterhin neblig.
In den Tagen der Ankommens treffe ich eine Freundin in dem Séparée eines Lokals, das ich früher aus nachbarschaftlichen Gründen häufig aufsuchte. Während die Freundin den Kaffee am Tresen holt fällt mir ihr am Stuhl hängender Mantel ins Auge - die Strahlkraft eines tiefen satten Schwarz - und überhaupt am Rücken von Menschen aufliegende Textilien - die stoffliche Umarmung, der Halt, den sie spenden können, eine gewebte Umarmung der Rückseite des Körpers, wo wir uns selbst so schlecht erreichen.
Viel Oktoberlicht in dieser Woche. Horizontal ins Gesicht scheinende Sonne, Abendspaziergänge im Pullover und an die warme Hauswand gedrückte Momente bevor es dunkel wird. Die Hirsche röhren aus dem Wald, es ist jetzt sehr dringlich, die Paarungswilligkeit auf dem Höhepunkt. Jedes Mal halte ich es erst für den Schrei einer Kuh, doch dann wird klar: so schreit keine Kuh.
Zwei Wochen zuvor - ich war mit ein paar der regelmäßig Tanzenden noch in eine Bar gegangen und fühlte für einen Moment die Beklemmung, von einem vorwiegend körperlichen Austausch in einen vorwiegend verbalen Austausch wechseln zu müssen, als der in Großbritannien aufgewachsene Daytrader in bester englischer Manier so konsequent unterhaltsamen Smalltalk anbot, bis ich langsam in die Gänge kam und schließlich eine vernünftiges Gespräch führen konnte. Danke England. This you taught your people.
Brenner. Die verlässliche Dynamik zwischen vier in einem Auto sitzenden Menschen. Drei schlafen, einer fährt. Aufgrund äußerer Umstände (Tanken, Mautstation…) gemeinsam wach werden, nach den Keksen greifen und eine der vor dem Einschlafen geführten Unterhaltungen weiterführen – welche Jobs hätten wir in diesem Land, wie würden wir wohnen, wo einen Samstagabend verbringen, auf welche Art gegenüber was abstumpfen?
Weinberge ziehen vorbei, die Flussebenen, Industrie und Höfe. Die Bäume werden klein und knorrig, das Gras hellbraun. Am Nachmittag sind wir da.
Es ist die eine Woche im Jahr, in der ich lebe wie in einem tschechowschen Theaterstück. Aufwache in einem Landhaus, den weitläufigen Garten betrete, hinüber gehe zu der Gruppe Menschen, die in noch etwas fröstelnder Morgenhaltung Tee trinkt, auf die Sonne wartet, und wenn sie rauskommt, den ganzen Tag ihren Strahlen folgt, von einer Laube und Terrasse auf die nächste. Später wird jemand kochen. Später wird jemand etwas vorlesen. Später wird Wäsche gewaschen und auf die Leine gehängt.
Eine Madonnenstatue soll es hier geben, aus weißem Marmor, dem hier abgebauten Marmor. Eventuell führt der Weg dorthin direkt an unserem Haus vorbei. Es wird lange überlegt, ob man sich bequemen will. Eine Person sieht in Karten nach, die andere schätzt Distanz und Abkürzung durch die Olivenhaine. Wir können doch nicht, kaum hier, schon wieder wandern? Ich bin sehr unentschlossen und schaue zum Meer. Eventuell gehe ich mit. Falls ich es tue, werde ich die Madonna auf den Mund küssen.
Das ist auch eine neue Erfahrung; ständig den in diesem Haus, in dieser Gegend überall verbauten Marmor unter den Händen zu haben. Spülbecken, Tischplatten, Vogeltränken, Fenstersimse, Anrichten, Badezimmerfliesen; alles aus dem weißen ewigen Stein. Ich kann daran eine sensorische Brücke schlagen, zurück fassen bis ins 16. Jahrhundert, ich glaube zu wissen, was sie gefühlt haben, die Menschen auf diesen Hainen, dass sie wirklich hier waren und ihre Fingerkuppen auf den Dingen lagen.
Am andern Tag brechen wir auf zu der kleinen Stadt am Wasser. Dort ein angenehm langsames Fußgängertempo. Es drosselt einen herrlich runter von der Raserei, in der man sich manchmal bewegt. Wir gehen zu fünft in den verwinkelten Supermarkt, bestellen salziges Gebäck an der Theke und betreiben brüchige, scheue, höfliche Konversation mit diesen ungehetzten Leuten, die es einem so leicht machen. Geparkt haben wir vor einem Altstadtgebäude, das sich als Einrichtung für geistig nicht gesunde Menschen herausstellt. Aus den Fenstern lehnen Bewohner, winken und rufen Sätze, die vielleicht uns gelten oder jemand anderem oder allen.
Am Strand in der Septembersonne liegen die einheimischen Paare in ihrer eingespielten, sandigen Zärtlichkeit, lassen ihre Hunde von uns streicheln und schauen freundlich solidarisch, als wir uns in der Nähe niederlassen. Wir backen eine Weile fest auf dem weichen Untergrund und blinzeln in die Sonne. Die ersten Schritte, die ich seit der Fraktur barfuß draußen gehe, finden hier statt, auf den zwanzig Metern zwischen Handtuch und Welle.
Abends bleiben wir beim Rotwein sitzen und drücken uns vor dem Schlafengehen, denn die Betten sind ein wenig wacklig und das Bettzeug nicht richtig und die Matratzen erst recht nicht, wie es manchmal so ist. Einmal muss kollektiv eine halbe Stunde über den mangelnden Schlafkomfort gejammert werden (der so einfach herzustellen wäre! wo doch das restliche Haus so toll ist! was ist denn daran so schwer zu verstehen!) - anschließend fügt es sich leichter in diese seltsamen Laken und unbezogenen Überdecken. Es ist wirklich eines der sehr spürbaren Probleme des Lebens mit Vierzig plus. Nicht mehr überall schlafen zu können.
Am anderen Morgen, die Sonne geht auf, die Freunde sitzen im Olivenhain und schauen aufs Meer. Alle wieder ganz froh und friedlich, einer der Männer trägt auf dem Tablett den zweiten Kaffee heran und reicht die Tassen in die Runde. Wir sprechen über Napoleon und Verfilmungen und Bücher und ahmen Charaktere nach und hangeln uns durch halb vergessene Liedtexte. Eine Freundin streift im roten Kleid ums Haus und sammelt etwas, ich mache am Rand des Grundstücks Qi Gong und bekomme dafür von einer vorbeiwandernden älteren Dame einen Daumen hoch. Dann ist es Abend, wir kneten Gnocchiteig, das Wasser sprudelt, Salbeibutter bruzelt auf dem Gasherd. Im zweiten Stock des Hauses findet sich eine Küchenwaage aus den Siebziger Jahren, die zu dem Zweck herbei getragen und eingesetzt wird.
Die Tage vergehen. Manchmal stehe ich allein im Garten und denke nichts und bin nichts als ein Gewächs unter anderen Gewächsen. Einmal deklamiere ich ein Gedicht den Hügel hinunter.
Am letzten Tag vor der Abfahrt gehen wir in die Pasticceria, trinken Kaffee und frühstücken süß. Von der Barista, einer Muttergestalt von überfließender Herzlichkeit, wird jede Hereinkommende mit großer Geste und guten Worten empfangen. Am Tisch beugen wir uns zu viert über das regionale Käseblatt und setzen uns mit vereinten Sprachkenntnissen über die Vorkommnisse des Umlands ins Bild: eine explodierte Gasheizung in einem Einfamilienhaus, Eröffnung der Wildschweinjagd, Fußball, Statistik zu Verkehrstoten, die Gewinnerin des Schönheitswettbewerbs heißt Ofelia und betrachtet ihren Titel als „Chance, um ihrer Passion nachzgehen“ (Welcher? Wird nicht erwähnt). Wir trinken aus und verabschieden uns von der Frau hinter der Theke, die uns mit beiden Händen winkt. Wie ein Kind. Als ich im Auto sitze muss ich deswegen fast weinen.
Auf dem Rückweg übernachten wir in einem Dorf, hoch gelegen, neblig, altes Gemäuer, gut hergerichtet und spazieren am nächsten Morgen noch über die eine Kreuzung mit Metzgerei, Bar und Kirche. In der Mitte des Dorfplatzes findet sich etwas, das ich für Reste einer Viehtränke halte. Zwei Wochen später, wieder zurück in Deutschland, beim Durchblättern alter Stadtbilder erkenne ich, dass es sich dabei um eine öffentliche Waschküche handelte.
Washerwomen von Charles Frederic Ulrich via Wikiart
Einen Nachmittag lang verbringe ich bei 30 Grad unter einem roten Sonnenschirm. Ich trinke Earl Grey in kleinen Schlucken, die Freunde Kaffee oder kaltes Wasser. Über den Feldern flimmert die Hitze, das bei der Heuernte vom Wagen herunter gefallene Gras trocknet auf den Kieswegen weiter. Wir schauen zwischen den Bergflanken in die Weite und erzählen uns die Ereignisse der letzten Wochen. Auf dem Tisch steht Zucchinikuchen mit Limettenguss. Ich bin lange nicht mehr im Schatten eines solchen Schirms gesessen, wie ein Schlumpf unter dem Fliegenpilz.
In der Institution schnalzen innerhalb von fünf Tagen alle Projekte, die ich mühsam in Reihenfolge gebracht hatte, gleichzeitig zurück. Kaum ist das Gröbste durch, kommen Leute mit neuen Ideen = Mehrarbeit auf mich zu. Ich ertappe mich dabei, wie ich zu allem Nein sage, Zeug wegdelegiere und andere für zuständig erkläre. Das funktioniert erstaunlich gut. Habe ich es final doch noch gelernt.
Samstagabend gehe ich in die Halle im Park, um den anderen zuzuschauen. Vor der Tür steht der syrische Freund, ich erwähne bei der Begrüßung meinen noch nicht wieder heilen Knochen und dass ich brav auf dem Boden sitzen werde. Ich muss es nicht allen erzählen, aber denjenigen, die einen gern bei der Hand nehmen und mitziehen im Eifer der Freude. Drinnen läuft der Techniker herum, Stella ist nicht da. Die Musik beginnt mit einer Art Alphawellen-Sound, der recht steil in Elektro übergeht. Ich merke den Leuten ihre ausgeruhten Gliedmaße und die Sommerpause an, sie werfen sich ohne viel Vorlauf in den Ring. Es entsteht ein Sog, in dem die Einzelnen aufgenommen und vermengt werden, bevor es die Tanzenden wieder an den Rand auf ihre eigene Bahn drückt. Heute ist es abgedunkelter als sonst, aber ich sehe ein paar Vertraute.
Den Vater, der sich trennte, nachdem er Jahre lang für die Kinder in einer furchtbaren Partnerschaft ausgeharrt hat. Der heute mit entspannten Schultern in der Mitte des Raums steht und entdeckt, dass es Frauen gibt, die keinen Schuldigen suchen.
Die ca. Zwanzigjährige mit dem instagramtauglich glänzenden Gesicht zwischen gezeichneter wirkendenen Gleichaltrigen, die vielleicht weniger fotogene Dinge erleben und fühlen.
Die ältere Frau mit den Knopfaugen, die in den Neunzigern einem Guide in das Hinterland eines afrikanischen Landes folgte, um dort eine Woche dem Orakel (der Dorfzauberin) gegenüber zu sitzen, in der Hoffnung, ihr würde die Teilnahme an einer der gemeinschaftlichen Zeremonien gestattet werden. Was das Orakel schließlich gestattete. Woraufhin die Frau mit den Knopfaugen eine Nacht im Kreis der Trommeln tanzte und nicht aufhörte ehe die Stammesangehörigen schlafen gingen. Sie trägt heute orthopädische Einlagen in den Schuhen, wackelt mit dem Po, schont ihre Knie und hat weiterhin gute Laune.
Auf dem Boden bilden sich unterdessen Pfützen, die Haare der Leute tropfen, die Ventilatoren bewirken nichts, das Parkett glitscht. Alle hier haben ihre Angelegenheiten und werden in der Minute des Verlassens der Halle Handys aus den Taschen ziehen, auf Displays schauen, mitten drin sein in Bewertung, Verantwortung, Verwirrung und dem Versuch, etwas zu steuern. Aber nicht jetzt. Jetzt sind sie hier. Jetzt überlassen sie sich. Jetzt retten sie ihre Seele.
In this here place, we flesh. [Toni Morrison]
Am Mittwoch schaue ich ein gebrauchtes Elektroauto an. Der Verkäufer ist auskunftsfreudig, aber ich habe den Eindruck, er verberge etwas. Bei der Probefahrt halte ich auf einem einsamen Schotterweg, steige aus, lege mich auf die Straße und robbe mit dem Kopf so weit ich kann unter das Auto. Der Boden ist sehr verrostet. Bremsbacken und andere Teile, die ich nicht benennen kann, auch. Ich fahre das Auto zurück und verabschiede mich.
Im Garten passiert etwas Seltsames. Nachdem drei Jahre die Schnecken, Blattfäule, Baumfäule, der steinige Boden, kalte Nächte, Stürme und meine Unerfahrenheit Wachstum verhindert haben, wachsen die Pflanzen. Nicht jeder Strauch und jede Blume, aber manche. Es entsteht ein Zusammenhang, vielleicht sogar Momentum. Eine Ahnung davon, wie aus diesem dreieckigen Restgrundstück in weiteren Jahren ein Ort werden könnte, in dem jemand in der Hängematte liegt.
In dem anderen Beruf probiere ich einen Nachmittag lang mit Kolleg*innen Übungen aus und bin froh mit ihnen ein Experimentierfeld und einen Spielplatz zu haben, auf dem ich testen kann, was ich mir ausdenke. Am Ende komme ich mit zweiundhalb anwendbaren Interaktionsvorschlägen aus der Sache raus. Ich bin so glücklich über diesen Spielplatz, dass ich bis nachts um 3 nicht einschlafen kann. Es ist die Zu-viel-Glück-Schlaflosigkeit.
Die Milane kreisen über den Häusern und stoßen feine helle Schreie aus. Morgens steigt Nebel über dem Moor auf, in dem die jungen Birken am Straßenrand verschwinden. Am Schienennetz wird etwas erneuert, ich verbringe einiges an Zeit in Bussen, die an Maisfeldern vorbei zur nächst größeren Bahnstation wackeln. Ich kann morgens um Sechs nicht denken und bin eigentlich nicht mal richtig da, aber ich spüre meine Hände im Schoß liegen und wie ich aufbewahrt bin in diesem Leben, zwischen diesen Menschen, in dieser Behausung.
Love your hands! Raise them up and kiss them. Touch others with them, pat them together, stroke them on your face.
Love your mouth… This is flesh… Flesh that needs to be loved. Feet that need to rest and to dance; backs that need support; shoulders that need arms, strong arms.
Love your neck; put a hand on it, grace it, stroke it and hold it up.
And all your inside parts… you got to love them. The dark, dark liver - love it, love it, and the beat and beating heart, love that too. More than eyes or feet, more than lungs, more than your life-holding womb and your life-giving private parts, love your heart. For this is the prize. [Toni Morrison]
Diese Satzfragmente gehören zu einem längeren Abschnitt aus Toni Morrisons “Beloved”, der Geschichte einer ehemaligen Sklavin, die von der erlittenen Brutalität und Grausamkeit heimgesucht wird. Die in dem Text beschriebene Hinwendung zum Körper ist keineswegs eine Art Luxus-Selfcare, die sich jemand gönnt, der bereits alles mögliche erreicht hat. Sie ist nicht die Sahnehaube auf einem privilegierten und abgesicherten Leben, sondern eine Antwort auf Schmerz und Gewalt in unaushaltbaren Zuständen.
Auf Toni Morrison Worte bin ich aufmerksam geworden über Maria Popovas Blog
An einem schwülen Freitagnachmittag finde ich mich auf dem Sofa ruhend, während eine Freundin Avocado, Koriander und Karottenstreifen zu Sommerrollen wickelt, Sesam einstreut, gebratenes Ei, das Reispapier unter ihren Händen faltet und legt.
Regen war angekündigt, er kommt aber nicht, wir sitzen mit einem kleinen Pulk Freunden in der Wohnung, verspeisen drei Gänge verschiedenster Herrlichkeiten, kleckern mit dem sofort schmelzenden Eis, durch die geöffneten Fenster dringt kein Luftzug. Stehende, unbewegte Wärme, ein rares Phänomen so nah an den Bergen, der dicke unentschlossene Horizont über uns harrt aus. In der Dämmerung später stehen drei der Freunde auf dem Balkon an das Holz gelehnt, mit ihren nackten Füßen sich die Waden kratzend, Stand- und Spielbein wechselnd, verschollen in einer Unterhaltung, der ich akustisch nicht folgen kann - der Bewegung ihrer Lippen aber; so tagesmüde und vertraut.
Am Samstag schließlich kommt der Regen, kurz bevor es dunkel wird, gerade hernieder prasselnd, ohne Wind und Dynamik, in vertikalen Linien von oben nach unten, ich bin das nicht mehr gewohnt nach den vielen Stürmen in diesem Jahr.
Augustmond. Gegen 1 Uhr nachts werde ich wach und bin irritiert über die Helligkeit im Zimmer. Dann sehe ich den weißen Himmelskörper. Seine milchig gelbe Aura bescheint die umliegenden Wolken, die verwaschen blau in unmittelbarer Nähe und blassrosa in weiterer Distanz zu ihm leuchten. Mondhof wird dieser Ring genannt. Er entsteht durch die Beugung des Lichts an den Wassertropfen der Wolken. Der Mond wirkt groß, die dunklen Tiefebenen der Krater klar abgegrenzt von den höheren Flächen.
Ich wünschte, er wäre anfassbar und ich könnte meine Hand auf seine vernarbte Haut legen. Aber auch die Astronauten haben ihn nicht direkt, ohne Handschuhe, berührt. Es gab keinen textilfreien Kontakt zwischen den Menschen und ihm.
Nils Frahm: The whole universe wants to be touched
Wegen der geringeren Schwerkraft wiegen wir auf dem Mond nur 1/6 unseres irdischen Eigengewichts. Das wären in meinem Fall etwa 9 kg. Wir können auch sechs mal höher springen.
Dafür laufen wir sechs mal langsamer.
Langsam laufen. Etwas daran ist so faszinierend. Zum aus der Haut fahren. Und parallel zum wirklich drin sein, in der Haut und in den Gefühlen.
Am Tag darauf höre ich beim Nachhausekommen kurz vor Mitternacht eines der Schafe vom Hof an der Kreuzung blöken. Das ist nicht ungewöhnlich, nur scheint das Mähen etwas jünger und dringender als sonst. Gegen 5 Uhr werde ich wach, weil das Blöken jetzt sehr nah ist, als stünde das Schaf direkt vor der Tür. Nach einer Weile entfernt es sich wieder und ich schlafe ein. Am anderen Vormittag sehe ich es dann. Es ist ein noch junges, braunes Schaf, das allein durch die Gärten der Nachbarschaft irrt und konstant ruft und offensichtlich seine Herde sucht. Wahrscheinlich ist es gestern aus dem Hof ausgebüxt und hat sich auf dem Rückweg verlaufen. Verschiedene Nachbarn sind im Einsatz, um es einzukreisen, der Hofbesitzer ist auch dabei. Es ist nicht leicht, ein verstörtes Tier zu fangen, aber es gelingt und das Schaf wird auf dem Arm zur Herde zurück getragen.
Was mich noch beschäftigt: Das Schaf irrte in sichtbarer Entfernung zum Hof herum. Ich würde sagen, 50 Meter Luftlinie zwischen Schaf und Scheune, in der die Herde nachts steht. Dennoch hat es nicht zurück gefunden. Sind Schafe ohne ihre Sippe wirklich so schnell überfordert? Oder handelte es sich bei diesem Schaf um ein besonders desorientiertes? Ist das Schaf krank? Gehts dem Muttertier nicht gut? Warum hat der Rest der Herde nicht laut zurück geblökt, um das Schaf in die Scheune zu lotsen?
Die Ärztin sagt, ich darf frühestens in zwei bis vier Wochen mit dem Tanzen anfangen; ich soll es langsam und behutsam tun, viele Pausen einlegen, nicht in die Vollbelastung gehen, keine Sprünge, keine Verdrehungen und erst ab Oktober mit physiotherapeutischer Unterstützung in das reguläre Training einsteigen, falls keine Schmerzen auftauchen.
Während ich mental zu allem Ja sage und es absolut vernünftig finde, so vorzugehen, muss ich emotional ziemlich schlucken. Bis in den Winter all der Bewegung in mir nicht ungehindert nachgeben zu können, setzt mir ganz schön zu. Es konfrontiert mich noch mal mit der hartnäckigen Vorstellung, ich müsste auf eine bestimmte Art und Weise leben, tanzen, um mich dabei gut zu fühlen. Eigentlich weiß ich aus Erfahrung, dass dem nicht so ist.
Im Gegenteil, verhindert gerade die Vorstellung, wie etwas abzulaufen hat, den Genuss. Ich erinnere mich, unzählige Male im Sitzen getanzt zu haben, auf dem Boden liegend oder nur mit dem Nacken, nur mit den Fingern. Der Endorphinschauer setzt fast immer ein. Wenn ich nicht mehr will, als ich kann.
Ich kann es aber auch nicht beschönigen; mein Radius ist eingeschränkt und wird es vorläufig bleiben. Ich verliere etwas, jeden Tag. Dieser Kontrollverlust zieht Kreise. Er nagt sich durch meine Bilder, meine Lust, meine Kompetenzen und mein Sicherungssystem. Daneben gibt es Momente, in denen ich ahne, wie ich auf der anderen Seite dieser Angelegenheit, dieser Affäre, herauskommen könnte, wenn ich es schaffe, sie zu einer Liebesaffäre mit mir zu machen. Ich könnte weich sein, eine Wasserpflanze, Nixe, mitschwimmen, mit dem Strom, ich könnte dem Leben gehören, anstatt das Leben mir.
Im Meer ist dein Weg,
deine Pfade sind in großen Wassern.
[Psalmen]
Success has nothing to teach you spiritually after age thirty. It just feels good. Everything you learn at my age is by failure, humiliation, and suffering; things falling apart.
[Richard Rohr]
And by love, dear Richard, you learn by love, möchte ich hinzufügen. Aber das weiß und sagt er selber, an anderer Stelle, tausendfach.
Ach Richard, ich mag dich so, du alter bald sterbender Mann.
Das ist ein Stretching, das mir gefällt und das ich mittlerweile sogar aushalte: Dafür zu arbeiten, damit andere Menschen und ich sicher sind, handeln können, zugreifen, spielen und in Beziehung treten. Und gleichzeitig genau das immer wieder zu verlieren.
Auch die Illusion zu verlieren, etwas Lebendiges benutzen, verzwecken zu können.
Ein warmer windiger Abend, die Fenster offen, die Luft fährt in die Vorhänge, hebt sie zur Mitte des Raums, wo die Lampe schwankt. Ein guter Tag um Kimono zu tragen, ich möchte eine Zigarette rauchen, lasse es aber wegen dem gebrochenen Knochen. Stattdessen denke ich an die schönen Menschen gestern, aufgereiht vor der Lorettabar in gelben Metallstühlen, unverletzte Sommerkörper, an denen ich vorbei hinkte, in die Bar hinein; eine Performance der Langsamkeit.
Ich befinde mich in Woche 4 nach dem Bruch, ich zähle die Tage, ich bin stillgelegt und ausgebremst, es ist gut und es ist schlecht, es wechselt ab. Nachts sehe ich die Mondsichel aufgehen, höre den Grillen zu, rieche an Blumensträußen, die ich pflücke, langsam, sehr langsam, wie die Frau, die ich in vierzig Jahren sein werde mit langen weißen Haaren und Zeit an den Händen.
Ich arbeite, aber ich arbeite weniger praktisch als sonst und dieser Umstand gepaart mit all den Vorhaben, denen ich aktuell nicht nachgehen kann, lässt mich mit einer Menge an Zeit zurück, die selbst für mich fordernd ist. Ich bin in einer Zeitkapsel. Ich sitze in der Kapsel und tue nichts. Manchmal mache ich Liegestütze oder Sit-ups. Dann wieder nichts.
Ich erinnere mich, vor etwa zwei Jahren einen Sommer lang am Fluss gelegen und ebenfalls untätig gewesen zu sein. Gebrütet zu haben über dem, was kommen würde, was sich anbahnte, abzeichnete, eine Generalüberholung, die ich intellektuell nicht erfassen konnte, die aber anstand.
Und meine Hände, welche blutig sind vom Graben,
heb ich offen in den Wind, so dass sie sich verzweigen wie ein Baum.
Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum,
als hättest du dich einmal dort zerschellt in einer ungeduldigen Gebärde.
[Rilke]
Vielleicht sollte ich mich daran gewöhnen. Es einplanen - das große Nichts - damit rechnen. Alle zwei Jahre für einige Wochen ausgeschaltet zu sein. Vielleicht könnte ich damit vermeiden, immer wieder völlig überrascht in einer Zeitkapsel zu landen und tagelang damit zu hadern, dass es so gekommen ist? Wie wäre es, acht Wochen pro Jahr im Kalender für das große Nichts zu blocken, vorsorglich? Dick mit Edding alles durchstreichen, was dort geplant war oder die Seiten gleich ganz raus reißen. Und in den acht Wochen dann keinen Urlaub machen und nichts lernen und nichts vorhaben.
Die zwei Fuchsjungen am Waldrand sind jetzt fast erwachsen, mittelgroß. Eine Weile waren sie immer mit einem Wiesel zu sehen, verspielt und tollpatschig, immer im Dreierpack, die zwei kleinen Füchse und das Wiesel. Das geht jetzt wohl nicht mehr, die Freundschaft scheint vorbei. Ob das Wiesel mittlerweile als Beute in Frage kommt? Ich kenne keine Försterin oder Naturpädagogin, die mir das erklären könnte.
Ich will zurück in meine Normalität. Ich will tanzen, wandern, Probleme lösen, Kisten tragen, ins Zwerchfell atmen, mit gesundem Sommerkörper auf gelben Stühlen vor der Lorettabar sitzen und gescheid daher reden. Ich will aber auch diese lästige Kontrolle aufgeben, mit der ich das Leben so unnötig festhalte und es zu steuern versuche.
…und meine Hände hielten dich nicht so, wie sie dich manchmal halten, bang und hart…
[Rilke]
Ich bin weitergezogen zur amerikanischen Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. The age of innocence. The house of mirth. Ich mag die Protagonist*innen in Edith Whartons Romanen. Sie haben ständig Geldsorgen, müssen sich verbiegen, sind gebunden in Beziehungen und Sachzwängen, winden sich heraus, erleben einen kometenhaften Aufstieg und fallen zurück auf sich selbst. Dazwischen Momente von Freundschaft, eine Stunde am Feuer, eine Nacht auf dem Berg, in der sie alles verstehen, alles können, ein Neuanfang möglich ist, der aber aus Bequemlichkeit verschoben und aus Ängstlichkeit hinausgezögert wird, bis er nie stattfindet.
Dann ist es Montag und in der Institution steht eine kurzfristige finanzielle Umstrukturierung an, mit der ich viel zu tun haben werde.
Jeden Abend schaue ich zu den Spinnweben an der Decke und würde sie gern beseitigen, aber dazu werde ich noch eine ganze Weile nicht in der Lage sein. Den Versuch, im Garten ein paar welke Blätter wegzuschneiden, musste ich abbrechen, einen Zucchinikuchen zu backen ist eine Tagesaufgabe. Wie kann ein Knochen von der Größe einer Haselnuss ein solches Ausmaß an Behinderung in mein Leben bringen?
Ich trage jetzt jeden Tag meinen braunen Haus-Kimono. Der eigentlich ein Haori ist – ein hüftlanger jackenähnlicher Kimono, der ursprünglich Männern vorbehalten war bis die Mode sich änderte. Das heißt, bis Menschen die Mode änderten. Der Haus-Kimono hilft mir, meine Situation zu akzeptieren. Ja, dazu ist Kleidung in der Lage. Allein die Anwesenheit des braunen Stoffs, wie er über dem Stuhl hängt. Er erinnert in Form und Farbe an Yodas Mantel. Und ich denke sehr gern an Yoda. Sehr gern.
“On many long journeys have I gone. And waited, too, for others to return from journeys of their own. Some return; some are broken; some come back so different only their names remain.”
An einen Donnerstagnachmittag sitze ich auf einem Balkon in den Bergen und schaue zum Karwendel. So lange war ich nicht mehr hier. Die Wäsche jeden Tag draußen trocknen. An ihr riechen, wie am Kelch einer Blume. Die ganze Umgebung geht in die Wäsche ein: Heu, Sonne, Kühe, Holz, Staub und Hibiskus.
Ich schreite jetzt langsam durch mich hindurch. Auch meine Gefühle werden langsam, synchron zum Gehen in Zeitlupe. Die Verletzung am Fuß, dieser kleine gebrochene Knochen; so viel Kontrolle und Schnelligkeit hing daran. Ohne mein Wissen.
Es hat etwas von Würde, dieses getragene Gehen/Hinken. Überraschenderweise. Ich fühle mich wichtig, sogar groß, während ich langsam den Raum durchquere, ihn durchmesse als würde ich eine Planetenreise unternehmen. Vielleicht ist das sogar mein eigentliches Tempo? Ein Tempo, bei dem mein Becken und Herz und alles mitkommt?
Braucht es da noch das Zitieren von Moshé Feldenkrais, Mabel Elsworth Todd und all den vorherigen und folgenden Meisterinnen der Körperlehre? Wir sind unsere Bewegung. Was wir spüren und fühlen, wird unser Bild vom Ich.
Und daneben, darunter und dazwischen die andere Seite der Medaille. Das ist nur durchblutete Materie. Kurz bewohne ich sie. Kurz bewegt sie mich.
Beim Zen lade ich regelmäßig das Nichts ein. Nichtwissen, Nichtwollen, Nichtmehrauskennen in sich selbst. Die Lücke. Der unbeschriebene Raum.
Und dann wieder Jesus. Ihm gegenüber sitzen. In seine Liebe fallen, wie in einen Brunnen. Kopflos, bodenlos.
Wie viel Religion, Tradition und Experimentieren kann ich unterbringen in einem Leben? Ich sammel und höre nicht auf zu sammeln. Nicht nur Berufe, die ich hinter mir herziehe. Sinnlich und übersinnlich den Hals nicht vollkriegen. Es sickert ein, dass das mein Reichtum ist.
Bei einem Cateringjob vor zwanzig Jahren, für einen, den einen, Eliteveranstalter von Celebrity-Events, beim letzten Briefing vor dem dreitägigen Geburtstagsfest eines Adligen, nahm uns der Chef des Servicteams beiseite. Er schob ein Flipchart in die Mitte des Raums und schrieb unsere Namen darauf. Rund 40 an der Zahl. Hinter jedem Namen etwas Platz. Er sprach eine halbe Stunde von Träumen, Zielen und Motivation. Dann mussten wir einzeln vorgehen und auf den freien Platz hinter unserem Namen notieren, was wir mit all dem Geld (Hohn) tun würden, das uns winkte, wenn wir weiterhin 16 Stunden-Tage für den Eliteveranstalter kellnern würden. Was sozusagen unser life goal ist, wollte er wissen. Manche gingen vor und schrieben: Reisen. Andere: Luxuskarre. Wieder andere: Abfeiern. Ich ging vor und malte ein Fragezeichen hinter meinen Namen. Genau das hab ich bekommen.
Pünktlich gezahlt hat der Eliteveranstalter übrigens nie. Einmal musste ich drei Monate auf meinen Lohn warten und mit dem Anwalt drohen. Da war ich Anfang Zwanzig und wohnte in einer WG.
Weiterhin in der Woche jeden Tag zwei Gewitter. Die Hagebutte, nach dem Sturm im letzten Jahr mit Spanngurten und Stöcken stabilisiert, kracht wieder um. Diesmal final: Wurzel raus, aufgeworfene Erdbrocken, das gesamte Stamm- und Astwerk am Boden. Es wird eine Motorsäge aus dem Keller geholt und die Hagebutte verabschiedet. An der Leerstelle Flieder gepflanzt.
An dem einen heißen Wochenende im Juli nach einem Seminar mit Kolleg*innen auf dem gepflasterten Innenhof eines Werkgebäudes gesessen, zwischen den Scherben und Kippen. Wir wären gern komfortabler gesessen, aber Stadt und Stunde gaben es nicht her. Musik aus dem Handy gehört, mitgesungen, dabei zugeschaut, wie sich zwei Menschen verlieben. Wenn doch immer Sommer wär.
Ansonsten: wie es eine große, sehr heterogene Gruppe zusammenhält, fördert und voran bringt, begabte Lehrer*innen zu haben.
Und der klaffende Unterschied zu solchen Lehrenden, denen der Job nicht liegt. Die in was anderem gut sind, aber dennoch lehren wollen. Warum? Wenn Geld keine Rolle spielt und andere Optionen zu Hauf vorhanden?
Dieser kleine gebrochene Knochen verunsichert mich nachhaltig. Was heißt das für die Zukunft? Soll ich nur noch vorsichtig tanzen? Die Ärztin sagt, es handele sich um eine typische Tanzfraktur, alles wird gut, keine Schäden, keine Schmerzen. Ich glaube ihr und spüre zeitgleich den Moment, als plötzlich eine Lücke war, wo sonst harte Verlässlichkeit saß.
Manchmal mach ich mir Sorgen, dass ich Sachen herbeimeditiere.
An denen ich auch ignorant vorbei leben hätte können.
Aber das ist ein falsch abgebogener Gedanke. Niemand hat irgendwas in der Hand. Und: alle haben etwas in der Hand.
Ein Kind kommt zu Besuch. Ich google Kinderrezepte. 90% der Ergebnisse sind eine Form von Pizza. Ich mache Pizzastangen aus Fertigblätterteig. Das Kind ist skeptisch aber isst.
Hands are unbearably beautiful. They hold on to things. They let things go. [Mary Ruefle]
Nachdem ich eine Woche ständig bei Ärzten saß, Termine der nächsten zwei Monate umdisponierte, Nachrichten an indirekt Betroffene meiner Einschränkung schrieb und entsprechend meiner Möglichkeiten an einem Seminar teilnahm, ist jetzt erstmal nichts. Arbeiten am Schreibtisch (davon leider viel). Finanzamtsachen, auch viel. So geht es raus aus dem Juli und rein in den August.
Der iranische Freund der Freundin wird nun, nach zwei Jahren in der Asylbewerberunterkunft, einer verhinderten Abschiebung und endlosem zähen Ringen mitsamt eingeschalteter und privat gezahlter Anwältin vorerst in Deutschland bleiben dürfen und voraussichtlich eine Ausbildung beginnen. Ich will an der Stelle noch mal erwähnen, dass der Mann aufgrund der Teilnahme an politischen Demonstrationen im Iran akut gefährdet ist, daneben ein abgeschlossenes Studium, Berufserfahrung in Deutschland und Sprachkenntnisse auf C1 Niveau hat. Dass Unternehmen immer wieder bei den zuständigen Instanzen angefragt haben: Was müssen wir tun, damit er bleiben kann?
Menschen, die Anrecht auf Schutz, aber keine Freunde haben, die das Stundenäquivalent eines Teilzeitjobs investieren, um ihr Bleiberecht durchzusetzen, haben in diesem System keine guten Karten.
Anfang der Woche wippt der lila Sommerflieder schwer an den grünen Zweigen, ich schneide ein paar davon in die Vase, wo er seinen dunklen süßen Duft verströmt, auch nachts, wenn ich kurz wach werde. Es wird warm, es ist schwül, in der Institution stehen die Fenster auf Durchzug, die Jalousien sind runter gelassen, in den Besprechungen wird gefächert, alle verfügbaren Ventilatoren wurden aus dem Schrank gezerrt und befinden sich im Einsatz. Die Hitze, die Abwesenheit von frischer Luft, ein großes Thema hier in der Abteilung. Ein Thema, das fast zu Streitigkeiten führt, falls jemand vergessen sollte, rechtzeitig (!) zu verdunkeln. Was viel heißt in diesem Reich der Besonnenheit, wo so gut wie nie jemand eskaliert und allen ein lösungsorientiertes Miteinander wichtig ist. Auch mich macht die Wärme müde, ich kann die Müdigkeit aber irgendwie annehmen.
Kurz vor Feierabend eine so oder ähnlich in vermutlich jedem Bürokomplex dieser Welt täglich durchgespielte Performance: PC runterfahren, einpacken, verabschieden, Tasse in die Küche stellen, gehen, kurz darauf wiederkommen und auf das verwunderte Aufschauen der Kolleg*innen antworten mit:
Jacke vergessen.
Schirm.
Laptop da gelassen.
Handy.
Schlüssel!
Triumph, wenn es einem aufgefallen ist, ehe man das Gebäude verlassen hat, Anerkennungssieg, vor dem Einsteigen in die U-Bahn, Niederlage, wenn schon zu Hause gewesen.
An einem losen und sonnigen Freitag sitze ich mit zwei Freundinnen an einem Tischchen auf der Donnersbergerstraße, trinke Kaffee, freue mich am Zusammensein und wittere so vor mich hin. Ich hab jetzt eine neue Falte auf der Stirn, die nicht mehr weg geht. Auch nicht, wenn ich entspanne, auch nicht mit Massagen. Älter werden in guter Gesellschaft an einem Freitag bei 26 Grad. Was will man mehr. Später schlendere ich durch das ehemalige Zuhause-Viertel. Fast zwanzig Jahre hab ich hier gewohnt. WG, erste Wohnung, zweite Wohnung, immer Altbau, immer mittendrin, Frühling, Sommer, Herbst, Winter zwischen diesen Häuserzügen. Die noch bezahlbaren Genossenschaftsblöcke in Nachbarschaft zu den nicht zerbombten Villen, Hortensien in Gärten hinter schmiedeeisernen Toren, Hubschrauber, Sirenen, der irre Verkehr, die ruhige Ateliersiedlung, Außengastronomie in allen Preisklassen und Lautstärken, der Melonenmann und in der Nacht rot glühende Neonbuchstaben auf dem Dach des Krankenhauses: Schwesternschule.
Schwestern, Brüder, Freunde, Schule. Genau so ist es. Lernen wie Verbindung geht. Jeden Tag.
Später nehme ich an einer Fortbildung teil. An den U-Bahnstationen entlang der Leopoldstraße steigen an dem Abend viele erhitzte, halb verweinte, angetrunkene Zuschauer des Viertelfinales zu. Bei manchen der jungen Frauen frage ich mich, ob sie bereits operiert sind oder in Tutorials gelernt haben, Lippen voluminöser, Nasen dünner zu schminken, Konturen zu legen, eine Skulptur. Die Mädchen, die im Gang eng an meine Kollegin und mich gepresst stehen, erkundigen sich bei uns nach einer Bar in der Gegend. Die Kollegin gibt bereitwillig Auskunft, rät davon ab am Odeonsplatz auszusteigen und schickt sie weiter Richtung Schellingstraße. Eines der Mädchen bedankt sich höflich, macht Konversation, duzt und siezt uns abwechselnd, berichtet davon, lieber Stiefel als Highheels zu tragen, obwohl hohe Schuhe besser passen würden zum Kleid und deutet dabei auf ihr langes pinkes Kleid.
An der nächsten Haltestelle verabschiedet sich der Trupp. Ich empfinde Zärtlichkeit. Oder etwas, das ich empfinde, wenn ich ein Herde Fohlen gesehen hätte. Fohlen, die sich fein angezogen haben. Der Geruch des dm - Erdbeerparfüms hängt noch eine Weile im Waggon nach.
Eine Woche darauf sitze ich im Auto und fahre Landstraße, vorbei an alten Höfen, alten Gasthäusern, in Rottenbuch sehe ich die schönste Blühwiese dieses Sommers, Mohn in 4 Farben, Kornblumen und weißflockiges Mädesüß. Die Hügel auf und ab Richtung Füssen - romantisch felsige Bergzacken, das Versprechen des Königs, seine Schlösser - ich hüte mich und fahre nicht näher ran. Ab einem gewissen Näherungsgrad ist es in Füssen vorbei mit der Romantik und es geht nur noch um den Verkauf von Wurst. Auf den Höhen und in den Tälern des Allgäus dagegen ist es still. Und nass, wie jeden Tag in diesem Sommer. Es dampft und feuchtet warm aus dem Waldboden, konstant aufsteigender Dampf, in dem Vogelstimmen sprechen. Ich halte an, steige aus und schaue in Moos, Farn und Nadelbäume.
Zwei Stunden später, ich habe ein Zimmer in den Bergen bezogen und mich auf dem Festivalgelände umgeschaut, stehe ich unter einer Gruppe junger Birken, Licht fällt durch das Blattwerk und zittert auf den Gesichtern der anderen. Es ist mild, es regnet nicht, man schaut sich verwundert an und um: stehen wir hier wirklich unter Birken im Abendlicht? Später in der Nacht in einem überdachten Raum bastelt die Frau am DJ Pult in den Elektroteppich die Ode an die Freude hinein, Beethoven, allerdings reduziert auf eine simple Soundspur, ohne Text und ohne Anspruch.
alle Menschen werden Brüder
Ich bin so weich, wund und schorf von dem, was in den letzten Wochen in den Nachrichten, in mir und meinem Umfeld gelaufen ist, dass ich mich nicht schäme zu der Melodie dieser uralten Hoffnung hemmungslos zu heulen
seid umschlungen Millionen,
diesen Kuss der ganzen Welt
Eine Weile später liege ich am Boden und lausche einem Track, der aus nichts anderem besteht als dem Takt eines schlagenden Herzens. Ich schaue rüber zu Stella an meiner linken und dem syrischen Freund an meiner rechten Seite. Weiter hinten liegt der Techniker bei den Kabeln, dazwischen Menschen, deren Namen ich nicht kenne. Ich mag den Mix aus Anonymität und Sicherheit an diesem Ort. Es ist nicht leicht ihn zu erschaffen und ich bin den Veranstaltern dankbar für ihr Werk.
Was noch passiert: Im Laufe des Festivals breche ich mir einen kleinen Knochen im Fuß. Einen Teil der Zeit verbringe ich daher auf einem Mattenstapel am Rand sitzend und schaue anderen Leuten beim Bewegen zu. Währenddessen beschäftige ich mich mit Ängsten, die mir solche Bauchschmerzen machen, dass ich sie nicht einmal auf Deutsch denken kann. Ich denke sie auf Englisch – nur so kann ich sie an mich ran lassen – mit dem Abstand einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist.
Do I fall out of love, when I’m no longer strong?
When I’m not healthy?
Ich hatte ein paar Tage vorher die Ahnung, dass es an der Zeit sein könnte, diese Angst demnächst zu konfrontieren. Es ist eine, in meinem Fall, überlebensgroß aufgeblähte Angst. Sie schaltet sich häufig und hinterrücks in meine Gedanken und Handlungen und verhindert das weitere Ankommen in der Realität. In der Schwäche, Einsamkeit, Ohnmacht ein nicht wegzulösender Teil sind. Eingebettet in den ganzen guten Rest. Ich habe jetzt die Gelegenheit, mich auf dem relativ harmlosen Level einer zeitweisen Einschränkung meiner Beweglichkeit damit auseinandersetzen. Ich kann ja sagen dazu. Gefallen muss es mir nicht.
Was an dem Abend und am folgenden Morgen auf dem Mattenstapel passiert, erschließt mir jedenfalls eine für mich neue Situation. Während ich dort sitze und befürchte, dass meine Einschränkung geradewegs in die totale Kontaktlosigkeit führen wird, kommen verschiedene Personen vorbei, legen sich zu mir oder pausieren an meiner Seite. Man sieht meinem Fuß die Verletzung nicht an, deshalb sprechen wir nicht über Krankheiten und Unfälle, sondern verbringen einfach Zeit zusammen, unterhalten uns, legen den Arm umeinander oder schauen in die Menge der tanzenden Menschen.
Anderen beim Tanzen zuzusehen, ist nicht so gut, wie es selbst zu tun. Dennoch ist das Sitzen in dieser Atmosphäre mit Blick auf die Leute eine aufregende und zugleich tröstende Erfahrung. Ein großer Kanon spontan entstehender Choreographien, schillernd und roh. Die Parallelität so vieler verschiedener inkarnierter Gefühle, die mit den Gefühlen anderer in Austausch und Begegnung gehen. Etwas, das es so nie wieder geben wird und nur für den Moment auf dieser Welt existiert.
Ich gewöhne mich an das Nasswerden und wieder Trocknen, immerzu klebrig und feucht zu sein. Wenn es mal drei Stunden am Stück nicht regnet und sonnig ist, unterbreche ich sofort jede abwendbare Arbeit, ziehe mich aus und werfe mich auf die nächste Wiese.
Für die Institution nehme ich an einem Erste Hilfe Kurs teil. Er wird von einer der Feuerwachen im Münchner Westen ausgerichtet, in einem langgestreckten Gebäude, dessen Kantine wir uns in der Pause mit den Feuerwehrfrauen und -männern teilen. Alle in Uniform. Alle muskulär, fit, aufmerksam. Eine selten große Ansammlung von Menschen, die ausgeschlafen wirken, sprungbereit und pflichtbewusst auf körperlicher Ebene. Eine physisch deutlich andere Atmosphäre als die in der Institution, wo die Energie der Angestellten ganz klar im Kopf verortet ist, die Körper wie bloße Träger der kognitiven Leistung wirken, nicht wie etwas, das an sich ausstrahlt oder anzieht oder schneller sein könnte als das Gehirn.
Ich erinnere mich an das Theater und wie beim Erlernen einer neuen Rolle immer zuerst die Frage beantwortet werden musste: Wo ist das Zentrum dieser Person? Im Kopf oder Körper? Und falls diese Person ausgewogen scheint, wohin flüchtet sie sich im Notfall, in Gedanken oder in Taten?
Ich besuche Freunde in einer anderen Stadt. Vieles was ich auf dem Weg dorthin rechts und links entlang der Autobahn auf den Lärmschutzwällen wachsen sehe, gefällt mir besser als die Pflanzen in meinem Garten. Besonders zwischen Günzburg und Ulm hat sich großflächig Mohn ausgebreitet, Kamillen, Sauerampfer und violette heidekrautartige Blumen zwischen vom Wind bewegten Halmen. Warum ist es so schwierig diesen Wiesenlook um ein Haus herum hinzukriegen?
Die langen Tage gehen über in nach Heu riechende Nächte. Wenn es abends still wird in der Nachbarschaft, alle Traktoren runter sind vom Feld und der letzte Holzstapel zersägt ist, liege ich auf dem Balkon, gebettet im Zirpen der Grillen, dem Sommergesang. Mit den zumindest leicht ansteigenden Temperaturen gerate ich in eine schwerwiegende Jane Austen Phase und lese noch mal ihre späteren Werke, mitsamt mehrseitiger Fußnoten zu der aufwendigen Etikette, wer wen einladen, ansprechen, aus der Gesellschaft ausstoßen darf usw. Das Leben dieser Leute scheint so dämlich und vergeudet im Rückblick und doch hielten sie sich für die Kirsche auf der Sahnetorte. Ich zieh mir das alles rein, ein Buch nach dem anderen, es ist unterhaltsam, spitz, literarisch handfest und poliert und unterstützt mich darin, faul auf der Haut zu liegen und mich für die Kirsche auf meiner Sahnetorte zu halten. Danke, Jane.
Ende Juni ist es schon, als ich dieses Jahr zum ersten Mal im Fluss bade. Die starken Regenfälle und das Hochwasser haben Lauf und Kiesbänke verändert, eine Insel ist ganz verschwunden, mehrere neue Seitenarme sind entstanden und ein paar Dutzend ausgerissene Bäume liegen zerzaust in der Gegend. Ich könnte hier auch von Diskussionen im Umfeld schreiben, von Menschen, die rechte Narrative glauben, von meiner Bemühung, das Gespräch nicht einzustellen. Ich will nicht näher darauf eingehen, es ist schlimm genug, dass es zu meinen regelmäßigen Auseinandersetzungen gehört und Eingang gefunden hat in das Gedankengut von Leuten, die immer schon konservativ wählten und unbegreifliche Ansichten hatten, sich aber nicht extrem äußerten, nicht verächtlich, bis jetzt.
Dann kommt die Nacht, in der es 32 Grad hat, auch nach Mitternacht die Hitze zwischen den Häusern steht. Ich ziehe Turnschuhe an und laufe einmal vom Norden der Stadt bis runter in den Süden. Ich habe zu wenig getanzt diese Woche, das ist nicht gut, es bringt ein grundsätzliches Gleichgewicht in mir ins Wanken, ich brauche diese drei bis vier selbstzentrierten und selbstvergessenen Stunden. Ich kann nicht für andere da sein oder einen Beitrag leisten für unsere Gemeinschaft, wenn ich mich nicht regelmäßig auf diese bestimmte Weise hinein lasse in meine Vernunftlosigkeit. Die Nacht ist hell, im Rinnstein knistern die abgefallenen Lindenblüten, auf den Bürgersteigen sitzen Menschen, verschlungen in Umarmung, wiegen schlafende Babys, schauen Fußball, schwitzen Bier, stolpern. “Nimm mich mit”, schreit ein Junge einem Mädchen nach, “heute nicht, vielleicht morgen”, schreit sie zurück, auf ihrem Tretroller davon fahrend.
You do not have to be good,
you do not have to walk on your knees
for a hundred miles through the desert repenting.
You only have to let the soft animal of your body
love what it loves.
[Mary Oliver]
Dann regnet es, Regen ohne Unterlass. Am Morgen das Geräusch der Tropfen, während ich am Schreibtisch der Institution sitze und Griechisch transliteriere, das Geräusch der Tropfen später, als ich übergehe zu Polnisch, am Abend das gleiche Geräusch unter dem Dach der Zenschule. Ich gerate in eine lang nicht mehr dagewesene emotionale Neutralität und betrachte die Vorkommnisse der Woche fast ohne Beteiligung.
Samstagnacht bin ich unterwegs, durch die schwimmenden Straßen Richtung Kolumbusplatz, die Hochwasser tragende Isar milchig grau und reißend an meiner Seite, angeschwollen zu ihrer maximalen Breite. Dass etwas innerhalb kurzer Zeit an Umfang und Geschwindigkeit so zulegen kann. Diese starke unpersönliche Bewegung mitten in der Stadt und nur eine Mauer, die mich von den Wassermassen trennt. Eine Weile stehe ich in der Dunkelheit, werde weiter nass und sehe zu ihr hin: die Isar. Um kurz nach 4 betrete ich leise die Wohnung einer Freundin, wasche mein Gesicht und ziehe die nach Cannabis riechende Kleidung aus. In dem Club waren viele Mittezwanzigjährige. Nur wenige schienen sich entspannen zu können, ehe verschiedene substanzbasierte Betäubungen Wirkung zeigten.
Mitte der Woche kommt für ein paar Stunden die Sonne raus, sofort springen die Pfingstrosen, flirrt der Asphalt, wabert der Lindengeruch klebrig über die Gehwege an der Universität. Nicht nur ich bin falsch angezogen und stehe in der plötzlichen Hitze schwächelnd an einer Ampel. Ich gehe in die Praxis, arbeite, zwei Stunden später rollt das nächste Gewitter heran. Der Mohn auf den Erdhügeln um die Kiesgruben wippt ungeachtet der Bedingungen in seinem papierenen Gewand im Wind, hat sich sogar ausgebreitet ins angrenzende Gerstenfeld hinein. In der Nacht darauf läuft mir ein Fuchs vors Auto, ich schaffe es, rechtzeitig zu bremsen. Etwa alle drei Monate kommt das vor. Bis jetzt ist es immer gut gegangen.
Wir planen einen Ausflug in die Berge, es wird schwierig dafür eine Regenlücke zu finden. In der Vorbereitung lege ich zwei Garderoben raus, für schwülheiß und für nasskalt, eine davon werde ich in Plastik gewickelt im Rucksack mittragen. Die Wanderung am Tag darauf verläuft sonnig, anstrengend und wird flankiert von blaulila Enzianwiesen. Auf der Bergspitze benennen wir die gegenüber liegenden Gebirgsketten, essen Semmeln und fallen in die gipfeltypische mentale Lähmung: satt, fertig, zusammen. Später rutschen wir die nassen Steine zum kleinen Wasserfall runter und gleiten, japsen, tauchen in die Kälte ein. Egal wie salzig und verausgabt mein mäßig fittes Gestell ist, 30 Sekunden in diesen Wassern machen die Schinderei wieder gut. Auf dem Rückweg im Auto bin ich Beifahrerin und realisiere in einem Moment nahezu vollständigen Gewahrseins die fleischliche Wonne, meine Beine auf dem Armaturenbrett abzulegen, die vom Eis schmierigen Hände am Rock abzuwischen und rüberzusehen in die Gesichter meiner Gefährten. Da sind sie. Da seid ihr.
Zu Hause ruhe ich mich eine Stunde aus, fahre zur Station und nehme die U-Bahn Richtung Innenstadt. Die Menschen riechen nach Schampoo und ihren frisch gewaschenen Wochenendoutfits, die schwarzen Technohosen der Mädchen zwischen den Leinenkleidern erwachsener Frauen. In der Halle ist es dunkel und warm, nach dem Tanzen liege ich lange erschöpft am Boden und schaue zu den auf die Decke projizierten rot kreisenden Punkten. Jemand spricht leise in ein Mikro. Dass wir Menschen auch das sind. Am Boden liegende Körper, fähig zu Konsens und Gemeinschaft, mit tausenden Jahren von Übung darin, um ein Feuer zu sitzen, Verletzungen zu verarbeiten, einen Weg zurück zueinander zu finden. Der Mann am Mikro benennt kein Detail aus den Nachrichten, den Bildern, den Konflikten in denen jede und jeder von uns auch steckt. Er spricht nur davon, was wir noch sind. Mir kommen die Tränen. Weil ich eine solche Sehnsucht habe nach diesem noch.
Als ich nach Mitternacht zurückkehre schaukeln die Pfingstrosen im nächtlichen Garten, rosa Glühbirnen vor der schwarz glänzenden Rückwand des Schuppens. Ein paar von ihnen hole ich rein und schaue ihnen beim Öffnen zu.
You must be able to do three things:
to love what is mortal,
hold it,
your own life depends on it,
and when the time comes, to let it go,
to let it go.
Am Mittwochabend laufe ich am Feierabendverkehr entlang Richtung Isartor. Drei der anderen Zenschüler sind an der Kreuzung noch zum Italiener abgebogen, ich habe heute keine Zeit, sonst wäre ich mitgegangen.
Es spielen sich Muster ein, die mich faszinieren in ihrer schnell erhärtenden und Gemeinschaft stiftenden Funktion. Nach dem zweistündigen Stillsitzen auf den Kissen treten wir auf die Straße und witzeln über alles, was beim Stillsitzen in uns vorgegangen ist. Jede beschreibt ihren schlimmsten Moment (gastrointestinale Geräusche, eingeschlafene Beine, das verdammte Räucherstäbchen, der Gedanke an die letzte Wohnungsbesichtigung mit 75 anderen Münchnern…) Im Anschluss wird eine Bar angesteuert und auf dem Weg dorthin so laut wie möglich gelacht, fast geschrieen, ich persönlich nutze die Strecke um kurz jemanden an der Schulter zu berühren, ranzuziehen, irgendeine Art von emotionaler Begegnung nachdem ich zuvor den Gang durchs Nichts praktiziert habe. Vielleicht gibt es Leute, die in solch strengen Formen der Meditation ausbluten und immer weiter reingehen in die Isolation. Mir passiert das nicht. Ich pulsiere und greife nach der Materie, mehr als zuvor. Die Zeit ist nicht unendlich und jede Minute auf dem Kissen lässt mich Augen, Hände, Arme, die mich im Anschluss streifen, als Tore erkennen, durch die ich hindurch gehen will.
Am Samstag darauf treffe ich Kolleg*innen. Wir entwickeln körpertherapeutische Übungen und überprüfen sie auf ihre Wirkung. Es sind meist einfache Dinge, die wir versuchen, einfache Gesten, einfache Taten. Ausgreifen. Wegdrücken. Jemanden ablehnen, jemanden annehmen. Etwas wollen, etwas verabschieden. Eine Grenze klar machen. Realität testen. Verfügbare Mittel nutzen. Gefühle riskieren. Scham riskieren. Keine Angst mehr haben vor der eigenen Kraft. Groß sein, angewiesen sein.
Wir sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden.
Am Donnerstag unterhalte ich mich mit den Veranstaltern des wöchentlichen Tanzens in der Halle. Ich bin Anfang des Monats dort in den Altar gekracht. Direkt hinein, in Blumen, Teelichter, Buddha und den ganzen anderen Kram. Der Altar steht eigentlich immer in einer der Ecken beim Eingang und leuchtet von der Stelle als Lichtquelle und Haltepunkt in die Nacht. An dem besagten Abend stand der Schrein aber vor dem DJ Pult. Ich dachte mir schon beim Reinkommen, dass das keine gute Idee ist, hab den Gedanken aber schnell wieder vergessen, weil die Musik der Hammer war und ich raumgreifender als sonst getanzt habe. Interessanterweise war im Verlauf des Abends ich die Person, die dann versehentlich an diesen Altar rankam und ihn halb umgerissen hat. Ich war etwas perplex nach dem Reinkrachen, hab ein paar der Kerzen wieder aufgestellt, mich abgetastet und, als der Techniker ihn verschoben hatte, weiter gemacht.
Im Nachhinein kam mir das symbolisch vor. Es ist jetzt vier Jahre her, dass ich in solider Outdoorkleidung auf einem soliden Berg saß und mich beim Betrachten eines gegenüberliegenden Bergmassivs nicht des Gefühls erwehren konnte, zu sicher zu sein. Mich zu sicher zu verhalten. Kontrolliert. Ich habe von diesem Moment ein Foto, das ein Freund machte, der schräg hinter mir stand auf dem Berg. Das Foto habe ich oft angeschaut und schließlich einen Satz darunter geschrieben, den Rilke oder Richard Rohr oder beide, ich weiß nicht mehr wo, gesagt haben:
Eins muss ich wieder können; fallen.
Mit den Veranstaltern spreche ich am Donnerstag nicht über das Fallen oder den Altar, Dichter und Symbole. Ich will wissen, welche Schwierigkeiten sie haben, wie oft sie sich finanziell ruiniert haben, was es ihnen abverlangt, jede Woche über Jahre gegen viele Widerstände eine aufwendige Logistik, Vision und Community zu unterhalten. Ob sie gern eine Pause hätten, Veränderung, Vertretung? Nein, sagen beide. Sie und er. Wir wollten das, vom ersten Tag. Bevor es da war. Bevor es all das gab.
Ein Gestirn werden. 4,5 Milliarden Jahre brennen.
Auf den Feldern kreisen die Milane tief. Am Wegrand gedeihen Kamillen, es duftet nach Heu und das Zirpen der Grillen begleitet mich. Zweimal werde ich an regenreichen Tagen komplett durchnässt, weil ich zu Terminen muss und nicht die 10 Minuten Zeit hab, mich unterzustellen. Das ist der Preis dafür, dass ich nie einen Schirm mitnehme, es fast immer gut geht und ich mir dieses kleine Gewicht spare.
Am Ende der Woche melde ich mich telefonisch bei Lydia, einer Nachbarin, die ich beim letzten Weihnachtsfest hier im Ort kennengelernt habe. Sie kommt noch am gleichen Nachmittag vorbei, bringt Rosen aus ihrem Garten und bleibt zum Kaffee. Lydia ist die einzig mir bekannte 86 -Jährige, die einen Kopfstand kann. Sie hat 25 Jahre mit einem Mann und im Anschluss 25 Jahre mit einer Frau gelebt. Sie sagt, beides war furchtbar, sieht dabei aber nicht aus, als ob irgendwas furchtbar war. Sie sieht großartig aus: geschmeidig und sehr schlau. Im Obergeschoss ihres Hauses befand sich bis vor Kurzem eine umfangreiche Sammlung hochwertiger Kostüme aus den Sechzigern und Siebzigern, die sie schließlich aus Platzgründen an einen Kostümbildner der Wiener Oper verkaufte, der extra dafür mit einem Transporter und zwei Helfern anreiste. Lydia macht jeden Morgen Yoga, ist als Teenager aus der DDR geflohen und hängt manchmal in merkwürdigen Verdrehungen aus dem Fenster, um ihre Rosen an der Hauswand festzuklemmen. Ich bin gespannt, wie es mit ihr weitergeht.
Morgen bin ich bei einem Workshop, in dem wir uns eine Stunde im Kreis drehen. Ich hoffe, mir wird nicht schlecht.
Mein neues Leben ohne Zeitdruck breitet sich aus, ich werde geschmeidig und höre dem Vogelgespräch zu. An manchen Vormittagen tu ich nichts als im Bett Kaffee zu trinken und später Flieder in eine Vase zu schneiden. In der Institution vertrete ich zwei fehlende Teammitglieder ohne mich von der dreifachen Aufgabenmenge gehetzt zu fühlen. Allein zu wissen, dass abends keine mehrstündige Lerneinheit wartet, weitet mich bis an den Horizont und zurück.
Dann nehme ich in dem anderen Beruf an einer Weiterbildung teil, zu der viele vertraute Kolleg*innen anreisen. Wir befassen uns mit einem bestimmten Entwicklungsstadium vor dem 6. Lebensjahr und die damit einhergehende Verkörperung sowie das Ausbleiben der Verkörperung, wenn die Umstände diese verhindert haben. Es geht in dem Modul ans Eingemachte, auch für mich; nach den Übungen sitzen häufig Leute vor der Tür und versuchen, sich wieder zu fangen.
Am zweiten Tag kommt die Sonne raus. In der Pause legen wir Isomatten in den Hof, essen Nudelsalat, schauen den Handwerkern der Glaserei beim Abladen von Werkzeug und dem Cateringservice beim Verhandeln mit Kunden zu. Es gibt in dieser Stadt so wenig freie Flächen, dass Handlungen, Pausen, Erledigungen sehr gedrängt, manchmal fast gestapelt stattfinden. Kinder wickeln auf Einparkversuch auf Seniorengymnastik auf Videocall auf Flaschensammeln. Ein unendliches Teilen, Mithören und Mitansehen aller Bewohner und ihrer Bedarfsbewältigung; anstrengend, schön, oft zu nah.
An einem der nächsten warmen Abende finde ich mich mit meinem älteren Selbst auf einer Holzbank am Eingang der Halle sitzend. Hinter uns der dunkle Park, punktuell erhellt von weißen Lichtkegeln, vor uns Ikeatüten, in denen die Veranstalter Kerzen und Lampions transportieren. Aus der Halle kommen die letzten versprengten Gruppen von Tanzenden heraus, schließen Fahrräder auf, schnallen Rucksäcke an Gepäckträger, als einer der Vorbeikommenden zu uns rüber schaut, kurz inne hält und sagt: ihr zwei seht euch ähnlich.
An dieser Stelle muss ich einmal erwähnen, dass mein älteres Selbst sich optisch nicht deutlicher von mir unterscheiden könnte. Sie ist groß, dunkelhaarig und dunkeläugig, sie hat die Aura und Haltung einer Frau, die einundhalb Jahrzehnte in einer norditalienischen Metropole gearbeitet hat in einer der härtesten kreativen Branchen überhaupt. Was der Mann mit Ähnlichkeit vermutlich meint und erkennt, ist dass wir über die letzten Wochen zueinander hingewachsen sind, anders kann ich das nicht beschreiben. Zwei Mal standen wir in einiger Entfernung unter den Bäumen im Park, warfen uns verstohlene Blicke zu, verabschiedeten uns zögerlich, um schließlich beim nächsten Aufeinandertreffen ein vollwertiges Gespräch zu beginnen. Im Juli werden wir in den Bergen ein Zimmer mieten und drei Tage miteinander tanzen. Es wird daher Zeit, dem älteren Selbst einen eigenen Name zu geben. Ich nenne sie hier der Einfachheit halber Stella.
In der darauf folgenden Woche feiern zwei Freunde ihren Geburtstag an einem anfänglich bewölkten und dann sehr milden Tag im Mai. Sonnenlicht bricht durch das junge Laub, unter dem wir stehen, Kastanienblüten segeln von den Zweigen und verfangen sich in unserem Haar. Jede Person, mit der ich mich unterhalte, trägt diesen trocken knisternden Kopfschmuck aus rosaweißen Blüten. Ein japanisches Manga ist nichts dagegen - so viel überbordende Poesie - niemandem als der Natur selbst würde ich eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen. Obwohl. Nein. Ich würde allen eine derart romantische Erzählung durchgehen lassen, inklusive mir selber. Auch dieser Tag und dieses Fest ereignen sich auf einer der gemeinsam genutzten freien Flächen. Ich kenne fast niemanden, der in dieser Stadt lebt und einen Garten oder auch nur größeren Balkon hat, private Feiern sind somit häufig öffentlich und nur wenn ich viele Kilometer entfernt an anderen Orten in anderen Zusammenhängen bin, fällt mir wieder ein, dass draußen auch anders gefeiert werden kann: in dicht eingewachsenen, von einer oder maximal zwei Familien genutzten Gärten, Hortus conclusus, Kleinode, florale Schatullen, von Pflanzen begrenzter eigener Raum.
Am Donnerstag sammel ich mich eine halbe Stunde durch das Brennnesselfeld am Waldrand und verarbeite die Ernte anschließend zu Pesto. Dann fahre ich zur Zenschule und trinke Tee mit einem pensionierten schwedischen Professor, der gruppendynamische Prozesse erforscht hat. Seine mit den Studierenden getesteten Interaktionsvorschläge inspirieren mich eine Abwandlung davon eventuell in der Arbeit zu verwenden. Eine der von ihm entwickelten Übungen besteht aus 5 Handlungen/Schritten, die verkörpert, d.h. mit eindeutig körperlichem Ausdruck durchlaufen werden:
how to know what you want
how to ask for it
how to make an effort
how to end the effort
how to accept the result
Dann findet die letzte Prüfung statt, ich stehe im sechsten Stockwerk eines Innenstadtgebäudes und liefer die komprimierte Version des in den letzten Jahren angesammelten Wissens ab. Ich beschließe, richtig dick aufzutragen und keine Eventualität unerwähnt zu lassen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Beisitzer und Protokollführende ob meines Tempos sehr schnell mitschreiben müssen, was mir eine perverse kleine Lust verschafft und mich veranlasst, einen Abstecher in die somatoformen Störungen zu unternehmen, nur um auszuführen, warum der darliegende Fall nicht auf eine solche zurückzuführen ist. Ich sehe die Vorsitzende lächeln und weiß, dass sie weiß, was ich hier tue und dann baue ich extra für sie ein Benzodiazepinabhängigkeits-Szenario und den Abriss zweier krankhafter Persönlichkeitsakzentuierungen in die Diskussion ein, damit wir uns weiterhin anlächeln und verstehen können.
Ich gebe zu, diese Prüfung und was in der Vorbereitung dafür nötig war, hat mich nicht gerade zu einem milderen Menschen gemacht. Ich werde einige Zeit damit zubringen müssen, mein verhärtetes Gesamtgewebe wieder aufzuweichen. Es war auch die erste Prüfung dieser Art, in der ich so etwas wie Ambition entwickelt habe und hinterher nicht sofort alles vergessen wollte.
Ab Freitagnachmittag schwimme ich 48 Stunden lang auf einer Adrenalinwelle, fühle mich abwechselnd entrückt von und hineingerammt in diese Erde, kreische in Telefone und springe an Leuten hoch, die mich im Raum herumwirbeln. Unter anderem der kleine syrische Mann, der regelmäßig beim Tanzen dabei ist und alle anlacht. Ich frage ihn, ob er wieder sein Parfüm aufgelegt hat. Ein Mal im Jahr fährt er zu Verwandten in die Türkei und lässt sich bei der Gelegenheit in einer dort ansässigen syrischen Parfümerie einen eigens für ihr komponierten Duft mischen. Es ist eine opulente Mixtur und ich kenne niemanden außer ihn, der das tragen würde, aber ich mag die große Geste und bei der Begrüßung für Sekunden in seine ausladende und rosengetränkte Welt einzutauchen.
Es findet sich, dass eine Frau aus der Zenschule zeitgleich zu meiner Prüfung ein paper in ihrer Forschungseinrichtung abgegeben hat. Wir stehen nach dem Meditieren auf der Straße, öffnen Champagner und liegen einander in den Armen bevor wir in einer lauten überfüllten Bar die Köpfe zusammenstecken und Ausschweifungen der nächsten Tage planen.
Dann schneeregnet es die ganze Woche, ich mache Feuer, werfe mehrere Kilogramm Papier weg, koche jeden Tag und schlafe. Vor dem Ofen liegend bewege ich mich langsam zu einer Tonbandaufnahme aus den 80’er Jahren, auf der eine schwedische Feldenkraislehrerin mit hypnotischer Stimme sagt: If you want to learn something new, don’t take it serious. Allow yourself to play.
Der Blauregen rankt sich die Außentreppe hoch und platzt in hunderten violetten Knospen. Im Baumarkt leihe ich ein Schleifgerät, um zwei Tischplatten und Holzkisten zu bearbeiten, im Keller ziehe ich die alte Nähmaschine aus dem Regal und kürze damit einen Stapel Röcke. Die Wolle im Schrank habe ich bereits nach Farben und Garnstärke sortiert, der nächste Webteppich ist in Planung, ich kann nicht glauben, mich all diesen wunderbaren Dingen ohne Zeitdruck widmen zu dürfen.
Es ist daneben auch die Woche der ausfallenden S-Bahnen, gesperrten Streckenabschnitte und des eisigen Windes. Ich hätte nichts dagegen in lauen Sommernächten an unüberdachten Stationen im Nirgendwo stundenlang auf etwas zu warten, in diesem Wetter aber; es macht einen kaputt. Es macht einen kaputt bis ins Mark. Ich bin so überzeugt von und angewiesen auf den Öffentlichen Nahverkehr und deswegen hasse ich ihn manchmal zutiefst und gründlich.
Eine Freundin, die immer schon viel gewagt hat, um weniger privilegierte Menschen zu unterstützen, berichtet von einer Entscheidung, mit der sie sich nun die nächsten Jahrzehnte auf einen sehr herausfordernden Weg einlassen wird. Ich bin fasziniert und sprachlos, woher sie diese Bereitschaft zur Aufgabe ihrer Bequemlichkeiten nimmt. Neben ihr komme ich mir manchmal vor, als würde ich Pampers tragen.
Ab Mitte der Woche kündigen sich anreisende Kolleg*innen, eine ersehnte Weiterbildung und wärmere Temperaturen an, ich liege vorm Fenster und schaue in den fliederfarbenen Sonnenuntergang. Da geht er hin, der graupelige April.
Samstag sitze ich in einer österlich leeren S-Bahn, höre sentimentale rumänische Musik und notiere Ideen für einen Workshop mit Kolleg*innen später am Tag. Es ist warm und es wird noch wärmer werden. Ich bin falsch angezogen, übermüdet und trage zu viele Bücher in meinem Rucksack - der krachend blaue Himmel aber und die auf dem Asphalt klebenden rosa Blüten - es ist real und plakativ Frühling und kein Kummer wird mir diesen Tag trüben.
Wir arbeiten eine Weile in der Praxis eines Freundes, ehe wir uns mit Kaffeetassen auf den Bordstein zur Straße raus setzen, blinzelnd in all das Licht von allen Seiten. Es ist, obwohl man ja schon eine Zeit lang auf der Erde verweilt und weiß, wie Jahreszeiten gehen, erneut verblüffend mit welchem Genuss es sich sitzen lässt auf einem Bordstein ab Ende März in dieser Stadt. Wie die winterliche Verrohung und Zusammengefaltetheit der Gedanken einem weiter gestreuten Sichtfeld weicht, sich Vorübergehende anplaudern lassen oder direkt dazusetzen, eine Schicht Kleidung nach der anderen ausziehend. Ach, unsere fabelhaften Körper. Da sind sie wieder.
Einige Stunden später, in der Nacht, stehe ich mit Menschen, die Teile einer Musikanlage in einen Sprinter räumen, an den Ausläufern eines kleinen Parks mit alten hohen Bäumen, die Magnolien sind nicht erfroren, die Dunkelheit riecht süß. Kurz vorher war mein zehn Jahre älteres Selbst durch die Menge gelaufen, in Eile, ihr in die Ecke gepfeffertes Shirt greifend, Tasche, Schuhe, mit einer Hand im Vorbeilaufen nach meinem Arm fassend, bist du nächste Woche da, hat sie gefragt, und ich hab mich umgedreht und sie angeschaut und genickt. Es hat uns beiden nicht gefallen, das Set heute, ich habe mich sogar eine Weile an die Wand gesetzt und nur zugeschaut. Am Ende jedoch, in der letzten halben Stunde ist es gut geworden. Der schlaksige Techniker, der nur selten hinter den Kabeln hervorkommt, mein älteres Selbst, ein gehörloser sehr höflicher Mann und ich fanden in einer Ecke der Halle zusammen und beendeten diesen Monat mit ausgestreckten Armen.
Am Mittwoch ist der erste Teil der Prüfung durch, einen Nachmittag lang liege ich in einer Art Erleichterungslähmung auf dem Wohnzimmerteppich und bewege mich nicht. Dann schaue ich in die verbliebenen Unterlagen, zimmere den restlichen Stoff in die freien Schlitze meines Kalenders und fange an. Es ist viel, es ist machbar, es ist bewältigbar, ich darf nicht nachlassen, der letzte Sprint, ich will das, ich kann das. Eine Kollegin erzählt, dass sie in der mündlichen Abnahme ohnmächtig geworden ist. Tatsächlich ohnmächtig, mittendrin. Die Damen und Herren des Prüfungsausschusses zogen sie vom Boden hoch, informierten sie darüber, jetzt ein Taxi zu rufen und die Befragung zu beenden. Nein, hat die Kollegin darauf erwidert, ich bleibe hier. Und dann hat sie den Fall gelöst: Diagnostik, Abgrenzung, Recht, Zuständigkeit, Behandlungsplan und Krisenintervention. Ich fühle mich gut unterhalten, als sie beim Dessert in einer Landgaststätte davon berichtet, hoffe für mich selbst aber nicht, in Kürze eine solch spektakuläre Anekdote auftischen zu können.
Die Nachbarfreunde kommen und andere Freunde und nochmal andere Freunde. Wir trinken Champagner, jemand kocht, jemand macht Tiramisu, es treffen Käseplatten ein, Hagebuttenmarmelade, Narzissen, es werden Eier gesucht, Gesichter in die Sonne gehalten, Pfadfinder- und Arielle die Meerjungfrau-Lieder gesungen, die Spülmaschine läuft dreimal am Tag, mehrere Personen tragen einen Sessel aus dem Haus und vor dem Fenster blüht die Zierquitte, korallfarben, als wäre das alles noch nicht schön genug.
Dann kracht der Auspuff ab, ein Bekannter bestellt Ersatzteile und repariert das Auto. In der Zwischenzeit fahre ich ohne Auspuff, das heißt ohne Schalldämmung übers Land, mit röhrendem Motor, wie die Dorfjungs hier, wenn sie 18 sind. An jeder Ampel möchte ich in Grund und Boden versinken.
Unter der Woche gehe ich ins Kino, um Dune zu sehen und ja, Wüsten und Science Fiction, eine Kombination, deren Wirkung für mich nie enden wird. Das Gelübde des Ordens: Ich werde mich meiner Angst stellen. Ich werde meine Angst über mich hinweg und durch mich hindurch gehen lassen.
Gelübde spielen auch beim Zen eine Rolle. Ich habe einige Wochen dem tief vibrierenden japanischen Chanten der Gruppe zugehört, ehe mir klar wurde, dass hier rezitiert wird, was ich vor zehn Jahren auf einem Zettel notiert und an die Küchenwand geklebt hatte: Wie zahllos die fühlenden Wesen auch sein mögen, ich gelobe, sie alle zu retten.
Der Größenwahn und die Unmöglichkeit des Einlösens dieser Worte; das interessiert mich natürlich. Gedehnt, gestretcht zu werden von einem Versprechen; übermenschlich und total. Es gibt viele Übersetzungen, Interpretationen und viertägige Seminare, um aus diesen Zeilen schlau zu werden. Ich weiß, ich werde es nicht. Und während einige Menschen beim Singen dieser Zeilen Leistungsstress kriegen, passiert in mir das Gegenteil. Ich fühle mich geliebt. Als hätte sich jemand entschlossen, alles erdenkliche für mich zu tun.
Erste warme Nacht in diesem Jahr, viele Frauen riechen nach Bergamotte und Weihrauch, manche Männer nach Armani. Auf den Bürgersteigen selige Enge, ein sich fast Berühren und aneinander Vorbeidrücken beim Anstehen vor der Bar.
Letzte Tage vor der Prüfung. Im Intensivkurs quäle ich mich durch acht Stunden gruppendynamische Anspannung, durch den Vortrag einer schnell sprechenden, hörbar gereizten Dozentin und hektisch eingeworfene Fragen von Teilnehmenden, die fürchten Grundlegendes falsch verstanden zu haben. In der Pause suche ich einen Sonnenfleck auf dem Grasquadrat im Hof, stelle mich da rein und ziehe die noise cancelling Kopfhörer auf.
Man rät uns, viel zu schlafen, Obst zu essen und genau nach dem bewährten Schema den Rest zu lernen. Ich halte mich an nichts davon und gehe tanzen. Zwei Stunden in der dunklen Halle mit meinen esoterischen Freunden, danach vier Stunden in einem Elektroclub allein. Die Akustik in dem Club ist so gut, wie alle gesagt haben, die minimalistischen Bewegungen der anderen in den schwarzen T-Shirts verbinden sich zu einem großen, samtigen Tier, das sich bewegt, weil wir uns bewegen, mit uns, durch uns, für uns: es gibt ein Wachsein, das dem Schlafen ähnelt. Ich kann nicht viel sehen, aber es ist fühlbar, wo die Hingabe am innigsten ist, wo zwei oder drei der Anwesenden eine Verabredung haben mit sich und diesem dunklen schönen Traum.
Im Januar habe ich mit Zen angefangen. Dafür verharre ich nun einmal die Woche am Abend mit 14 anderen auf dem Bretterboden einer ehemaligen Werkstatt in einer sitzenden Position, die mich sehr fordert, die ich mir leichter vorgestellt hatte. Es ist eine strenge Schule, individualistische Abweichungen sind nicht erlaubt. Während des zweistündigen Sitzens geht die Meisterin gelegentlich hinter uns vorbei und korrigiert mit einem Stock die Haltung von Rücken, Kopf und Schultern. Auf dem Kissen herumzurutschen oder den Blick zu heben soll vermieden werden, das Verlassen des Raums ist nur in Ausnahmefällen gestattet. An einem Abend im Februar als mir der Stress bis zum Hals steht, setzt sich die Meisterin, die nichts von meiner Situation weiß, während der Meditation hinter mich, legt ihre Hände auf meinen Rücken und sagt leise: Lehn dich an. Ich versuche es zögernd, meine Muskulatur verhält sich ungläubig, mehrere Minuten wechseln sich der Wunsch, die Kontrolle zu behalten und ihrer Wärme nachzugeben ab. Als sie ihre Hände löst und ich wieder allein bin, werde ich auf einmal butterweich. Es gibt Menschen, die mich unterstützen, Fremde und Vertraute, sie sind da und registrieren, was los ist, sie lassen sich hin magnetisieren zu mir und nähern sich auf eine Art, die mir gefällt. Meine Vergangenheit ist vorbei, meine Gegenwart ist hier.
Am Sonntag gehen wir auf einen Berg. Ich bin nicht in Form. Bei der erstbesten Gelegenheit schäle ich ein Ei und beschließe, nicht weiter zu gehen. Auch der Rest der Gruppe erlebt unterschiedliche Grade märzüblicher Trägheit. Eine der mitwandernden Frauen wirft sich vor der Hütte auf den trockenen strohigen Boden und döst sofort weg; ihr von der Sonne beschienenes Gesicht, der darüber gelegte Arm und die in ausladendem Winkel von ihr gestreckten Beine lassen mich an in Öl gemalte Darstellungen landwirtschaftlich arbeitender Bevölkerung denken; fix und fertige Leiber, Pause wie Koma, noch in Ruhehaltung griffbereite Hände.
Unter der Woche bin ich in der Praxis. Zwischen den Terminen versuche ich einen ruhigen Ort in einer der gerade öffnenden Kneipen zu finden, um Gesetzestexte in meinem Kurzzeitgedächtnis unterzubringen. Der Barkeeper in dem noch leeren und eigentlich geschlossenen Lokal macht mir einen Cappuccino, dreht ohne meine Aufforderung die Musik leiser, damit ich mich konzentrieren kann und will später kein Geld. Ich glaube nicht, dass er an mir als Person interessiert ist. Es ist ein schlichter random act of kindness, wie er mir in diesen Tagen häufig widerfährt.
O
ihr Zärtlichen
tretet zuweilen
in den Atem, der euch nicht meint.
Fürchtet euch nicht zu leiden.
Die Schwere,
gebt sie zurück an der Erde Gewicht.
Die Berge sind schwer, die Meere sind schwer. [Rilke]
Unterdessen entfallen mir Dinge, werden von der Menge prüfungsrelevanter Informationen verdrängt. Ich kann nicht unendlich lang lernen und parallel einen funktionierenden Alltag haben. Als ich in den Keller gehe, um die Waschmaschine zu füllen, entdecke ich, vor drei Tagen eine Ladung gewaschen und nicht aufgehängt zu haben. Mehrmals fahre ich mit der U-Bahn in die falsche Richtung und stehe dann am Zoo. Einem Kind aus meinem Umfeld schenke ich ein Buch, worauf das Kind sagt: das hast du mir vor Kurzem schon geschenkt.
Die sonnigen Stunden häufen sich, Vogellaute fast ununterbrochen von Morgens bis Abends, eine Floristin aus dem Bekanntenkreis bringt einen großen Strauß Weidenkätzchen und fransige Tulpen in ungewöhnlichen Nuancen. Ich erwäge zu einer Art Frühlingsritual zu gehen - die esoterischen Freunde - was genau dort passieren soll, weiß ich noch nicht. In der Nachricht steht: wir werden die Himmelsrichtungen anrufen.
Erstes Bild: Obłok von Ferdynand Ruszczyc. Zweites Bild: ?
Mitte des Monats ein genau in der Mitte durchgeschnittener Mond. Dämmerung um 19 Uhr. Es geht aufwärts. Die Lauheit dieses sich ausbreitenden Februar gefällt mir. Sie ist nicht gut - das blende ich aus. Für die halbe Stunde, in der ich zwischen den Häusern und dem aufgewärmten Asphalt entlang gehe, blende ich es aus. Die Sorge um die weiter unter unseren Fingern zerfallende Erde…wird nicht mehr aufhören, so lang ich lebe.
Nawalny tot. Ich hatte in den Tagen zuvor oft an ihn gedacht. An den Traum vor drei Jahren. Keine Sicherheit, nirgends, in diesem verdammten Land. Ich hatte so gehofft, dass er überlebt und dabei sein kann, wenn sich etwas ändert, falls sich etwas ändert.
Zwei Wochen bin ich in einem absurden Loop zwischen Behörden gefangen, niemand erreichbar, niemand zuständig, niemand weiß was. Dass Menschen, für die es um deutlich mehr geht, Jahre in solchen Unendlichkeitsschleifen verbringen müssen.
Ich höre eine Playlist voller alter Songs, es ist energetisierend und verstörend, ich bemerke, die Texte, etwas, mich vollständiger zu verstehen. Es ist kein glückliches Verstehen, eher eine illusionsarme Realität, die ich jetzt näher ranlassen kann als beim letzten Mal.
Wir Erdenkörper verglühen noch während wir miteinander sprechen, aneinander vorbei schweifen in den Clubs, Großraumbüros und entlang der unterirdischen Verkehrsadern der Stadt. In einer Nacht sitze ich mit einem jungen Mann an die Sprossenwand einer Turnhalle gelehnt und tausche mit ihm Worte des Franziskaners, die ich von den Zetteln aus meiner Jackentasche ablese - drei DIN A4 Blätter vollgeschrieben mit Notfallgedichten, Gebeten und Dingen, die ich nicht vergessen will.
I can’t hold reality or god.
Reality and god are holding me.
Der junge Mann wird in der Woche darauf in eine buddhistische Gemeinschaft ziehen, dort arbeiten, auf einem Holzboden sitzen, kochen. Auch das eine Option, sich in den Jahren zwischen 20 und 30 gründlich zu verräumen, vermutlich nicht die schlechteste. Wir tippen Nummern in unsere Telefone, er verspricht, mich auf dem Laufenden zu halten. Eine andere Person, neu kennen gelernte Kollegin auf einer Fortbildung, nutzt die gleiche therapeutische Methode wie ich, allerdings in einer Psychiatrie und mit Menschen, die sich maximal 5 Minuten lang auf ihre Emotionen einlassen können. Ich sauge alle verfügbaren Informationen aus ihr heraus, sie verspricht, mich zwei Mal im Jahr wiederzusehen und mehr zu erzählen.
An einem für wenige Minuten sonnigen Nachmittag sitze ich in einem Gewerbehof auf einer gelben Metallbank und rauche eine Zigarette mit einer Frau, zu der ich vier Tage lang keinen Zugang gefunden habe. Es wird auch mit der Zigarette und der dabei entstehenden Konversation eine brüchige und störungsanfällige Beziehung bleiben. Gymnastik für meine Frustrationstoleranz und ein Ausloten des Möglichen.
Nach einem auf anderer Ebene ebenfalls frustrierenden Seminar, an dem ich formal viel auszusetzen habe und das nicht billig war, stehe ich mit zwei Kollegen im Flur und öffne ein Bier. Den Arm um die Schulter eines anderen Menschen legen und den Tag als einen Scheißtag abhaken zu können, welch Erleichterung und Genugtuung. Ich kann direkte konstruktive Kommunikation und Kritik und werde erst sarkastisch, wenn ich auch nach dem dritten Anlauf nicht gehört werde. Die restliche Zeit sitze ich ab, wie in der siebten Klasse, male in meinem Skript herum und flüster mit den Nachbarn.
Ich bin häufig unterwegs in diesem Februar. In meinem Rucksack befinden sich Schlüssel zu zwei verschiedenen Wohnungen von Freunden, die ebenfalls häufig unterwegs sind, bei denen ich übernachte, wenn nichts mehr fährt oder der Tag danach sehr früh beginnt. Instinktsicher finde ich in jedem Haushalt die Wärmflasche, fülle sie auf, lege mich hin und schlafe sofort ein. Es ist ein mittlerweile recht unkompliziertes Verhältnis, das der Schlaf und ich miteinander unterhalten. Falls es Sonntag nicht regnet, werde ich in die Berge gehen. Ansonsten harre ich aus. Warte auf das Ende des Winters, das Ende der graubraunen Farben und hochgezogenen Schultern.
Die stabilisierende Wirkung, die die Arbeit in der Institution auf mich hat. Umgeben zu sein von Menschen, die Tendenzen in Richtung einer zwanghaften Persönlichkeitsstruktur aufweisen bringt viel Berechenbarkeit mit sich. Ich ruhe mich aus, während ich mit diesen Leuten zu tun habe. Ich ruhe mich aus vom ganzen Rest.
Am Samstag bin ich wieder auf mein 10 Jahre älteres Selbst getroffen. Sie ist eine no-bullshit-Tänzerin, so viel steht mittlerweile fest. Sie kommt drei Minuten bevor es losgeht in die dunkle Halle, setzt sich auf den Boden, unterhält sich mit niemandem, schließt die Augen. Schwer zu sagen, ob sie meditiert oder die 150 Leute ausblenden will, ihr Gesicht ist jung und alt und verrät nichts über ihre Verfassung. Sie trägt mit Vorliebe schwarze Ganzkörperbodys und darüber ein Achselshirt, das sie im Laufe der Nacht ausziehen und in eine Ecke pfeffern wird. Ich weiß jetzt, bei welchen Tracks sie die Arme hebt und in die Mitte geht; ihr gefallen Sirenen, U-Boot-Laute und elektronisch modifizierte Orgeln. Ich glaube, sie netflixt die gleichen Science-Fiction-Serien wie ich.
Später, etwa zwei Stunden später, mein 10 Jahre älteres Selbst flippt gerade vor dem DJ-Pult herum, fängt sie an zu schreien. Ein oder zwei Mal pro Nacht macht sie das, während sie tanzt. Ich habe auch Lust zu schreien und schreie mit, was sie bemerkt. Sie dreht sich um, erkennt mich und lacht. Ich bewege mich langsam in ihre Richtung, mir ist bewusst, dass ich ein Risiko eingehe. Es gibt an diesem Abend in dieser Halle niemanden, der so schnell und intensiv tanzt, wie sie und ich. Wenn wir unsere Körper an einer Stelle, an einem Punkt zusammenbringen, wird das eine Welle machen, die anderen Leute werden zwei Schritte zurückweichen, um uns Platz zu schaffen, was ich nicht will, ich will keine Plattform, aber ich will auch nicht mein älteres Selbst verpassen, wer weiß, ob wir uns wiedersehen, ob je wieder in Zeit und Raum ein Augenblick wie dieser eintreten wird, ein Handvoll prekärer Sekunden zwischen überhitzten Menschen, in der wir gemeinsam etwas versuchen. Dann tue ich es und komme ihr entgegen, die Frau am DJ-Pult legt den härtesten Track in ihrem Set auf und mein 10 Jahre älteres Ich und ich tanzen. Ich spüre, wie es mir buchstäblich die Sicherung raushaut. Ich fühle mich eingebettet und verwoben und fürchte nichts. Die Hitze nimmt schnell zu, ich will nur das, diese leibliche Begegnung. Und ich bekomme sie. Ich bekomme sie. Ich werde später nicht fragen, was sie macht und wo sie wohnt, worüber sie nachdenkt und was sie hinter sich gelassen hat. Es reicht, sie hier zu erleben, ihre vom Solarplexus bis an die Peripherie strahlenden Bewegungen. Ich weiß, wer so tanzt, aus dem Sonnengeflecht heraus, bricht entweder innerhalb von Minuten an dem aufsteigenden emotionalen Ballast zusammen oder hat bereits abgetragen, was dort lag.
though you fade from earthly sight,
declare to the silent earth: I flow,
to the rushing water say: I am.
[Rilke]
Rund zwei Dutzend Mal friert im Januar die Windschutzscheibe von innen ein – ich verbringe viel Zeit damit, auf nächtlichen Parkplätzen zu stehen und etwas frei zu kratzen. Einmal muss ich den Pannendienst rufen, bevor ich es mit aller Gewalt doch allein hinkriege, die eingerastete Handbremse zu lösen. Alte Autos. Im Winter immer ein Problem.
Unterdessen läuft die Druckbetankung im Intensivkurs weiter, am Ende jeden Tages sehe ich in die gestressten Gesichter der anderen Teilnehmenden und habe damit eine ziemlich genaue Vorstellung, mit welchem Ausdruck ich gerade durch die Gegend steuer. Ich sehne die Stunde herbei, in der ich einen blauen Müllsack aufreißen und 7,5 kg Diagnostik darin versenken kann. Final weeks. Marching in. Die reale Arbeit in der Praxis hingegen ist weiterhin ein Genuss. Wenn ich abends die Tür hinter mir zuziehe, schüttel ich ungläubig den Kopf darüber, in ein solches Glück hinein gemasselt zu sein. Eine Klientin fragt mich am Ende der Sitzung, ob es mich belastet. Hier zu sein, das zu tun. Ich sage, nein, es entlastet mich.
Quallen gehören zu den ältesten Tieren unseres Planeten. Der Körper einer Qualle besteht zu 99% aus Wasser und ist ein Gebilde aus zwei hauchdünnen Zellschichten, einer inneren und einer äußeren. Quallen haben Sinnesorgane und ein Nervensystem, aber kein Gehirn. Dass sie trotzdem jagen, Feinde bekämpfen und sich paaren können liegt an der angemessenen Reaktion ihres Nervensystems auf Außenwahrnehmungen. Verliert eine Qualle einen Tentakel oder einen Teil des Körperschirms, bildet sie das Verlorene wieder nach, in dem sie bestimmte Zellen zuerst in ein Embryonalstadium zurückentwickelt und von dort aus in einen beliebigen neuen Zelltyp verwandelt. Es gibt männliche und weibliche Quallen und es gibt Quallen, die zwei Geschlechter haben. Diese produzieren zuerst männliche Samen, dann eine weibliche Eizelle, befruchten diese und entlassen sie ins Meer. Aus der befruchteten Eizelle schlüpft eine Larve, die sich in einem passenden Gebiet festklebt und wächst, bis sie schwimmen kann.
Am Wochenende tanze ich, in der Mitte der Menge, zwei Stunden denke ich nur an mich. Irgendwann bin ich müde und kreise langsam aus dem Epizentrum heraus auf den äußeren Rand zu. Ich komme neben einem Mann zum Stehen, der dort an dieser Stelle bereits den ganzen Abend steht. Er hat nicht getanzt, das habe ich gesehen, er steht da, während alles um ihn tobt. Ich kenne solche Nächte, ich kenne den Zustand. In der Musik sein zu müssen, in der Materie, auch wenn ich nicht in der Lage bin, daran teilzunehmen, das Wasser aufzusuchen, die anderen, mich passiv bewegen zu lassen, eine Qualle im Meer, eine Alge am Riff.
Der Mann hat Schmerzen, das ist sichtbar, manchmal zittert sein Mund, er hält die Augen geschlossen. Ich betrachte ihn eine Weile, ehe ich beschließe, zu ihm zu schwimmen. Uns trennen nur wenige Meter, ich muss nichts tun, die Strömung nimmt mich auf. Ich komme an die Seite des Mannes, mit meinem Quallenarm berühre ich ihn an der Schulter. Er öffnet die Augen, schaut auf, nickt und schließt die Augen wieder. Ich lege meinen Quallenarm zwischen seine Schulterblätter. Dann beginnt der Weinkrampf.
Faith does not push the river. Because faith is able to trust that there is a river. The river is flowing. We are in it.
Ich bleibe bei ihm, während der Krampf zunimmt, einmal, zweimal, eine Kontraktion folgt der anderen. An uns ziehen Wale vorbei, Rochen, Plankton, ozeanisches Leuchten. Ich weiß nicht, was für ein Meeresbewohner er ist, wo er sich die Schmerzen eingefangen hat, an welcher Stelle er aufgerissen ist, aber ich kann wahrnehmen, wie die akuten Minuten abebben und zusammenlaufen in eine tragbare Stille. Er holt Luft und richtet sich auf. Er ist sehr erschöpft. Als er wieder gleichmäßig atmen kann, löse ich die Hand von seinem Rücken und sehe ihm in die Augen. Er nickt noch einmal, ich schwimme weiter.
Am Samstag stürmt es den vierten Tag in Folge, ich lerne ein paar Stunden, anschließend gehe ich tanzen. Weil es der Tag vor Weihnachten ist haben sich die Veranstalter, die im esoterischen Spektrum verankert sind, ein Special ausgedacht. Ich habe das befürchtet, gehe aber trotzdem hin, weil ich mich bewegen muss und es sich in diesem Setting (ohne Drogen, ohne Handy, barfuß…) ziemlich gut bewegen lässt. So gut, dass es mir mittlerweile schwer fällt, in normalen Clubs vergleichsweise gut zu feiern.
Die erste halbe Stunde gestaltet sich für mich dann auch erwartungsgemäß zäh. Von dem Organisationsteam werden besinnliche Worte gesprochen, es ist viel von Licht und Zartheit die Rede, wir sollen dem in Pappbechern an uns ausgeteilten Kakao eine Frage stellen und einander an den Händen halten, während der Kakao vielleicht unsere Frage beantwortet. Wenn nicht, nehmen wir das gelassen zur Kenntnis und senden unsere Widerstände auf eine Reise, die uns zur Erkenntnis führen wird. Rechts und links von mir stehen und sitzen durchschnittlich aussehende und ich wage zu behaupten, auch durchschnittlich unesoterisch veranlagte Leute - wie können die sich das so ruhig anhören? Ich habe den Eindruck, auf nicht gerade subtile Weise veräppelt zu werden. Zwei Mal muss ich mir die Nase zuhalten, um ein Lachen zu unterdrücken. Im Anschluss wird ein Mantra gesummt, währenddessen ich über die Inneneinrichtung meiner Wohnung nachdenke.
Das passiert mir gelegentlich in religiösen Zusammenhängen. Sowohl in dem von mir präferierten Glauben, als auch in mir eher fremden Kontexten. Das gesamte Gebäude kann von einer Sekunde auf die andere abstrus und zusammengezimmert wirken, die Rituale, die Versenkung, das Vokabular. Meine Spiritualität und mein Atheismus wechseln sich schnell ab, ich habe mich daran gewöhnt und verlange keine Eindeutigkeit mehr. Mich in 80% der Zeit einigermaßen geliebt und in Beziehung mit dem das was ich für Gott halte, zu fühlen, ist denke ich mehr als genug.
Das Tanzen ist dann gewohnt großartig und (das muss ich den Veranstaltern lassen) eine Ausnahmeerscheinung in dieser manchmal so vernagelten Stadt. Es gibt nicht viele Locations, in denen nüchterne Menschen derart albern, hingegeben und uneitel miteinander durch die Nacht rauschen. Ich kann mich mit diesen in, eingebildetem oder realem, Licht gebadeten Leuten tatsächlich immer wieder hervorragend vergnügen. Unter den Anwesenden sehe ich meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, insbesondere eine Frau in der Mitte des Raums betrachte ich eine ganze Weile und nehme, unbemerkt von ihr, die Bewegung ihrer Arme und Beine auf. Später auf der Toilette treffen wir zufällig vor dem Waschbecken aufeinander. Du tanzt sehr schön, sage ich zu ihr. Unter ihren langen ins Gesicht fallenden Haaren befinden sich zwei schneeweiße Strähnen. Du auch, antwortet sie und schaut mich an. Einen Moment lang habe ich den starken und befremdenden Eindruck, meinem 10 Jahre älteren Selbst gegenüber zu stehen. Wir nicken uns zu und gehen wortlos auseinander.
Am Tag darauf ist Heiligabend, es kommen Freunde, der Sturm tobt weiter, es rüttelt an den Fenstern, die Zweige der Eibe schlagen gegen die Hauswände, die Mülltonnen der Nachbarn rollen über die Straße und verteilen Verpackungsmüll im ganzen Viertel. Ein nicht endendes Dauergetöse und Dinge befestigen, die sich wieder losreißen. Am nächsten Morgen offenbart ein Spaziergang im nahe gelegenen Moor Baumschäden. Beschienen von der Sonne sitze ich im Pullover auf einer umgelegten Esche und schaue auf die junge Birkenkolonie in einiger Entfernung. An den Bienenstöcken schwärmt es, ansonsten ist es ruhig. Abends lese ich ‘Orbital’ von Samantha Harvey und ein paar Zeilen meines Lieblingsfranziskaners. Der Mond wird voller, die Nächte sind blaugrau, nur wenige Tiere sind zu sehen.
Der Freitag danach beginnt verhangen, wendet sich gegen Mittag ins sonnige und bietet ausreichend Wärme, damit wir ohne zu frieren einen kleinen Berg erklimmen können. Die letzte Wanderung ist zwei Monate her. An der Kuppe oben packt ein Freund blaue Plastiktüten aus, auf denen wir die vereiste Schneedecke herunterrutschen. Der Winkel ist steil genug, Angst und Lust in etwa gleichem Ausmaß zu erzeugen. Einmal über die Kante gesteuert ist es unmöglich, noch irgendwas zu beeinflussen, das Tempo zu regulieren, die Laufbahn zu ändern. Ich lasse den anderen den Vorrang. Als sie verletzungsfrei unten ankommen traue ich mich auch.
Anfang des Monats hängen meine Bürokolleginnen rote Beutel an eine Schnur über die Kaffeemaschine und fragen an, ob ich beim Adventskalender mitmachen will. Ich lehne dankend ab mit der Begründung, nicht bei dm herumlaufen und nach kleinen niedlichen Sachen Ausschau halten zu wollen. Die beiden müssen sehr lachen. Es ist wirklich das, was ihnen allergrößte Freude macht. Ich verneige mich innerlich mal wieder und bin mehr als beschenkt mit diesen zwei unschuldigen Frauen, die immer gute Laune haben, nie eskalieren und sich extra für diese Jahreszeit eine Kollektion thematisch passender Ohrringe zugelegt haben: Flocken, Sterne und Rentierschlitten.
Währenddessen hat der iranische Freund der Freundin seinen Abschiebebescheid bekommen. Wir sind am Boden zerstört. Es gibt die Möglichkeit, zu klagen. Wir erwägen den Weg. Es wird kostenintensiv, wir sind uns noch nicht darüber im Klaren, wie intensiv. Ich will hier nicht weiter eingehen auf die Details der Absurdität, die es bedeutet, einen hervorragend qualifizierten, verhandlungssicher Deutsch sprechenden, von konkreten Arbeitgebern umworbenen jungen Mann abzuschieben in ein Land, wo er wegen der Teilnahme an Demonstrationen bereits im Gefängnis saß.
I have no life but this.
[Emily Dickinson]
Ich besuche Freunde in einer anderen Stadt, sitze an einem anderen Tisch, im Rücken ein anderes Feuer. Die Wärme dieser 300km entfernten Parallelrealität. Ein paar Stunden in der Gegenwart von intelligenten, durchlässigen Menschen zu verbringen, den Kitt unserer Gesellschaft spüren, diejenigen, die alles zusammen halten, solange es geht.
Es beginnen Wochen, in denen ich mir Dinge vornehme, aber nicht damit rechne, an ihnen teilnehmen zu können. Es schneit, die Straßen sind vereist, die Schneemassen nicht mehr verräumbar. Ich schippe eine Schneise von der Haustür zum Auto. Falls ich den Bahnhof erreiche, ist nicht sicher, ob die S-Bahn fährt, wann und bis wohin. Ab dem Samstag darauf geht gar nichts mehr, die Bewegungen der Stadt kommen zum Erliegen, das dringend benötigte Tanzen entfällt, ich stehe vor dem vergitterten Eingang der dunklen Halle und lege meinen Kopf an den Stäben ab. Ein Winter im Winter im Winter. Es schneit. Ich bin nicht oft zu Hause und wenn, wechsel ich zwischen den Skripten und diagnostischen Regelwerken, ausgebreitet auf verschiedenen Ablageflächen, der Küchenanrichte, dem Teppich. Ich kaufe keine Kerzen, denn ich habe keine Zeit, sie anzuzünden. Am Waldrang springen die Füchse auf der gefrorenen Schneedecke herum. Es schneit weiter. Es schneit ohne Unterbrechung.
Is it too late to touch you?
[Emily Dickinson]
Ab Mitte der Woche sitze ich mit 25 Menschen aus ganz Deutschland auf dem Boden eines ehemaligen Maschinenbetriebs und schaue in die Runde. Ohne Eile und Absicht sehe ich in die Augen der Anwesenden, betrachte ihre Körper, was sie tragen, was sie senden. Auch die anderen sehen mich auf diese Weise an, aufmerksam, geduldig. Dann stehen wir auf und arbeiten. Wir arbeiten 4 Tage, ausdauernd und präzise. Am zweiten Tag liege ich in der Pause mit einigen Teilnehmern in der Mitte des Raumes und ruhe mich aus. Als der Dozent zurückkehrt, macht er leise Musik an. Ich spüre die Vibration und das Aufwachen der anderen, wie sie auf die Beine kommen, ihre Schritte, den Rhythmus und die sich aufbauende Frequenz in der Gruppe. Ich wickel mich aus meinem Schal und bewege mich mit. Ich muss sie nicht starten, diese Dynamik, nicht vorangehen, ich schwimme mit diesen Leuten wie eine Qualle ohne Widerstand.
Wir arbeiten weiter bis zum Abend: Übung, Beobachtung, Korrektur, Übung. In dieser Woche sickert weiter ein, was ich lange geahnt, aber bis dahin nicht in dem Ausmaß erlebt hatte: die menschliche Begegnung ist es, die heilt. Nicht ein Gedanke, nicht eine Information, nicht eine weitere Erklärung. Die Begegnung. Berührt zu werden, angesehen zu werden, wo zu einem vorherigen Zeitpunkt nicht oder falsch berührt, nicht oder falsch angesehen wurde. Verbindung leiblich zu erleben an der Stelle, an der es einen irgendwann zerlegt hat. Diese Erfahrung ist für mich so sättigend, so verblüffend schlicht und final fantasy, dass ich noch Tage später in meiner Wohnung beim Einschlafen mit aufgerissenen Augen auf der Matratze liege und Worte stammel in die Dunkelheit: Ich bin satt. Ich bin satt.
Dabei denke ich auch an meine Körperlehrerin und die Frage, mit der ich vor einer Weile zu ihr gegangen war. Ich fragte sie, ob die konstante Sehnsucht, die ich empfinde, ein unveränderlicher Bestandteil der menschlichen Verfassung ist, ein Hunger nicht stillbar, ein Zustand unlösbar, etwas das mich immer heimsuchen, mich krümmen und auseinanderziehen wird, jeden Tag, jeden Tag, bis ich sterbe und verwandelt werde. Ob ich hinnehmen muss, das zu fühlen. Ob das der Preis ist für meine Lebendigkeit, der Preis dafür, dass ich ein Mensch bin.
Oder ob die Sehnsucht auf meiner begrenzten Fähigkeit beruht, Kontakt anzunehmen. Aus meiner Deckung heraus zu kommen und in Verbindung zu gehen, mich einzulassen auf das, was andere mir geben, mich wirklich sättigen zu lassen in Begegnung, Blick und Berührung.
Meine Körperlehrerin sagte: Letzteres.
Eine steigende Mondsichel vor blauem Horizont, am Morgen der Sonnenaufgang, die Konturen des Karwendels nachgezeichnet von Licht. Und dann wird es noch einmal sehr eng. Wenig Schlaf, aufstehen, arbeiten, weitermachen. In der Institution bringe ich mein Jahresprojekt zu Ende, die Inhalte zweier verpasster Kurstage drechsel ich in das Zeitfenster nach dem Zweitjob, es gibt Stunden, in denen ich fürchte stumpf zu werden. Mitte des Monats taut es. Der Dezember ist zur Hälfte rum, ich schneide Zweige von den umgestürzten Tannen im Wald und murmel dabei Prognosen zum Verlauf chronifizierter Störungen. Auf einer mir mental nicht ganz zugänglichen Ebene erkenne ich, in diesem Moment umgestaltet zu werden, eine Umgestaltung zu erlauben, die im vorletzten Sommer begonnen hat und sich, unterschiedlich hart von mir ausgebremst, bis in diesen Winter hinein fortsetzt.
that we must suffer, suffer into truth
we cannot sleep
and drop by drop
at the heart
the pain of pain remembered comes again
and we resist
but ripeness comes as well
Ich wünschte, ich wäre eine Person, die den Winter schätzt. Für seine Kontraste. Oder die Optik. Als Pausetaste zwischen zwei Sommern oder irgendeinen Gedanken, der mir plausibel darlegt, warum ich sie brauche, diese Jahreszeit. Und hört mir auf mit Dankbarkeit. Ich bin dankbar. Ich war dankbar, lange bevor es ein mindset wurde, das in Onlinekursen und auf Bali-Retreats für 5000 $ die Woche gedownloaded werden kann.
Sehr früh an diesem Morgen stehe ich im Schneeregen vor einem Gebäude, in dem ich seit einiger Zeit druckbetankt werde. Neurologische Auffälligkeiten, zerebrale Krampfanfälle, Intoxikationsdelir, degenerative Erscheinungen im fortgeschrittenen Stadium. Ich weiß, das ist der Deal. Wer mitspielen will muss da durch; den Korridor des medizinischen und pharmakologischen Terminologie-Pressings. Der Gleichschritt dieser Wochen besteht folglich aus Arbeiten, Lernen, Schlafen, repeat. Ich versuche, meine Sinnlichkeit aufrechtzuerhalten, aber es gelingt mir nicht oft. Abends liege ich mit brennenden Augen im Dunkeln und will nichts mehr lesen, hören, sehen, wissen. Vor allem nichts mehr wissen. Gelegentlich überkommt mich der Anspruch, gesellschaftlich und politisch einigermaßen informiert zu bleiben, aber die Inhalte der Nachrichten ekeln mich an, die Gespräche meiner Mitfahrenden in der U-Bahn ekeln mich an, die Trailer dessen, was mir als Unterhaltung angeboten wird, ekeln mich an. Mir dämmert langsam; ich komme um die Reduktion nicht herum. Ich muss akzeptieren, in der folgenden Zeit als ein sehr zurückgestutztes, überwiegend kognitiv agierendes Wesen durch die Gegend zu steuern: ein Winter im Winter.
Ich kann auf einiges verzichten, aber was mir nicht abhanden kommen darf, ist die Nähe zu mir. Diese Schatulle - Haut, Blut, ein paar Bewegungen und darin ich - zu halten, zu betasten und zu tragen. Auch auf die Gefahr hin, vollends zu verkitschen steigere ich in diesen Tagen noch einmal die Häufigkeit meiner Umarmungen. Berühre Freunde, wenn ich sie denn irgendwo für 5 Minuten treffen kann, am Arm, an der Schulter, am Hals, einem von ihnen habe ich sogar ins Haar gefasst.
Our bodies and our hearts are given us only once.
Meiner neuen niederbayerischen Bekanntschaft sage ich, dass sie das schönste und hemmungsloseste Lachen hat, dass ich je gehört habe. Sie bringt es fertig, eine Anekdote, die ich aufgrund des Dialekts gar nicht richtig verstehe, so zu erzählen, dass erst sie selbst und dann ich in eine anhaltende Lachattacke ausbreche. Noch in der Woche zuvor war sie in einer der Pausen in dem schneeverregneten Gebäude auf dem Gang gestanden, buchstäblich nach Worten suchend in der Beschreibung der Tatsache, dass sie von ihren Geschwistern geschnitten wird, seit sie im Familienkreis etwas erwähnt hat, das alle wissen, aber niemand wissen will. Es ist immer das Gleiche. Schmerz verbindet nicht. Er trennt. Bis sich jemand findet, der seinen eigenen Schmerz zu Ende gefühlt hat. Dieser Mensch kann dann auch den Schmerz der anderen ertragen.
Als ich am Abend aus der Stadt zurück komme, hat die Nachbarin etwas vor die Tür gestellt. Kleine Rosen aus ihrem Garten, konserviert vom Frost in Verknospung und Blüte. Ich sehe sie gehen, meine Nachbarin, durch die kalte Luft vor schwarzem Himmel, das Ikebana ihrer Schritte im Schnee, den Geruch von November an den Händen. Es liegt, ich gebe es zu, in dieser Handlung eine Anmut und Miniatur, die eingebettet in die winterliche Landschaft, zumindest optisch, doch einen Reiz hat.
Während meines Spaziergangs über die Felder komme ich an einigen verpackten Heuballen vorbei, dazwischen steht ein Rehkitz und sieht mich an. Es hat noch keinen Fluchtreflex und lässt mich bis auf wenige Meter herankommen. Als ich mich ins Gras setze, legt sich das Kitz ab, schaut noch ein paar Minuten und wird dann schläfrig. Wir verweilen nebeneinander und die Sonne wärmt meinen Nacken.
Unter der Woche streife ich durch ein konventionelles Kaufhaus und entdecke dabei dieses Unterwäschenmodell. Das hätte es vor zehn Jahren noch nicht gegeben. Bei allem, was in letzter Zeit schlechter geworden ist - zumindest die in mancher Werbung dargestellten Frauenkörper sind etwas näher an der Realität dran.
Am Samstag entzündet ein Freund zwei Lagerfeuer in seinem Garten und lädt alle ein; die Geister der Vergangenheit, den harten Kern der Gegenwart, Versprengte und neu Hinzugekommene. Man sagt mir, dass ich in den ersten fünfzehn Minuten auf einem Fest immer recht überfordert und erschreckt aussehe. Hier decken sich Fremd- und Selbstwahrnehmung. Ich glaube nicht, einen vernünftigen Eindruck hinterlassen zu haben bei der Person, die mich gleich an der Tür in ein Gespräch verwickelte. Später am Abend, als ich etwas im Magen habe und behaglich in einem der Feuerkreise sitze, bin ich restlos eingegangen in diese selten vorkommende Vermengung verschiedenster Menschen und kann mich gar nicht mehr losreißen aus den Erzählungen, Fragen und Annäherungsversuchen. Der Mond in dieser Nacht ist voll, die partielle Finsternis bemerke ich erst auf dem Heimweg.
Wenige Stunden zuvor hatte ich, den Block auf meinen Knien, mitgeschrieben, während jemand weiter vorn im Raum zusammenfasste, mit welchen Botenstoffen ein synaptischer Spalt in der Akutphase diverser Erkrankungen geflutet wird, wie die Symptomkomplexe differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind und warum das Abklingen der akuten Phase nicht zwangsläufig eine Linderung der Beschwerden mit sich bringen wird. Die Informationsvermittlung zieht jetzt, in den letzten Monaten vor der Prüfung, auf die Überholspur und findet sehr verdichtet statt. Ich habe den Stoff vor etwa zwei Jahren einmal versuchsweise gelernt, greife auf ein paar erhalten gebliebene Segmente zurück und korrigiere anhand des Vortrags die alten Skizzen. In der Pause stehe ich mit einer jungen Frau zusammen. Sie spricht einen sehr derben niederbayerischen Dialekt. Ich finde sie sympathisch, hartnäckig und versehrt auf eine Art, die nur bestimmte ländliche Regionen und einschlägig dysfunktionale Familien hervorzubringen in der Lage sind. Wir beschließen, zusammen zu lernen. Ich will, dass sie durchkommt und ich will mit ihr befreundet sein.
Am Morgen danach ziehen wir früh los in eine weiter entfernt gelegene Gegend, einen Gebirgszug von samtiger Schönheit und hinterhältigen Härten. Gleich die erste Stunde des Aufstiegs scheint wie dafür gemacht, den Willen von unentschlossen hier her Gekommenen zu brechen. Geröllfelder und Scharten ohne eine einzige Windung, der Weg führt so direkt wie möglich aufwärts durch ausgespülte Rinnen zwischen Fels und Kar. Seitlich ragen Schichten des Alpinen Muschelkalks aus ineinander geschobenen Bergplatten. Der Muschelkalk stammt aus der ältesten Periode des Erdmittelalters und war einst Sediment des Meeresbodens. Es ist wie auf ein altes Organ unseres Planeten zu schauen, die versteinerte Form eines vor langer Zeit von Tiefseetieren bewohnten Lebensraums. Der Weg zieht sich eine Senke hoch, ein kilometerweit zu sehendes Band, eingebettet in den Kessel vor dem eigentlichen Joch. Als zum ersten Mal die im Wind kauernden Gämse an den Bergflanken in den Blick rücken, wird es leichter, ich lege meine Hand in rostig verfärbtes Gras. Steppenähnliche Wiesen und Flechten decken das Gestein, die Sonne leuchtet die Hügel in einem niedrig einfallenden Winkel aus. Wir werden später, in den eisigen Temperaturen am Gipfel, nah zusammenstehen, zitternd, mit tauben Fingern und Lippen, auf dem Foto jedoch ist lediglich gnädig ankommendes Licht zu sehen, die letzte schwach rosa Herbststrahlung auf sechs strapazierten und lachenden Gesichtern.
Ich hab eine Weile gebraucht, um zu verstehen, dass ich trauere. Dass die pauschale Bedrückung, die ich seit dem 07. Oktober empfinde nichts mit meinen konkreten privaten Umständen zu tun hat. Etwas in mir ist weiterhin entsetzt und am Boden zerstört. Vor dreizehn Jahren haben ein paar Freunde und ich in Tel Aviv zufällig eine kleine Gruppe Israelis kennengelernt. Wir waren nachts in einem etwas abgelegenen Viertel herumgelaufen und dabei in einer Ausstellung gelandet, in deren Rahmen verschiedene Künstler etwas vorlasen oder performten, ich erinnere mich nicht mehr genau an den Ablauf. Im Anschluss daran standen wir mit den Israelis vor der Galerie, sprachen miteinander und gingen dann zusammen essen. In den folgenden drei Tagen und Nächten trafen wir sie immer wieder, Tel Aviv ist ja nicht groß, einmal in einer Jazzbar, ein anderes Mal in dem einzigen Lokal, das an Pessach geöffnet hatte und ich glaube, in einer Nacht nahmen sie uns mit in einen Club. Keiner der Israelis war mit der Siedlungspolitik ihrer Regierung einverstanden, alle engagierten sich auf irgendeine Weise für gerechtere Lösungen in den aktuellen Konflikten, demonstrierten für bezahlbare Mieten oder schüttelten den Kopf über die Absurdität, gegen Menschen kämpfen zu müssen, in die sie sich unter anderen Umständen verlieben würden. In allen Gesprächen wurde differenziert zwischen Hamas und der restlichen Bevölkerung. Einer der Männer hatte, um während seines Militärdienstes nicht aktiv an Kampfhandlungen teilnehmen zu müssen, drei Jahre im Garten des Stützpunkts Gemüse gepflanzt. Andere hatten den Dienst regulär durchlaufen, kritisierten aber jeden Kurs, der die Rechte der Palästinenser nicht mit einschloss und deren Lebensgrundlagen weiter beschnitt. Die Biografien dieser Israelis und ihrer palästinensischen Kollegen und Bekannten waren damals schon derart kompliziert, zersetzt von Angst, in ständiger Bemühung eine heillos verfahrene Situation, die niemand von ihnen aktiv gewählt hatte, zu verbessern oder zumindest nicht zu verschlimmern, dass eine weitere Eskalation, weitere Gewalt, eigentlich nicht mehr vorstellbar waren. Ich denke in diesen Wochen häufig an sie und die Schwierigkeiten, die sie auf so vielen Ebenen meistern müssen.
Ich habe keine Palästinenser kennengelernt, während der zwei Wochen, die ich in Jerusalem und Tel Aviv verbracht habe, bin aber sicher, dass auch sie mehrheitlich in Bars sitzen, vor Galerien herumstehen, sich in Menschen aus der ganzen Welt verlieben wollen und im Grunde keine Lust haben, zu töten oder getötet zu werden.
Am Dienstag gehen wir auf einen der mir liebsten Berge in diesem Gebirge, eine gelbe Graslandschaft, stetes Gehen, 27 Grad, Schlaufe um Schlaufe, Serpentine um Serpentine, die immer gleichen trockenen Wendungen, ein vertikal aufgerichtetes Labyrinth, versengt von der Oktobersonne.
Ich denke an die 11 konzentrischen Kreise und 34 Kehren des Labyrinths in der Kathedrale von Chartres aus dem 13. Jahrhundert. Ein langer Weg zum Zentrum hin, in dessen Mitte der finale Kampf mit dem Minotauros wartet, das Mischwesen, das wir selbst sind, unsere größte Furcht, unser hellstes Licht. Ich bin vor zwei Jahren durch eine Nachbildung dieses Labyrinths gegangen. Die Kehrtwenden sind sehr eng, sie erfordern eine totale Umkehr und lösen manchmal eine Art psychomotorischer Irritation aus. Wenn andere Menschen gleichzeitig das Labyrinth begehen, treffen sich an den Umkehrpunkten die Arme, Schultern und Blicke der Menschen. Ich weiß noch, wie eine Frau in einer dieser engen Wendungen unvermittelt meine Hand in ihre genommen hat.
Am Wochenende zuvor hatte ich getanzt, ausgelassen, unruhig, rastlos, das hat mit dem Ende des Sommers zu tun, das kann ich mittlerweile einordnen. Die Halle war voller als sonst, ich ging absichtlich in das Epizentrum der Tanzenden, wo sich die größte Enthemmung einstellt, die Leute am wenigsten steuern, was sie tun. Gegen Ende, nach mehreren Stunden konstanter Bewegung, trat für einen kurzen Moment eine Form von Entgrenzung ein und für den Zeitraum von etwa zwanzig Sekunden war ich nicht sicher, ob ich in meinem Körper tanze oder in dem Körper der anderen.
This is a waltz thinking
about our bodies
what they mean
for our salvation
(Thom Yorke)
An den Vormittagen danach ist das Licht milchig, weiße Schlieren vor blauem Grund, die Nachbarin bringt einen Strauß geschnittener Dahlien aus ihrem Garten, weil in meinem Garten diese Blumen nicht gedeihen. Die Dahlien sind die florale Verbindung, die ich zu meiner nicht mehr lebenden Großmutter aufrecht erhalte. Alles andere, das ständige Backen, Singen, Kräuter Sammeln und Kinder Herumtragen ist bei mir nicht auf fruchtbaren Boden gefallen, die Dahlien aber und die Hitze zwischen den langen Beeten vor ihrem Haus.
An einem dieser warmen Oktoberabende schlendere ich mit einem Freund durch die Straßen Richtung Schlachthofviertel, in T-Shirt, Rock und Turnschuhen als wäre es Mitte August. Ich bleibe eine Weile stehen unter dem verhaltenen Sound der Nachtbeschäftigung der Stadt, während mein Kopf die Diagnosekriterien, Ätiologie und Behandlungsoptionen für verschiedene psychische Erkrankungen wiederholt. Am Bahnsteig später und in der U-Bahn liegen die Manuale und Tabellen auf meinem Schoß. Ich weiß nicht genau, wie es gehen soll, aber auf irgendeinem Weg muss dieses Material in mich hinein. Während ich andere Sachen mache.
Bei der Fortbildung am nächsten Morgen erzählt die Dozentin, wie sie in den Neunzigern mit einer offenen Bauchwunde und Granatsplittern in den Eingeweiden 2 km übers Feld zu ihrem Team zurückrannte und dabei nichts wahrnahm, als ein gedankenloses, manisches high. Erst auf der sicheren Seite im Versorgungszelt fiel ihr Blick auf das blutgetränkte Hemd an ihrem Leib und schlagartig setzten die Schmerzen ein. Sie ist eine ziemliche Erscheinung, diese Dozentin und sie wird uns ein Jahr lang eine Methode lehren, um mit Menschen zu arbeiten, deren Sprache wir nicht sprechen, deren Geschichte wir nicht kennen, deren Werte wir vielleicht nicht teilen und die uns doch in der wichtigsten Angelegenheit gleichen: sie haben einen Körper und Gefühle.
Zu dem Zeitpunkt ist der Angriff auf Israel bereits in vollem Gange. Als wir in der Pause auf den Hof treten, schaut einer der Teilnehmer auf sein Handy und sagt: das kann doch gar nicht sein.
Neu in diesem Jahr sind bunte Trinkblasen, die junge Frauen am Schürzenband ihres Dirndl tragen. Ich weiß nicht, ob sich darin Alkohol zum Vorglühen befindet oder ob es darum geht, die Wasserzufuhr zwischen den Bierphasen zu gewährleisten. Mich erinnern die Trinkblasen in erster Linie an Beutel, die ich in Krankenhäusern an verschiedenen Patienten im Endstadium ihres Lebens gesehen habe.
Der Tag, an dem ich diesen Text schreibe fängt kalt an und wird dann immer heißer. Sie sind daher fest verschnürt und mehrlagig gewandet, die Menschen an diesem Morgen in den U-Bahnen. Die Bahnmitarbeiter tragen komplette Uniform mit Leuchtstreifen und Windjacke, die Jugendlichen von der Landwirtschaftsschule dicke Kapuzenpullover mit dem Logo der Ausbildungsbetriebe, während Leute wie ich mit Schal über Sommerkleidkompromissen den Herbst leugnen und Wiesngänger in unterschiedlicher Entschiedenheit darauf hoffen, dass ihnen später schon warm wird, in fünf oder sechs Stunden.
Relativ viele Münchner tragen Urlaubsspuren in diversen Verblassungsgraden am Leib; bedenklich dunkel gebräunte Haut zwischen T-Shirtausschnitt und Rucksack, nachblutende abgeklebte Tattoos auf Unterarmen, Sonnenbrillen, die in Campingshops am Mittelmeer gekauft wurden, nachdem die eigene irgendwo liegen geblieben ist - vermutlich in einer Tankstellentoilette am Brennero. Am untrüglichsten sind die Sommerwochen jedoch in den Augen zu sehen, in verwaschenen Blicken unter schweren Lidern, dem vielen Lehnen an Laternenmasten und Händchen halten, wenn grade jemand da ist zum Händchen halten. Eine deutlich auszumachende und in dem Ausmaß selten vorkommende Unterspannung in der Körpermasse dieser Stadt.
So kommt es dann auch, dass eine S-Bahn einfährt, während ich in der Sonne am Gleis stehe, in Gedanken bin, die S-Bahn betrachte, die Ein- und Aussteigenden, das Schließen der Türen und wie sie abfährt. Ohne mich. Erst als sie fast verschwunden ist am Horizont fällt mir auf, dass ich drinsitzen sollte in dieser S-Bahn und nun weitere zwanzig Minuten tatenlos hier verweilen werde. Ich schätze mich glücklich. Wann war ich das letzte Mal so neben der Spur, so ziellos, langsam, eine Tagediebin und Liebhaberin der Versunkenheit vor dem Herrn.
An einem kühlen Sonntag stehen wir auf einem Berg vor der Ruine einer bis auf die Grundmauern abgetragenen Alm, die Holzwände sind wohl schon vor Jahrzehnten eingestürzt oder verbrannt. Innerhalb des von Steinen umgrenzten ehemaligen Wohnraums hat sich ein Mikroklima gebildet, in dem rot und violett leuchtende Sträucher gedeihen. Sie scheinen nur die 2-3 Grad mehr Wärme und etwas Windschutz zu benötigen, um jetzt im Herbst ein Farbspektrum hervorzubringen, das hier sonst nicht existiert.
Unterdessen ist in der Institution ein neuer Kollege hinzugekommen. Er stellt sich als ein außergewöhnlich lachfreudiger Mann heraus, eine Kichererbse und zu trockenen Bemerkungen neigende Ungewöhnlichkeit in diesem Haus der ernsten und gründlichen Gesichter. Auch wegen ihm denke ich in den letzten Wochen häufig an Heinrich Heine, seine Reise von München nach Genua, die Postkutsche durch Norditalien und wie er dort an schwülen Nachmittagen in der jeweiligen Provinzkirche liegt und notiert:
„Man mag sagen, was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es lässt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolce far niente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, und die Madonnen nicken so verzeihend aus ihren Nischen.“
Es gab eine Zeit, in der ich mit toten, durch Europa reisenden Schriftstellern eine solch fortgeschrittene Obsession entwickelt hatte, Personal vergangener Epochen dem gegenwärtigen soweit vorzog, dass schließlich auch mir eine gewisse Schädlichkeit darin auffiel und ich meine mangelnde Kontaktbereitschaft der lebenden Umwelt gegenüber überdachte.
Meine Kontaktbereitschaft ist mittlerweile moderat bis gut ausgeprägt, vor allem wenn ich mit ein paar Vertrauten zwei Stunden durch Wald und Dickicht einer abgelegenen Gegend spazieren kann. Am erwähnten Sonntag folgte der Ruine ein selten begangener Pfad, der vorbei an feuchten, morschen Bäumen und dunkelgrünem Farn bis runter an das Wasserbecken eines Flussarms führte. Alleine wäre ich nicht hineingegangen, an diesem bewölkten und reichlich kalten Tag, die nackte Haut der anderen jedoch und ihre platzenden Münder als das Wasser ihren Bauchnabel erreichte…
Ich denke, das ist der Sinn von Herden, Sippen, Schwärmen und zusammen lebenden Säugetieren, auch den vernunftbegabten Säugetieren: mitzugehen, wenn die anderen ziehen, sich verführen zu lassen von ihrer Bewegung, reinzuschlittern in Zustände, Gefühle und Reifungsgrade, die allein nicht zu erlangen sind.
Und während das seit einigen Jahren mit zunehmender Bedeutung für mich gilt, ist parallel dazu für andere das genaue Gegenteil nötig; rauszugehen aus fremden, nicht gewählten Dynamiken und Zuständen, sich eine Weile zu separieren, das eigene Urteil zu schärfen und die Verführung in der Begegnung mit sich selbst zu suchen.
Es hilft nun mal nichts, wie zwei Hobbits bei ihrer Wanderung durch Mittelerde bemerkten, den Elben eine Frage zu stellen. Sie antworten immer mit: Ja und Nein.
In ein paar Tagen ist Oktober, es wird wieder dieses spezifische Herr der Ringe Licht über den Bergen flackern, die Sonne horizontal einfallen durch das Blattwerk und der erste Schnee auf den Zacken der Gipfel liegen. Ich wünsche mir Unsterblichkeit. Immer weiter eingesponnen zu sein in die Erscheinungen dieser Erde, zu dokumentieren, wie sie aufprallen an mir und den anderen, unsere Zeit auf dieser nicht endenden Rotation, Hand in Hand mit der dunklen Zeitlosigkeit.
Am Abend braten wir Auberginen und schichten sie in eine Auflaufform. In den Pinien vor dem Fenster sitzt ein Kuckuck und ruft, ihm antworten Elstern, Käuzchen und Grillen, die den Garten um das steinerne Haus bewohnen. Wir sind eines der wenigen Lichter auf dem Hügel, es ist dunkel, der Mond scheint nicht.
Nach dem Essen, die Teller stehen noch auf dem Tisch, nimmt einer der Anwesenden das Akkordeon zur Hand und spielt Pop der späten Neunziger, langsam und getragen, die Melodien dehnend bis sie zu etwas werden, das Folklore sein könnte oder Fado. Ich sitze auf dem Vorsprung des Kamins und sehe dem Akkordeonspieler dabei zu, müde, die Lippen manchmal eine Strophe mitsingend, wenn ich nicht seit zwanzig Jahren in diesen Mann verliebt wäre, ich würde mich jetzt verlieben.
Am anderen Morgen mache ich Pfannkuchen, während mir die Freundin den Espresso reicht. Später geht sie im von Pinienzapfen übersäten Hof auf und ab, einen Stab über ihren Rücken schwingend, sich darunter duckend, wendend, eine Choreographie wie aus der Feder eines Samurai, geschrieben für Frauen mit langen, hellen Haaren und entschlossenen Gedanken. In wenigen Tagen wird sie damit zu sehen sein, auf einer Bühne in Deutschland, weit weg von hier.
Unterdessen befestigt jemand auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes eine Hängematte. Die sachgerechte Verknotung des Seils am Baum gibt Anlass zu einem zeitlich überschwänglich geführten Austausch bisheriger Erfahrungen mit Knoten für verschiedene Lebenssituationen, während sich die Kaffeetassen weiter leeren, der Tag dahin geht, neu gelernte Worte und Phrasen angewandt werden. Der Luxus über nichts zu reden. Nichts von Belang. Mit großer Liebe und Zuwendung füreinander und für diesen sonnigen Morgen auf einem einsamen Hügel. Es werden sich in den folgenden Stunden unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weise dem Gefühl des Gewogen Werdens in der Hängematte überlassen und unterschiedlich lang darin verbleiben.
Ich denke an das Wasser, als ich in der Hängematte liege, an den Strand gestern und die Senioren, die mit ihren wunderschönen, alten Körpern daran entlang flanierten, uns später am Kassenautomat Münzen wechselten und winkten, bis wir durch die Schranke des Parkplatzes fuhren. Einen Moment lang war ich in totaler Sprach- und Handlungslosigkeit vor dem Automat gestanden, überfordert mit den bunten Hinweisen und Pfeilen, auf die Nachfrage der hinter mir Wartenden kein Wort heraus bringend, weder in der Landessprache noch in meiner Muttersprache, bis die Senioren fürsorglich das Ruder übernahmen, alle Knöpfe drückten, wechselten und lächelten bis ich aus meiner Zungensperre wieder raus war.
In der Hängematte werde ich schläfrig, ich ziehe mich zurück in den Schatten meines Zimmers, wo zwei Geckos diagonal über die Wände laufen, um die Ecke schauen, wenn sich Türen öffnen und ihren fabelhaft beweglichen Rumpf in Richtung des jeweiligen Interesses biegen. Ein Königreich für einen solchen Rumpf. Draußen zieht ein Gewitter auf, es wird den gesamten weiten Himmel überziehen, erst lautlos und fern, dann nah einschlagend, Blitz und Donner keine Sekunde mehr voneinander getrennt. Ich erinnere mich an die alte, vor einiger Zeit in dieser Gegend angetroffene, Amerikanerin, die auf meine Frage, warum sie hier her ausgewandert war, antwortete: Wegen der dramatischen Gewitter. Wegen der Gefühle der Protagonisten in den Filmen der 60‘er Jahre, entfacht und ausgehalten unter zu heißen Nachmittagen und ausgetragen unter solchen Stürmen nach Mitternacht. Ich kenne die Filme, von denen sie gesprochen hat. Ich weiß, was sie damit meint und frage mich, ob sie bekommen hat, was sie wollte. Der Mann an ihrer Seite war sehr dünn, als ich die beiden kennenlernte, sie pflegte ihn, zusammen mit einer Frau aus dem Dorf. Die Töpferei hinter dem Haus und die Werkstatt lagen brach, unbenutzt, seit vielen Jahren, ein Garten voller Skulpturen und Schalen, die niemand mehr kaufte, das gemeinsame Leben zusammengeschrumpft auf einen minimalen Radius. Es endet alles. Irgendwie muss es enden. Zum Schluss endet es sehr konkret. Ich nehme Richard Rohr zur Hand und lese:
filling the tragic gap
with pure presence
often in the presence
of nothing or even death
Das Gewitter rauscht noch eine Stunde weiter, dann geht es über in einen feinen konstanten Regen, die bis dahin trockenen Felder werden später in einem etwas dunkleren Braun den Hügel strukturieren. Es wird schon wieder warm. Auf das Wetter hier ist Verlass.
Am andern Morgen gehe ich spazieren, die auf dem Schilf landenden Libellen sind purpurrot, am Wegesrand blüht wilder Fenchel, dessen Blüten ich zwischen meinen Fingern zerreibe. Wie wenig Überwindung diese Landschaft von mir verlangt. Der Wärmegrad des Wassers ist nur Einladung und keine Herausforderung, die Luft ist mild, die Pflanzen sind mild, die Begegnungen mit den Einheimischen mild, alle wollen freundlich sein und sind es. Ich weiß, dass auch hier Härte und Ausgrenzung, das Erstarken faschistischer Parteien und die Folgen erodierender Lebensräume dauerhaft präsent sind. Ich werde während meines kurzen Aufenthalts nicht damit konfrontiert, weil ich eine Hautfarbe habe, die mir viele Türen öffnet sowie die Statussymbole eines geregelten Einkommens und Verhaltensweisen, die niemandes Weltsicht herausfordern. Es ist nicht gerecht, dass ich aufgenommen und angelächelt werde und andere nicht. Dennoch trifft und beruhigt mich diese anhaltende, großzügige Zugewandtheit und eine unspezifische, aus meinem Herkunftsland mitgebrachte, Fracht fällt von mir ab.
Am Nachmittag danach gehen wir die Straßen rauf in das Dorf auf dem nächst gelegenen Hügel. Das eine Lokal, in dem sich alle Bewohner des Ortes treffen, fungiert tagsüber als Frühstückscafe und Eisdiele, am frühen Abend als Tresen für den Aperitif und ab 21 Uhr als Karaokebar. Ein Mann singt mehrere Schlager und bekommt von uns viel Applaus, seine Freundin drängt uns, nach vorne zu kommen, wir lehnen mehrmals dankend ab, lassen uns aber nachhaltig euphorisieren von dem Sound der Platten unserer Eltern. Disko. Am anderen Tag bei einer Fahrt durch das Hinterland fällt auf, wie häufig hier ein bestimmtes Modell eines Elektroautoherstellers in der Farbe Weiß gefahren wird. Vielleicht gab es da vor einiger Zeit ein Angebot. Es muss eingeschlagen haben wie ein Bombe.
Es bleibt dann nicht aus, dass wir einmal länger an einem Tisch zusammensitzen und Wissen, Halbwissen und ehemaligen Rechercheeifer bezüglich des römischen Imperiums des 5. Jahrhunderts kurz vor seinem Niedergang zusammentragen. Die ausgegrabenen Fußbodenheizungen römisch angelegter Bauernhöfe in den bayerischen Bergregionen, Erbrecht, Versorgungslinien, Rasur, diese ganze abartig fortgeschrittene strukturelle Überlegenheit. Und wie das hier später kein Imperium mehr ist, aber immer noch Menschen wie uns in sich hineinmagnetisiert. Und wie ab dem 18. Jahrhundert lauter junge deutsche Schreiberlinge mit Sehnsucht in den Augen über die Alpen rennen, verklärte Briefe nach Hause schreiben, Reisetagebücher und Romanfragmente, in denen sie mit Schrecken und Lust feststellen, nur ein wenig Sonne, Ästhetik und Sauerkrautpause zu benötigen, um sich besser zu fühlen, und eben nicht Ehre, Karriere und was ihr Vaterland ihnen noch alles eingebläut hatte.
Wir übergeben die Schlüssel und verabschieden uns, die Wildschweinjagdsaison beginnt. Beim Zurückkommen bewegt ein sachter Wind die Hibiskussträucher, deren Blütenköpfe aufgegangen sind in meiner Abwesenheit. Es ist still in der Nachbarschaft, über dem Feld kreisen zwei Milane. Im Briefkasten liegt ein Schreiben der Deutschen Rentenversicherung, sie fragt, was ich im Oktober 1997 getan habe. Ich weiß es nicht, liebe Rentenversicherung. Ich nehme an, und hoffe, nichts.
Ich bin oft an diesem Fluss gesessen und oft darin geschwommen. Was ich nie getan habe, ist mich in ihm treiben zu lassen. Gelegentlich an heißen Tagen beobachte ich, wie einzelne Menschen das Ufer mehrere hundert Meter aufwärts gehen, an der breitesten Stelle hinein waten und in der Mitte des Flusses, wo die Strömung am stärksten ist, loslassen. Die Strömung ist reißend.
An einem Tag in dieser letzten Augustwoche, nach zwei Jahren in beobachtender Haltung an den Kiesbänken, glaube ich, bereit zu sein. Mir ist nicht klar, wie genau ich wieder aus der Strömung herauskommen soll, wie weit der Fluss mich tragen wird, bereits das Waten zu der tiefsten Stelle fühlt sich nach fortschreitendem Kontrollverlust an, sobald das Wasser meine Brust erreicht, werde ich mich nicht mehr halten können. Es ist wichtig, mit dem Kopf oben zu bleiben, um Baumstämmen und größeren Steinen auszuweichen, die Geschwindigkeit des Wassers lässt mich allerdings erahnen, dass ich eventuell nicht ausweichen können werde, selbst wenn ich ein Hindernis rechtzeitig sehe.
Vielleicht könnte ich jetzt noch umkehren, vielleicht könnte ich es im nächsten Sommer versuchen, mit mehr Mut und mehr Wissen über den Fluss, mit Erfahrungen, die diesen Kontrollverlust zu etwas machen, das sich weniger nach Kontrollverlust anfühlt. Das Wasser erreicht meine Brust, es ist kalt, auch jetzt im August, gekühlt von den Nächten des Karwendels und Schmelzwasser, das bis auf wenige Wochen konstant von den Flanken der Berge herunter rinnt. Ein paar Sekunden noch kralle ich die Zehen in die Steine am Grund des Flussbetts, ehe ich nichts mehr aufhalten kann. Die Bewegung ist stärker, ich überlasse mich.
Als ich später über das heiße Kiesbett zurücklaufe zum Ausgangspunkt, leuchtet eine kleine, aufgeschürfte Hautstelle an meinem Ellbogen, ansonsten ist alles intakt und heil. Ich habe mich nicht sehr weit treiben lassen und nach etwa einer Minute den Fluss runter das linke Ufer angesteuert. Ich denke es wird noch eine Weile dauern, bis das Mitfließen an sich zu etwas wird, dem ich vertraue.
In den Tagen darauf hat es endlich dreißig Grad, das geschnittene Heu wird gewendet, die Kühe liegen matt im Feld, auf den Wegen huschen die Eidechsen ins Gras. Der Halbmond hängt im Himmel, blass am Nachmittag und fantastisch weiß in der Dunkelheit, ich bin wunschlos glücklich, zwei Monate im Jahr kann ich das wirklich sagen: Ich wünsche nichts, es ist alles hier. Freunde kommen zu Besuch, wir sitzen Melone essend am See, es wird ein Floß gebaut und der untergehenden Sonne zugesehen. Einige Tage zuvor hatte ich mit einer Körperlehrerin den Atemraum entlang meiner Rippen erkundet. Seither empfinde ich auf der Vorder- und Rückseite des Herzens eine Weitung und es sind Momente wie der Melonen triefende Abend am See, in denen der Sommer, die Freunde, das Schnitzen am Floß über den Atem direkt in mich einzusickern scheinen.
Ich vermute, dass solche Sensationen für manche Menschen recht normal sind und ich lediglich ein solches Aufheben darum mache, weil der Weg in meinen Körper hinein, ein so langwieriger, tastender und verstörter war.
Bei einer Wanderung in der Woche zuvor kommen wir an der Gedenktafel für den Wildschütz Georg Jennerwein vorbei, tragen alle Informationsschnipsel, die wir zu seiner Geschichte haben, zusammen, können aber erst beim Nachlesen zu Hause das Bild vervollständigen. Etwas oberhalb der Tafel treffen wir auf einen Fels, der unerwartet schwierig zu erklettern ist, eine halbe Stunde darf sich jede und jeder mit der eigenen Angst konfrontieren, später dann mit dem Abklingen der Angst und wie viel Käsebrot, Wasser und Schokolade nötig sind, um wieder in einen einigermaßen stabilen Zustand zurückzufinden. Nur eine Person in der Gruppe meistert den Fels ohne mit der Wimper zu zucken. Was soll man sagen: ein Tier, eine Maschine.
Zwei Nächte lang habe ich schlechte Träume, die mit der Prüfung im nächsten Frühjahr zu tun haben. Ich beginne, die Prüfung am Horizont wahrzunehmen, den Stoff, der bis dahin noch in mich hineinmuss, die Stunden, die ich dafür am Schreibtisch festkleben werde. Zwei Tage lang ringe ich den Reflex nieder, aufgrund der Träume meine Sommerpause abzubrechen, die Ordner auf den Tisch zu knallen und umgehend loszulegen.
Es würde mir so schaden. Es würde mir so unendlich schaden.
Einer der letzten Stürme hat den halben Hagebuttenstrauch ausgehebelt und umgelegt. Der Hagebuttenstrauch ist ein altes, sehr großes Exemplar, eher ein kleiner Baum, als ein Strauch. Ich bespreche mich mit etlichen Leuten und entscheide letztlich, den Strauch wieder aufzurichten und mit Spanngurten an der stehengebliebenen Hälfte zu befestigen. Die Wurzel scheint nicht komplett abgerissen, vielleicht kann sie die Hagebutten bis zum November weiter versorgen, so wäre zumindest die Ernte gerettet.
Es ist nicht einfach, 120 tanzwillige Menschen vom Tanzen abzuhalten. Haben sie einmal bei Regen und Unwetter den Weg durch die halbe Stadt auf sich genommen, Eintritt gezahlt, das Handy ausgeschaltet, die Anoraks zusammen geknäult und den Rucksack in die Ecke gepfeffert, braucht es eigentlich nur einen durchschnittlich talentierten DJ und durchschnittlich gute Musik, um diese Menge für mehrere Stunden bei der Stange zu halten. Ich bin daher einigermaßen verwundert, als ich mich nach 45 Minuten, in denen ich aufrichtig versuche, die Musik in Bewegung umzusetzen, am Rand der Halle wiederfinde und tatsächlich nicht tanzen kann. Etlichen anderen scheint es ebenso zu gehen, ich sehe sie irritiert auf der Fläche stehen oder bereits kapitulierend an der Wand sitzen. Eigentlich ist es keine Wissenschaft. Wenn die Leute schreien, die Hände heben und der Boden zittert, sind alle an Bord. Verlassen sie die Tanzfläche oder wackeln nur noch mit dem Kopf, ist es Zeit, das Set zu überdenken, beziehungsweise es umgehend anzupassen. Jedenfalls wenn man als DJ keine internationale Größe ist.
Eine Weile hoffe ich noch auf Besserung, dann setze auch ich mich an die Wand und fange an, über fehlende Einstimmung nachzudenken, über aneinander vorbeilaufende Dialoge und zeitlich versetzte Anziehung. Der Abend geht dahin. Erst eine Stunde, dann eine zweite. Ich erinnere mich an Texte unterschiedlicher Autoren zu körperlichen Reaktionen, wenn Bedürfnisse fortwährend nicht befriedigt werden und beobachte diese Reaktionen live bei den immer angestrengter um Entladung bemühten Tanzenden.
Unterdessen ist mein Platz an der Wand etwas ungemütlich geworden, der DJ ist in eine Art Privatveranstaltung in seinem Kopf abgetaucht, er wippt mit geschlossenem Augen hinter dem Pult, auf der Tanzfläche befindet sich fast niemand mehr. Es ist das erste Mal, dass ich in dieser Halle nicht mehrere T-Shirts durchgeschwitzt habe und und gewissermaßen grundtrocken nach Hause komme.
Am Samstag bin ich auf einem Straßenfest. Die Musik ist zu laut und das Bier lauwarm, aber das Beisammensitzen auf aufgeheiztem Asphalt und in vertraute Gesichter Schauen, nachdem so viele Umwälzungen, Umzüge und Neuanfänge über uns hinweggegangen sind, ist unbezahlbar. Ich bekomme Lust auf ein zweites lauwarmes Bier.
Am Tag danach gehen wir zu fünft auf einen Berg. Es ist sehr heiß, als wir am Gipfel essen. Jemand aus der Gruppe hat sich aufs Brotbacken verlegt, eine andere aufs Gemüse Ziehen, es fehlen nur noch Sachkundige für Quittengelee und vielleicht ein, zwei Personen, die eine kleine genossenschaftlich geführte Molkerei betreiben. Der Abstieg ist ein langwieriger und gelenkabnutzender Loop aus scheinbar genau gleich bemessenen Serpentinen zwischen scheinbar genau gleich aussehenden Fichtengruppen, es ist ein Abstieg wie die Träume, die ich hatte, als ich einen Sommer lang an einem Fließband gearbeitet habe. Unten angekommen sind wir zu faul und erledigt, eine idyllische Badestelle zu suchen und springen direkt unter der Autobrücke in den See. Das Wasser ist astrein, auch wenn am Parkstreifen die Plastiktüten rumfliegen. Ein interessanter Kontrast, nach vielen Quadratkilometern Natur den Tag so trashig enden zu lassen.
Es folgt Arbeit in der Institution und ein Handvoll Auszubildende, die ich mit Statistik quälen muss. Immer wenn ich ihnen eine Aufgabe übertrage, den Raum verlasse und den Gang runtergehe, fühle ich mich einen Moment lang porös und seltsam gerührt von ihren Schmetterlingstattoos, den schlecht gefärbten Haaren und der Wackerheit, mit der sie durch die Institution stolpern. Im Nachgespräch lasse ich ich dann auch die kleinen Nachlässigkeiten, die ihnen bei der Erledigung der Aufgaben unterlaufen sind, unter den Tisch fallen. Es ist mir ohnehin ein Rätsel. Ich weiß von mir selbst, in diesem Alter in einer wasserdicht abgeschotteten Privatwirklichkeit gelebt und mich selten mit äußeren Tatsachen befasst zu haben. Die Auszubildenden scheinen mir im Vergleich dazu recht gut verortet und einigermaßen orientiert durch die Gegend zu steuern. Kein Grund, wenig von ihnen zu fordern…Ich bin da wohl zu weich.
Wieder zu Hause stehen vor dem Pflegeheim ein Stück die Straße runter zwei junge Pflegerinnen in türkisen Kitteln und Hosen. Die eine gibt der anderen Feuer, dann rauchen sie mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Es ist eines der guten Pflegeheime, angeschlossen an ein Mehrgenerationenhaus mit Gemeinschaftsgarten und nicht völlig heruntergewirtschaftet aussehendem Personal. Die zwei Pflegerinnen erzählen sich etwas, die eine ist parallel zum Rauchen damit beschäftigt, ihren Zopf neu zu flechten, die Sonne geht unter, im horizontal einfallenden Licht leuchtet das Türkis der Uniform auf. Wer legt die Farbe der Pflegekleidung fest? Die Betreiber des Heims, die Verwaltung, das Team miteinander in einer Teamsitzung?
In einem früheren Job bekam ich jeden zweiten Tag Besuch von einer Dame mittleren Alters, die von Kopf bis Fuß in Türkis gekleidet war. Die Dame hatte eine leichte Lernbehinderung, glaube ich, und las bzw. betrachtete mit Vorliebe Bildbände zu Steppentieren des afrikanischen Kontinents. Ich lieh Dutzende Bücher aus verschiedenen Bibliotheken aus, um den Bilderdurst der Dame zu stillen. Als Dank bastelte sie regelmäßig kleine Zettel, auf denen mit Schreibmaschine getippt die Ankündigung des nächsten Sendetermins von Reich-Ranickis „Literarischem Quartett“ zu lesen war. Einen der Zettel bewahre ich bis heute in meinem Geldbeutel auf. Darauf steht:
Frau Unendlichkeitsfiktion,
am Dienstag, 11.05.
ab 23:15 Uhr
der ZDF Bücheropa!
Gegen Ende der Woche bemerke ich eine eigentümliche unbegründete Unzufriedenheit. Alles kommt mir eng, verschnürt und klamm vor. Ein Blick auf das Thermometer offenbart, dass die Wohnung seit Tagen immer weiter auskühlt. Nach zehn Tagen Regen ist keinerlei Restwärme mehr in den Räumen gespeichert. Ich laufe einen weiteren Tag unzufrieden herum, dann hole ich Feuerholz rein und schüre den Ofen. August.
In dem anderen Beruf sehe ich einen Tag lang einer Kollegin beim Arbeiten zu. Die nächste Woche verbringe ich damit, zu prüfen, welche Puzzlestücke ihrer Herangehensweise ich für meine Arbeit verwenden kann. Die Kollegin ist auf einem bestimmten Gebiet spezialisiert, sie arbeitet mit Menschen, die als Kind in Täterkreisen aufgewachsen sind, hält Vorträge dazu und unterrichtet Studierende. Obwohl ich die Theorie und Teile der Praxis kenne, fallen mir ihre besonderen Interventionen, ihre Art der Zuwendung und ihre Scharfsinnigkeit auf. Sie weiß, dass Menschen, die eine solche Kindheit überlebt haben, Sicherheit und Kontrolle brauchen. In einem weitaus größeren Maß als verschont Gebliebene. Diese Sicherheit und Kontrolle stellt die Kollegin für ihr Gegenüber immer wieder her, alle paar Minuten steckt sie neu ab, wo man sich gerade befindet, was hier passiert, wer welche Rechte hat und dass in diesem Raum nichts gegen den Willen eines anderen Menschen getan oder gesagt werden darf. Mit ihrer Körpersprache und der eigenen emotionalen Aufgeräumtheit vermittelt sie dem Nervensystem ihres Gegenübers immer wieder die Botschaft von Annahme, Würde und Entscheidungsfreiheit. Innerhalb dieses Rahmens tritt nach einer Weile eine erste Entspannung ein und macht das eigentliche Arbeiten an der Verbesserung eines leidvollen Zustandes erst möglich.
Ich sitze in der Seide meines Kimonos zwischen zwei Gewittern in einem Sonnenfleck und drossel die Geschwindigkeit, mit der ich in der letzten Woche unterwegs war. Es liegt eine süße Versuchung darin, jetzt durchzuziehen, das aufgebaute Momentum der vergangenen Tage nicht abreißen zu lassen, meine Stärke noch mehr auszukosten, noch mehr Dinge anzustoßen und Begegnungen zu suchen, aber ich bin diesem Impuls nicht ausgeliefert, ich erkenne ihn und halte an. Das Abbremsen ist unangenehm, ich kann es nicht leugnen. Nach 7 oder 8 Tagen auf einem Endorphin-Adrenalin-Cocktail belastet mich die eintretende Stille eher, als dass sie mich befriedet. Ich weiß, da muss ich durch. Durch diesen Korridor. Den Übergang.
Eigentlich habe ich Urlaub, aber in meinem Urlaub arbeite ich mehr in dem zweiten Beruf und das kickt und fordert mich regelmäßig auf eine Weise, die ich nur schwer in Worte kleiden kann. Daneben treffe ich Freunde und nage mich durch neue Gedanken, an der Peripherie meiner Aufmerksamkeit verdichtet sich eine kommende Aufgabe, die, nachdem ich drei Jahre auf sie gewartet habe, ins Zentrum schießt und mich erst mal ziemlich okkupiert.
Am Montag stehe ich einer anderen Stadt in einem leeren Kirchenschiff und weil niemand außer mir da ist, gehe ich nach vorn zum Altar und lasse die Architektur des großen Raums auf meinen inneren Raum wirken. Die Wirkung setzt verlässlich nach einigen Minuten ein und ich kann diesen Satz wahrnehmen, der seit Längerem in meinem inneren Raum auf und ab geht und sich meldet. Ich schaue zum Kreuz und sage den Satz. Die Antwort folgt auf den Fuß. Die Antwort ist natürlich nicht Gott, sondern das, wofür ich ihn halte, was übrig bleibt, wenn er, sie und es durch die Filter meiner Sozialisation, Kultur, Epoche, politischen Einstellung und Biografie gelaufen ist. Der ankommende Rest ist aber immer noch gut genug, mich mitten in einer alten, ich möchte fast sagen, uralten emotionalen Verrenkung zu treffen und genau an dieser Stelle ein bisschen zu dehnen, eine Ausdehnung von vielleicht 0,5 Zentimetern.
Als ich zurück bin in meiner Stadt werde ich die 0,5 Zentimeter mehr Spielraum umgehend brauchen und während ich sie in einer explizit mich angehenden Situation gebrauche, registriere ich den Moment, an dem üblicherweise meine Verrenkung eingeschritten wäre und wie sie es jetzt nicht tut, weil dieses Nichts gut ist.
Unterdessen hocke ich weiterhin in der Seide meines Kimonos in dem Sonnenfleck, der Wind bewegt mein Haar in alle vier Himmelsrichtungen, die Duftwicken und der Lavendel verbinden sich zu einer Betäubung, die mir die Augen schließt. Ich möchte, dass irgendwann der ganze Garten voller Duftwicken ist. Ich möchte, dass an Tagen wie heute, wenn der Wind unentwegt von den Bergen her über die Ebene gleitet, die ganze Nachbarschaft und alle Tiere, auf den Feldern, im Wald und in der Luft die Augen schließen, tief einatmen und „Mh, Duftwicke“, sagen.
Ich habe heute tagsüber, in wachem Zustand, neun Stunden am Stück nicht auf mein Handy geschaut. Das ging nur nach ernsthaftem Entschluss und mittels Aufbewahrung des Geräts an einem unbequem zu erreichenden Ort.
Am Freitag zuvor waren wir auf einem Grat unterwegs. Die moosige Grasdecke oben am Gipfel empfing mich weich und bettend, ich döste, nachdem mir beim steilen Aufstieg etwas kreislaufig geworden war. Vier Traubenzucker und Geschichten aus dem Leben der anderen haben geholfen. Die Wanderung war, in Höhenmetern gemessen, die für mich längste und anstrengendste. Ich will mir nicht zu viel vornehmen, aber ich würde sehr gern auf diesem Leistungsniveau ein paar Jahre bleiben und es ausbauen, um mir bisher unbekannte Landschaften zu erschließen, auf die ich große Lust habe.
An einem sehr heißen Nachmittag streife ich am Fluss herum, die Eidechsen huschen unter die Weiden, es liegt eine bleierne Trägheit auf mir, ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen, je wieder etwas erreichen zu wollen. Das Wasser kühlt, die Hitze wärmt, ich werde zu dem Menschenteig, der ich bin. Ein Stein sieht seltsam und schön aus, ich nehme ihn mit. Ich habe jetzt sechs Steine in Armreichweite meines Kopfkissens, nachts taste ich nach ihnen und hoffe von den Flüssen zu träumen, in denen sie, wie lang, gelegen sind. Die Steine sind älter als ich, sie waren unten oder oben, als sich die Platten schoben, eventuell in anderer Verfassung, eventuell Teil eines größeren Massivs oder Partikel, die sich erst finden und vermengen mussten. Für die Steine bin ich eine flüchtige Erscheinung, zugehörig zu den Wesen verdammt zu kurzem Leben, unfeste Materie, ein Fragezeichen. Trotzdem liegen sie in meiner Hand, als wären wir verwandt.
In der ersten Nacht im Juli wird auf dem Hügel neben der Kapelle das Johannifeuer abgebrannt. In mehreren Arbeitseinsätzen haben die Vereine dafür Baumstämme herangebracht, von den Anhängern heruntergezogen und aufgerichtet. Am Tag zuvor liegt Unruhe in der Luft, das Zelt ist aufgestellt, die gute Strickjacke rausgelegt, im Dorf laufen die Leute auf und ab und warten auf dieses einmal jährliche Brennen, so heiß und hoch, dass die Wiese in einem Radius von fünf Metern mitbrennen wird. Eine halbe Stunde vor Einbruch der Dunkelheit gehe ich um den Hügel herum, die Kinder können nicht mehr anders, als die angesammelte Spannung mit besinnungslosem einander Fangen, Jagen und gellenden Schreien stoßweise zu entladen. Es ist wirklich kaum auszuhalten. Wann wird es endlich angezündet?
Als dann endlich die Dämmerung zur Dunkelheit wird, die Zweige knistern und das Feuer aufflammt ist es größer, stiller und schöner, als ich erhofft hatte. Es ist das erste Johannifeuer, an dem ich teilnehme und wer auch immer sich diesen Brauch ausgedacht hat, muss mich oder alle Menschen sehr geliebt haben. Der Funkenflug im Nachthimmel. Ist jedes Brandloch in der Kleidung wert.
In der Nacht wird es regnen. Konstant einregnen, stundenlang. Am Vormittag darauf beschließen wir auf den Unnütz zu gehen, ein Massiv eingebettet in Gipfel, die alle Unnütz heißen; Vorderunnütz, Hinterunnütz usw. Es nieselt bis in den Mittag hinein und verschafft uns die seltene Erfahrung, mehrere Stunden durch Nebel zu laufen, verschluckt zu werden von Schwaden, dem feuchtwarm sich unter unseren Füßen biegenden Farn. Einmal bleiben auf der Hochebene zwei Frauen und ich hinter den anderen zurück, heben die Hände in das, uns von allem trennende, Dickicht der Wassertröpfchen gesättigten Atmosphäre und es bleibt uns wirklich nichts übrig, als die Worte der drei Hexen aus Macbeth in diesen Nebel zu deklamieren. Und später noch die Worte der Lady in Vorbereitung auf die Bluttat.
When shall we three meet again?
In thunder, lightning or in rain?
Die Streuung des spärlichen Lichts und Auflösung des Übergangs von Nebel in Wolke, deren Unterschied ohnehin nur im Bodenkontakt und nicht in der Konsistenz liegt – es ist ein Ort des Spuks, der Passage und wirklich, erzählen wir uns hier, was man auf Gehwegen nicht sagen kann. Greifvögel fliegen nah über unseren Köpfen hinweg, aber keiner stößt einen Pfiff aus, sie liegen auf der Luft, kaum dass sie die Flügel bewegen. Zwei Schemen kommen uns entgegen und wir schauen lange zu den Umrissen und Nuancen von Grau, ehe wir darin Freunde erkennen, die voraus gegangen waren.
Unten angekommen verfestigen sich die Erscheinungen und teilen sich auf in Kälber, Hollerschorle und warme Holzbänke an einer warmen Stallwand. Kuchen essend lehnen und liegen wir ermattet in der Sonne. Die eben an die Tränke tretenden Kälber sind ungewöhnlich zutraulich, unverschreckt und zeigen eine entspannte Dynamik innerhalb der Herde. Die Almwirtin berichtet, die Tiere in den ersten Wochen tagsüber überwiegend im Stall gehalten und erst ab Einbruch der Dämmerung auf die Weide geführt zu haben, damit die junge Haut der Kälber nicht von Bremsen und Ungeziefer zerstochen wird und ihre Gesichter und Augenlider anschwellen. Nachts weiden sie ruhiger. Demnächst, wenn sie etwas robuster sind, wird der Weiderhythmus langsam umgestellt.
Schwarz glänzende Salamander zeigen sich zwischen dem Gras und lassen sich berühren. Ein korall farbener Schmetterling begleitet mich eine Weile auf dem Handrücken, während wir weiter abwärts steigen. Man muss es den Österreichern lassen, sie haben einfach die bessere Natur. Der Wechsel von den Kalkalpen zum Granitstein fühlt sich jedes Mal gleich sehr solide und weniger porös an, die Blumenvielfalt nimmt noch mal zu, die schiere Menge an Bergen, die höhere Höhe und damit die Kontraste.
Am Mittwoch tanzen wir in einer kleinen Gruppe. Es gibt keine Choreografie, nur Elemente, die von den Tanzenden beliebig aneinander gereiht werden. In der Pause kommt die Tanzlehrerin zu mir herüber, schaut mich freundlich an und sagt: Bleib nicht in Deckung. Gib raus, was du hast.
Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, dass diese Frau zu einem solchen Schwergewicht an Weisheit, Menschenkenntnis und Lust wurde. Ich kenne ein paar Stationen ihres Lebens, ich kann mir ungefähr denken, durch welche Zustände sie gegangen ist, was sie verloren hat, was sie nie bekommen hat, warum sie die Dinge begreift wie ein Tier. Als Erklärung reicht das aber nicht hin. Neulich habe ich mich vor ihr versteckt. Ich saß in einer voll besetzten U-Bahn, als ich sie einige Meter entfernt an einer Haltestange lehnen sah. Reflexartig drehte ich mich weg und rutschte etwas tiefer in den Sitz. Es gelingt mir nicht immer, mich ihrer Präsenz zu stellen. Mich auf diese bestimmte Weise durchschauen und annehmen zu lassen. Sie ist sehr nahbar und die am wenigsten lehrende Lehrerin, die ich je hatte.
Am Dienstag sitze ich mit Freunden im Garten und trinke Rosé, danach dänischen Schnaps und dann aus Nostalgiegründen einen Drink, den ich vor langer Zeit in einem Hamburger Club mit einer Freundin zu mir genommen habe. Ich glaube, es war das Nachtasyl. Um auszunüchtern gehe ich in der Dunkelheit eine Runde über die Felder. Es blitzt über dem Karwendel, aber es wird auch in dieser Nacht nicht regnen. Der Wind ist angenehm an diesen heißen Tagen und ich höre der Bewegung in den Baumwipfeln zu, beim Aufwachen, beim Einschlafen und in jeder stillen Minute.
Am Donnerstag liegt ein toter Vogel vor der Treppe. Wo seine Augen waren, sind dunkle Dellen. Ich ziehe einen Gartenhandschuh über und berühre ihn unter den Flügeln. Dann lege ich ihn unter einen Strauch, wo ihn später eine Elster abholt, kurz darauf aber wieder zurücklegt. Vielleicht ist der Vogel nicht mehr frisch genug gewesen. Oder die Elster war neugierig und wollte ihn auch nur mal kurz halten.
In der Institution stehen die Bürotüren zum Gang hin offen, was ungewöhnlich ist, hier arbeiten viele Menschen, die Wert legen auf Rückzug und Konzentration. Es bedarf schon eines Tages mit 33 Grad im Schatten, um die Kolleg*innen dazu zu veranlassen, ihre heilige Ruhe gegen ein bisschen Durchzug zu tauschen. Während ich über der griechischen Lautschrift brüte, höre ich es im Nachbarzimmer leise sprechen, verhalten lachen und noch ein Büro weiter, wie jemand eine Stunde lang der Hospitantin erklärt, welche Schnittstellenproblematik uns zu der umständlichen Statistikaufbereitung zwingt, die wir hier seit Jahren praktizieren.
Am Wochenende gehen wir auf einen Berg und picknicken, der Gipfel ist ein weitläufiges Plateau, eine Wiese, groß genug, ein Dorf darauf zu errichten. Alle haben Käse mitgebracht, aber niemand Eier. Etwas unterhalb vom höchsten Punkt klettert eine Gams herum, vertieft in ihre Kletterei und den ätherischen Duft der Latschenkiefern, durch die sie sich hindurch drückt. Sie bemerkt mich nicht oder zeigt nicht, dass sie mich bemerkt. Eine Weile betrachte ich die Gams aus der Nähe, ihre eleganten und sicher auftretenden Beine, den braun glänzenden Rücken und wie sie knabbert an den Trieben der Kiefern. Auf der anderen Seite des Plateaus finde ich einen interessanten Ast, der zu groß ist, um ihn nach unten zu tragen und mit nach Hause zu nehmen. Die ausgesprochen wettbewerbsfreudige Wandergruppe fordert mich heraus, mit einem Taschenmesser ein Teilstück des Astes herauszusägen. Ich gebe alles, komme innerhalb kürzester Zeit an meine Grenze und muss das Messer weiterreichen. Die nach mir sägende Person beugt sich über den Ast, strengt sich kaum an und hat das Holz in drei Minuten durch. Es ist manchmal, obwohl das ja vollkommen klar sein sollte, so erstaunlich, wie stark manche Menschen sind. Physisch. In den Armen.
Es ist sehr schwül und die Wanderung lang. Als wir unten ankommen, schält sich jeder aus der klebrigen Kleidung und robbt in den Gebirgsfluss hinein. Die Kälte ist umfassend, nach wenigen Sekunden beginnen die Zehen zu schmerzen, die Strömung rüttelt und reißt an den Beinen, der Fluss ist in diesem Moment eindeutig allem überlegen, kompromisslos, wahllos, zweifellos, türkis, klar und in Bewegung. Wieder raus aus dem Wasser fühle ich mich selbstbewusst und bereit, in irgendetwas reinzurennen. Ein Freund hat mal gesagt: Uns allen würde gelegentlich eine Prise Koks stehen. Ich denke, damit hatte er recht. Wenn es keine Gebirgsflüsse gäbe.
Die Wohnung verschmutzt zusehends, was ein gutes Zeichen ist und den Anfang des Sommers markiert. Möbelstücke und Flächen sind ab jetzt nur noch dafür da, benutzt zu werden und dürfen frühestens im Herbst wieder mit Pflege rechnen. Auf dem Boden treten sich Essensreste der letzten und vorletzten Zusammenkunft mit Freunden fest, die Fenster erblinden unter Pollenstaub und Fingerabdrücken, eigentlich weiße Waschbecken nehmen einen Farbton aus dem Sepiaspektrum an. Ich will mich nicht länger in Innenräumen aufhalten, als es braucht, um den nassen Badeanzug auszuwringen, aber dann sitze ich doch zwei Stunden an den Büchern und lerne. Es bleibt sogar was hängen, aber es hängt anders als im Winter, es wird bedrängt und manchmal erdrückt von dem, was noch alles ist.
Im Schatten unter den Zweigen baumeln die Waldakeleien in ihrer drachenkopfartigen Gestalt, vom Feld duftet das Heu herüber, der Flieder verblüht, die Pfingstrosen gehen auf, um den Mispelstrauch kreisen hunderte Bienen sirrend vor Nektartrunkenheit. Es ist mal wieder alles so herrlich gleichzeitig, überladen und lockend, es würde mich nicht wundern, beim nächtlichen Spaziergang auf zwölf Jungfrauen in griechischen Gewändern zu treffen, die im Wiesengrund etwas opfern oder Blumen weihen.
In der Institution pflüge ich durch ein paar fremdsprachliche Probleme. Bei fast allen ist die Lösung, aufzugeben, nach Hause zu gehen und am nächsten Morgen beim Drüberschauen plötzlich doch zu wissen, wie es gehen könnte.
Kurz darauf treffe ich eine Freundin, die psychisch schwer verwundete Kinder betreut, oft in Nachtdiensten, oft im Team mit Kolleg*innen, die nicht lange auf der Stelle bleiben werden. Etwa zwei Stunden sprechen wir, danach bin ich aufgeräumt für den Rest der Woche. Ich weiß, man kann kaputt gehen an solchen Jobs, auch als stabile Person kann man daran kaputt gehen. Die Freundin hingegen entwickelt entgegen aller Wahrscheinlichkeit immer mehr Stärke, Beziehungsfähigkeit und Heiterkeit im Respektieren der eigenen Grenze. Es ist, wie einem Leoparden beim Wachsen zuzusehen.
Ich grabe mich tiefer in die Atempraxis ein. An einem Dienstag lasse ich mich dafür zum ersten Mal von jemandem anleiten. Nach fünf Minuten angeleiteten Atmens beginnt mein gesamter Körper zu zittern. Das Zittern ist mir nicht unbekannt, es hat sich jedoch noch nie so heftig geäußert, wie in der Gegenwart des Atemlehrers. Er hält meine Hand und schaut mich freundlich an.
Abends, wenn die Sonne untergeht, gerate ich für etwa zwanzig Minuten in einen Zustand akuter Aufmerksamkeit, muss alles liegen lassen und mich Hineinstellen in das rote runde Flimmern und sei es nur, um hinterher sagen zu können, auch heute ist sie untergegangen, ich war dabei und hab es gesehen. Es ist nicht umsonst geschehen.
Ich habe einmal in einem langen, episch erzählten und über weite Strecken handlungsarmen japanischen Kriegsfilm eine Szene gesehen, in der eine Frau auf einer Mauer stehend in die untergehende Sonne ein Gebet rezitiert. In den Untertiteln wurden ihre Worte, wenn ich mich recht erinnere, übersetzt mit: Ich preise dich, ich preise dich, 38 Trillionen Seelen.
Es ist ein Tag wie aus einem Joaquín Sorolla Gemälde. Der Wind fährt in die Wäsche und hebt die leichten Stoffe, die papiernen Mohnblumenköpfe taumeln unter der Last der Insekten, Menschen mit nackten Beinen und gesunder Gesichtsfarbe lehnen an Zäunen und schließen die Augen in der schweren, ersehnten Mittagshitze. Nur das Meer fehlt. Ja, das fehlt.
Weil es Pfingstmontag ist mäht keiner der Nachbarn den Rasen, sägt Holz, zimmert am Ziegenstall oder wartet die landwirtschaftlichen Maschinen. Auch das ist schön, die noise cancelling Kopfhörer kommen kaum zum Einsatz. Die Tamariske wippt zwischen den alten Fliedersträuchern, ich lese Novellen aus dem 19. Jahrhundert, die Langeweile, mit der sich der Landadel herumschlug, die genaue Beschreibung der Leiden dieser tatenlosen Männer und Frauen, das ist alles so weit weg und erholsam, ich schlafe immer wieder ein.
Gestern im Karwendel eine der in diesem Jahr häufig vorkommenden halbhalb-Wanderungen. In kurzen Hosen unter brennender Sonne rauf, oben zuschauen, wie sich die Wolken senkrecht türmen, frieren, Wollpullover anziehen, runtergehen und gerade noch rechtzeitig vor dem Schauer ins Auto klettern. Im Auto hat erfreulicherweise ein Freund vorgesorgt und die Kühlbox befüllt. Es ist sehr behaglich so eng und erschöpft beieinander zu sitzen und Spezi in sich reinlaufen zu lassen.
Vor sieben Jahren wollte mich eine Bekannte auf eine Sorolla Ausstellung mitnehmen. Ich habe abgesagt. Mir war das alles zu fluffig und heiter. Im Rückblick manchmal erschreckend, wie vernagelt man sein kann.
Am vorletzten Tag bevor es endlich warm wird, stehen wir erneut auf einem Berg im Wind, frierend, tapfer, unglücklich. Auf dem Gruppenfoto sind nur Ausschnitte von Gesichtern unter Wollmützen, Kapuzenpullovern und Softshellhauben zu sehen. Es ist natürlich trotzdem besser, als in der Wohnung zu sitzen und sich nicht zu bewegen. Und am Ende ist es ja alles Kitt, die vielen widrigen Erfahrungen, die man gemeinsam macht.
In der Institution steht der Jahresurlaub der Fremdsprachenmeisterin an und es ist der erste, dem ich nicht mit Sorge entgegen sehe. Ich hätte mir, als ich vor drei Jahren bei ihr anfing, gewünscht, die Auseinandersetzung mit der Materie von einer Kollegin zu lernen, die etwas langsamer im Kopf ist, linear vorgeht, weniger viel weiß, weniger als 17 offene Tabs auf dem Bildschirm hat und weniger volle Kaffeetassen auf bedrohlich schwankenden Papierstapeln abstellt. Ich neigte zum damaligen Zeitpunkt zu der Unterstellung, ein unordentlicher Schreibtisch ziehe fehlerhaftes Arbeiten nach sich und würde in aufwendigen Korrekturläufen münden. Ich sollte mich sehr irren.
Mittlerweile habe ich selbst Papierstapel angelegt, Kopien von Übersetzungsvorlagen aus so zum Teil nicht mehr verlegten und online nicht existenten Werken, Tabellen für neue und alte griechische Buchstaben, Transkriptionen und Transliteration, Reihenangaben, die von türkischen und rumänischen Verlagen gern verwendet werden, Kodierung für Literaturnachweise auf Arabisch und Farsi. Es wird und es wird besser. Dennoch übe ich bei jedem Urlaub der Meisterin den endgültigen beruflichen Abschied von ihr, der irgendwann, ich hoffe nicht zu bald, eintreten wird. Mit ihr geht nicht nur implizites Wissen, das in keinen Papierstapel Eingang gefunden hat, sondern auch eine der letzten Mitarbeiterinnen, die im Stundentakt runter in den Hof gehen, um dort am Lüftungsschacht eine zu rauchen.
Auf der Hauptversammlung spricht ein Mitarbeiter der obersten Stadtbaurätin und stellt den Stadtentwicklungsplan vor. Es geht darum, trotz Erschließung weiterer Neubaugebiete und Nachverdichtung, Kaltluftschneisen aus dem unverbauten Umland frei zu halten, um zu verhindern, dass die für das Jahr 2040 in München prognostizierten Sommertemperaturen ein Niveau erreichen, wie es zurzeit in Mailand üblich ist.
Er erwähnt in einem Nebensatz den Stadtentwicklungsplan von 1983, in dem eigentlich vorgesehen war, eine Autobahn direkt am Sendlinger Tor enden zu lassen. Wer oder was das Vorhaben gestoppt hat, erzählt er leider nicht. Die Pause der Hauptversammlung besteht im Wesentlichen darin, an der Brezelstation eine Brezel zu essen und dann mit Laugenkrümeln im Mundwinkel innerhalb von 20 Minuten möglichst viele Kolleginnen und Kollegen zu sprechen, die zu sprechen ein Jahr lang nicht geklappt hat.
Am Dienstag fallen wegen einer Signalstörung für mehrere Stunden in beide Richtungen die S-Bahnen aus und weil es hier draußen kaum Busse gibt, wird ein Ersatzverkehr mit Taxen eingerichtet. Eine viertel Stunde später sitze ich mit einer Handvoll 15-Jähriger in einem Großraumtaxi, das uns zum nächsten Bahnhof bringt – im Wageninneren teenagerbedingtes stoisches Schweigen und aneinander Vorbeisehen, aber beim Aussteigen wendet jeder einzelne Junge brav den Kopf zum Fahrer, bedankt sich und wünscht noch einen schönen Tag. Ich muss manchmal so lachen. Die Kinder aus dem bayerischen Oberland. Wie gut erzogen die sind.
Die Hortensien haben überlebt. Es geht ihnen nicht gut, aber sie stehen. Am Wochenende wurde Heu gemacht. In der jetzt stoppelkurzen Wiese sind abends die Fuchsjungen zu sehen. Ihre noch etwas ungelenken Mausjagdversuche in der untergehenden Sonne. Alle paar Minuten werden sie müde, rollen sich ein und schlafen einen Moment, ehe es weitergeht.
Wenn es viel regnet, will ich beim S-Bahnfahren elektronische Musik hören. Dabei lande ich immer wieder bei Jean-Michel Jarre. Es stellt sich in dieser Woche eine angenehme Synchronizität ein zwischen seinem 1976 erschienen Album Oxygène und dem vertieften Atmen, das ich aktuell lerne und in der S-Bahn übe. Vor etwa fünf Jahren hat ca. ein Viertel meines Bekanntenkreises mit breath work, Atemyoga, vollständiger Atmung und Ähnlichem begonnen. Ich war sofort dagegen. Das ist mir jetzt unangenehm zuzugeben, aber es ist so. Sobald etwas ein Trend wird, sträube ich mich. Das bewahrt mich davor, manche Dummheit zu machen, es bremst mich allerdings auch dabei, notwendige Schritte zu gehen, die zufällig ein Viertel meines Bekanntenkreises vor mir getan hat. Ich war nicht dagegen im Sinne eines offen geführten Kampfes, sondern im Sinne eines mir sehr vertrauten, introvertierten, stillen, zähen Verweigerns.
Es hat alles angefangen mit Qigong, 2004. In der Theaterschule damals stand jeden Montag von 8 - 9 Uhr Qigong auf dem Stundenplan und innerhalb der ersten drei Minuten der ersten Einheit an dem ersten Tag war mir klar, dass ich nicht atmen kann. Dass ich beim Versuch in meine Brust oder gar in meinen Bauch zu atmen, aggressiv werde (und bin) und diese Aggression nicht Montags um 8 mit mir unzuverlässig erscheinenden Mitschülern teilen will. Ich habe deshalb so oft wie möglich die erste Stunde geschwänzt, mich gefreut, wenn die Trainerin krank war und flach geatmet, bis die Theaterzeit um war. Man kann sich denken, dass dabei nicht viel rausgekommen ist.
2012 traf ich in einem Schwabinger Kellerstudio zum ersten Mal auf meine Tanzlehrerin und habe mich auf der Stelle in sie verliebt. Wie jedes Kind durch Nachahmung lernt, war ich in den ersten Monaten überwiegend damit beschäftigt, ihr hinterher zu trotteln, irgendwie mitzukommen und sie ergriffen anzuschauen. Sie hat immer sehr liebevoll zurückgeschaut und getan, was eine für mich ideale Mutter tun würde. Dem Prozess vertraut. Wieder ein Jahr darauf ist mir im steten Beisein ihres Körpers so langsam gedämmert, dass ich niemals auch nur ansatzweise versammelt und aus meinem Wesen heraus tanzen werde, wenn ich nicht zumindest den Versuch unternehme, wenigstens hier, in dem Schwabinger Kellerstudio, in meinen Bauch zu atmen, genauer; in mein Becken.
2015 habe ich es dann parallel noch mal mit Zen probiert. Es ging etwas besser. Mittlerweile hatte ich vor meiner Aggression weniger Respekt und an meiner Seite Leute, die mir gezeigt haben, wie ich durch Emotionen gehen kann, ohne mich darin aufzulösen oder davon weggerissen zu werden. Das Atmen blieb trotzdem mittelmäßig.
Erst im letzten Sommer, der Sommer, als ich beinahe täglich am Fluss saß, die Steine von links nach rechts gedreht und mein Gehirn bei dreißig Grad in den Zustand geistiger Umnachtung versetzt habe, sah ich einmal zufällig runter auf meine Bauchdecke, die sich eindeutig hob und senkte. Hob und senkte. Wie ein ganz normaler Mensch. Ich hab viel geweint an diesem Fluss. Ich war eine Lache aus Dankbarkeit.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so aufgeplatzte Gesichter gesehen habe. Ob ich überhaupt schon mal solche gesehen habe. Für den Zeitraum von etwa drei Stunden lag im Prinzip alles blank: Einsamkeit, Schmerz, Lust, Freude von etwa 150 Menschen, zusammengekommen in einem dunklen Raum, angetreten aus unterschiedlichen Motiven, vielleicht auch nur aufgrund einer kurzfristig sich bemerkbar machenden Schubkraft, dem dumpfen Wissen, hineingestülpt zu sein in diese Welt. Da.
Viele Mädchen können im Alter von 13 Jahren nicht mehr beschreiben, was sie fühlen, aber detailliert Auskunft geben darüber, wie sie glauben aussehen zu müssen, um eine Existenzberechtigung zu haben. Für Jungs muss es ähnlich schlimm sein, oder anders schlimm. Das kann ich nicht beurteilen. Zwanzig Jahre später und die ersten Bröckelerscheinungen im Gesicht bleibt eigentlich nur Verzweiflung und das Anrudern gegen die sichtbare Sterblichkeit. Wenn daher aus vielen wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Gründen an einem verregneten Tag im Mai 150 Menschen mit ihren wie auch immer gearteten Körpern einen Abend lang Hingabe an diese vorgefundene Existenz praktizieren, ist das rar. Ein rares Ereignis.
Jedes Mal wenn ich für ein paar Sekunden die Augen öffne, krümmt, stampft oder zuckt eine andere Person an mir vorbei. Darunter Frauen, die aktiv und passiv viele hunderttausende Frauenbilder in ihrem Leben konsumiert haben und es dennoch für diese Zeitspanne schaffen, von ihrem Erwartungsgerüst herunter zu kommen, zu tanzen wie ein Schimpanse es tun würde, ein Insekt, ein Pferd, ein Walfisch, ein Erdrutsch, ein Kometenschauer.
Ich glaube wirklich, keiner der Anwesenden hat Drogen genommen. Zumindest sieht keiner danach aus. Ich schaue etlichen in die Augen und viele schauen zurück. Ich erkenne nüchterne Menschen, sie sehen roh aus und meist nicht souverän. Sie müssen durch sich durchwaten; die Bewertung, die Abwertung, den drängenden Impuls, manche Gefühle zu betäuben und andere zu verstärken und dabei ununterbrochen bleiben, nicht weglaufen. Dennoch passiert manchmal, was niemand tun oder herholen, wofür man sich nur bereit und bis dahin möglichst schadlos halten kann. Die Fassung springt, der Bewegungsfluss entgleist, schwappt über und gehört nicht mehr den Einzelnen selbst. When there is only dancing and no dancer.
Einmal, ungefähr in dem Moment, als irgendwo am anderen Ende des Raums eine Rotation beginnt, sich an den Körpern entlang fortsetzt, verdichtet und in Form pitschnasser Rücken, Arme und Laute an mir vorbei schrammt, drehe ich meinen Kopf nach links und schaue zu meiner Freundin. Sie lacht mit aufgerissenem Mund. Sie lacht so aufgerissen und enthemmt, wie es im Leben einer Erwachsenen nur nach grenzwertigen, eigentlich überwältigenden, Strapazen möglich ist. In der Sekunde der Erkenntnis, dass man nicht kaputt gegangen ist.
Es ist ein Löwenzahnjahr, soviel steht fest. Nachdem im Jahr zuvor nur vereinzelt gelbköpfige Inseln aus den Wiesen am Waldrand wuchsen, schauen jetzt umgekehrt nur vereinzelt Grasinseln aus dem gelben Teppich hervor. Der Imker bringt mehrere Bienenvölker auf die Anhöhe, wenn das Wetter hält und der Raps sich verspätet, wird er später sortenreinen Löwenzahnhonig verkaufen.
Zwei Tage am Stück ist es warm, die Sonne knallt an die Hauswand, im Garten breiten sich hellblaue Bodendecker aus, Hummeln saugen an den Zierapfelblüten, ich stehe wunschlos vor der Tür und lasse ein wenig ab von meiner Zerknirschung. In der Arbeit geschieht nichts. Einmal läuft meine Milch im Kühlschrank aus, aber weil es für alles in der Institution Vorschriften gibt, auch dafür, wie Milch in dafür vorgesehenen Plastikboxen im Kühlschrank gelagert werden soll, läuft sie einfach in die Plastikbox. Und nicht in den ganzen Kühlschrank. Was soll ich dazu sagen? Danke Vorschriften.
An einem anderen Tag gehen wir zu viert auf einen Berg. Es ist eigentlich zu kalt und grau, um draußen zu sein, ich bedauere, keinen Tee mitgenommen zu haben, am Gipfel sitzen wir zusammengekauert in unseren Jacken und harren der Dinge. Beim Abstieg wird es wärmer, wir schälen uns aus den Lagen und versuchen gerade einigermaßen zivilisiert ein Schneefeld runter zu kommen, als das eine Kind, das an diesem Tag dabei ist, an uns vorbeizieht, den Hang hinab rennt, rutscht, fällt, aufsteht und weiter rennt. Ich habe oft erlebt, dass mein verhärteter Erwachsenenkörper angebotenen Impulsen nicht mehr folgt und kann daher nur überrascht sein, als ich mich ebenfalls das Schneefeld herunter rennend finde. Aus den Augenwinkeln sehe ich den Rest der Gruppe an mir vorbei kegeln, unten angekommen ist die Schneeballschlacht bereits im Gange. Es ist eine seltene und wichtige Genugtuung, jemandem eine Hand voll Schnee hinten ins T-Shirt stecken zu können, auch wenn das in einer Einseifung mündet, bei der man eventuell unterliegt.
Die restlichen Stunden gehen wir mit nasser Kleidung und nassen Füßen in den Schuhen, am nächsten Morgen werde ich wunde Zehen haben, was ein bisschen weh tut, aber was wäre die Alternative, sich immer schonen? Wirklich riskant verhalte ich mich nicht mehr, mit einem Bier in der Hand auf Kräne klettern, das ist alles lang vorbei. Eine Einordnung meiner Risikobereitschaft im Vergleich zu der eines durchschnittlichen Zehnjährigen bekomme ich gegen Ende des Tages, als das eben beschriebene Kind Anlauf nimmt und ohne Ankündigung über einen viele Meter tiefen und Wasser führenden Abgrund springt. Wer sich an die Verfilmung von Ronja Räubertochter aus dem Jahr 1984 erinnert und darin an die Szene, in der sie und Birk Borkasohn über den Riss in der Burg springen – ein solcher Spalt – nur mit Anlauf zu schaffen, wenn überhaupt. Ich sehe das Kind einen Moment ungläubig an und drehe mich dann zu dessen Vater. In der Sekunde, als sich unsere Blicke treffen, beschließen wir einvernehmlich nichts zu sagen.
Ich denke, erst nach etwa zwei Jahrzehnten auf dem Erdball hängt man wirklich und entschlossen an der Fortsetzung dieser menschlichen Erfahrung, lässt Vorsicht walten und geht in einen eher konservierenden Zustand über. Bis dahin sollte man von den Bedenken der Erwachsenen nicht allzu oft gestört werden. Eine Woche später berichtet die lokale Zeitung vom Tod eines fünfzehnjährigen Jungen, der bei einem wohl ähnlichen Manöver hier in der Nähe von einer Felsenplatte gefallen und ertrunken ist. Es muss manchmal kaum auszuhalten sein. Ein Kind zu haben und es gleichzeitig nicht zu haben.
Ein Buch, das seit Jahren vergriffen und in keinem Antiquariat unter 80 Euro zu erstehen ist, wird von einem älteren Freund aufwändig recherchiert und in einem österreichischen Depot ausfindig gemacht. Er schickt mir alle Daten zum Abgleich, übernimmt die Bestellung und Lieferung an eine Freundin in Tirol, die es mir bei Gelegenheit mitbringen wird. Es ist ein großes Plus Freunde zu haben, die bereits in Rente sind und gerne Detektiv spielen.
Man sieht es dem Garten nicht an, dass ich in den vergangenen zwei Jahren annähernd fünfzig Sträucher, Stauden und Pflanzen darin eingesetzt habe. Die meisten hatten beim Kauf eine Höhe von etwa 60 Zentimeter und kaum eine davon ist heute über 80 Zentimeter hinaus. Ein Drittel ist gar nicht erst angewachsen oder hat sich selbst kompostiert, ein weiteres Drittel wurde mehrmals von Ameisen überrannt oder von vorzeitiger Entblätterung heimgesucht. Ein Garten, hier, unweit der Berge, mit den kalten Nächten, später Blüte und dem langsamen Wachstum ist insgesamt eine Erfahrung, die viel mit Ausnüchterung zu tun hat und wenig mit der Üppigkeit, Verrankung und Opulenz, die ich darin zu schaffen und zu finden hoffte. Das Gemüse habe ich aufgegeben, die Dahlien, Cosmea und Jasminsträucher aufgegeben, die Tomaten geraten geschmacklos, Erdbeeren kümmerlich, zwei Mal täglich Schnecken absammeln reicht nicht, um den Salat im Hochbeet zu retten. Die Nachbarin sagt, hier überleben nur Zwiebeln. Es muss sich also entweder ein Gewächshaus zugelegt und erheblicher Arbeitsaufwand betrieben werden oder man fügt sich in Landschaft und Klima. Ich bin jetzt in der Fügungsphase. Die nächste Stufe ist, ein Trampolin aufzustellen und Plastikspielzeug auf den Rasen zu schmeißen.
Auf dem Balkon ist unterdessen etwas Gutes von selbst passiert. Eine Art Vergissmeinnicht hat sich in die Balkonkästen gesät und wuchert blau-lila vor sich hin. Und ein geschenkter Mohn im Kübel gedeiht trotz Temperatur und Wind, die transparenten Blütenblätter leuchten in der Sonne, als sie einen Nachmittag lang in dieser Woche scheint.
Ein Freund sagt, ich würde den Garten zu genau beobachten, das sei nicht gut. Wie man einen Teenager auch nicht mit direkten Fragen in die Ecke drängen dürfe. Das müsse alles beiläufig geschehen. Also keine face-to-face Kommunikation. Ich bin sofort überzeugt. Am Abend gehe ich doch heimlich ans Fenster und schaue auf die angepflanzten Hortensien herunter. Ob die auch gleich wieder sterben oder zurecht kommen.
Der Regen fühlt sich nicht gut an, aber unterstützt mich bei der Anhäufung von Basiswissen in dem anderen Beruf. Ein paar bestellte Bücher zur Anwendung eines bestimmten Verfahrens sind eingetroffen und angelesen, kein Sonnenstrahl hält mich davon ab, die Kapitel herunterzuschlingen, es ist freudlos aber praktisch. Am Montag muss ich mich anmelden für eine Prüfung, die in einem Jahr stattfinden wird und die die Einreichung zahlreicher Unterlagen erfordert. In einem seltsamen Aktionsbündnis aus Sabotage und Bequemlichkeit habe ich das hinausgezögert bis nahe an das Ende der Anmeldefrist. Damit ich zur Prüfung zugelassen werde, muss eine Ärztin meine Stressresistenz bewerten. Sie befasst sich eine halbe Stunde mit mir und fragt ein paar Fragen, auf die ich völlig ehrlich antworte. Erst hinterher registriere ich, nicht mit meinen früheren Vorsichtsmaßnahmen und -antworten reagiert zu haben. Es wird sich noch zeigen, ob sich das bewährt. Die Ärztin jedenfalls hält mich für stressresistent und stempelt das ab.
Ich selbst halte mich für bedingt stressresistent. Ich kann nicht mit Verkehrslärm umgehen, nicht mit Beschallung durch Nachbarn, Baustellen, Gastronomieaußenbereiche, ständigen Durchsagen, akustischen Warnungen bevor Türen schließen und mittels Lautsprecher telefonierenden Mitmenschen. Aber wenn jemand eine Panikattacke hat, sich von Leere gelähmt fühlt, einen Stuhl gegen die Wand werfen will oder beim Weinen krampft, bin ich zentriert und klar. Und natürlich würde ich, wie jeder andere Mensch auch, umgehend einbrechen, wenn meine Existenz, Würde oder Rechte bedroht werden, wenn mein Neurotransmittersystem ungenügende Mengen von Serotonin ausschüttet oder ich eine Woche mit häufigen Schlafunterbrechungen hinter mir habe. Wollte die Ärztin das wissen? Ist das Stressresistenz?
Es gibt viele Wege, Stress zu vermeiden oder sich nach einer Stressspitze wieder zu beruhigen und ich halte es für eine zentrale Lebensaufgabe, herauszufinden, wie ich mir während und nach meinem Stress beistehe. Als ich vor drei Wochen nach einer beruflich fordernden und irritierenden Situation etwas belämmert im Raum herumstand, bot mir eine Kollegin an, sich mit mir auf ein Sofa zu setzen. Und da saßen wir dann. Eine viertel Stunde. Nebeneinander aus dem Fenster sehend, ohne ein einziges Wort. Sie hat das einfach mit mir ausgehalten.
Donnerstagnacht fahre ich beinahe ein Reh an. Es ist ein kleines Reh, die älteren Tiere der Herde sind bereits über die Straße gerannt, ich sehe sie spät, aber noch rechtzeitig, drossel das Tempo und weiche aus, als rechts aus dem Gebüsch ein Kleines heraus springt, um zu den anderen aufzuschließen. Ich bremse hart und komme wenige Zentimeter vor ihm zum Stehen. Die nächsten 24 Stunden fühle ich mich deutlich weniger robust als sonst. Eine Kollegin, die mit mir plaudern will, wimmel ich nach zwei Sätzen ab, dann sitze ich eine halbe Stunde im Büro und schaue vor mich hin. Ich weiß, dass es für das Reh besser war, vor mein Auto zu laufen, anstatt vor das Auto einer schneller fahrenden Person. Noch besser wäre, ich müsste seltener Auto fahren und die Waldstücke hier in der Gegend würden nahtlos zusammenhängen. Mir geht nicht aus dem Kopf, wie zwei der älteren Tiere am Fahrbahnrand stehen geblieben sind und ohne ihrem Fluchtimpuls zu folgen auf das jüngere warteten. Sie hätten zuschauen müssen, wenn etwas passiert wäre.
Kurz danach liegt ein Amselei auf dem Boden hinterm Haus. Ein Nest, aus dem es herausgefallen sein könnte, entdecke ich nicht. Bis zum Nachmittag lasse ich das Ei liegen, dann hebe ich es auf und trage es eine Weile herum. Die Rotmilane kreisen in letzter Zeit auffallend tief über den Gärten, ich frage mich, ob sie sich gelegentlich bei den Singvögelnestern bedienen. Über Ostern habe ich mit großer Lust Nuancen von Blau und Grün durch kurze Eintauchintervalle in verschiedene Farbbäder erzeugt. Ein so fabelhaft Lapislazuli-gesprenkeltes Ei wie das der Amsel ist mir dabei nicht gelungen.
Wegen eines Termins halte ich mich in einem Münchner Neubaugebiet auf. Konkret sind das vier Hochhäuser mit einer Fassadengestaltung von geradezu lächerlicher Abscheulichkeit, daneben ein Flachbau, in dem Supermärkte untergebracht sind, und niedrigere Wohnblocks, die den Plattenbauten meiner Kindheit in kaum etwas nachstehen. Ich werde das nie verstehen. Nur wenige Jahre zuvor und wenige Kilometer entfernt wurde ebenfalls ein Neubaugebiet mit Hochhäusern, Einkaufsmöglichkeiten und weiteren Gebäudetypen in München hochgezogen. Alles daran sieht gut aus. Ich habe mir zwischendurch gewünscht, da leben zu dürfen. Es ist also prinzipiell nicht unmöglich, wirtschaftlich und schön zu bauen.
Der Waldboden am Montag darauf ist von Blumen übersät, auf den Felsvorsprüngen wächst violettes Heidekraut und Moos. Es sind die einzig sonnigen Stunden in dieser verregneten Woche, der in den Bergen noch massig vorhandene Schnee schmilzt, sammelt sich in Rinnen und fließt gurgelnd abwärts. Die Pfade verwandeln sich in vollgesogene Schwämme, in den Wiesensenken entstehen knietiefe Lachen, die Hütten geben ihre gespeicherte Wärme ab, ich lehne ohne inneren Lärm eine Stunde an den Fichtenschindeln einer Holzwand.
Am andern Tag ist es wieder kalt, zwei Freunde kommen spontan vorbei und bleiben bis Mitternacht, wir sprechen über Trinität, versuchen das unirdische Beziehungsgefüge auf irdische Bezüge herunterzubrechen, es menschlich einzukreisen. In einer so verregneten Woche lässt es sich gut herum operieren an Fragen, für die man sonst keine Verwendung hat. Tatsächlich aber fühle ich mich die folgenden Tage ungewohnt sortiert und heiter. Irgendeine in der Dreifaltigkeit liegende Aussage scheint an meinen Filtern vorbei eingesickert zu sein und mich zu bereichern.
In dem anderen Beruf schaue ich einen Tag lang einer Kollegin zu und denke dann einen weiteren Tag lang darüber nach, wie sie vorgeht, warum, mit welcher Haltung, zu welchen Ergebnissen das führt, ob sie im Anschluss müde wirkt, wie sie zurück bleibt. Ich habe das Glück, mit einigen Menschen zusammenzuarbeiten, die sich in die Karten schauen lassen, auch während sie stellenweise unsicher sind, Dinge probieren müssen und nicht auf alles vorbereitet sein können.
An drei bis vier Tagen im Jahr ist die Arbeit in der Institution schlimm. Immer im März, wenn das Budget auf hunderte bestehende und hunderte neu hinzugekommene Positionen verteilt werden muss und ich dafür nichts zur Verfügung habe, als veraltete Software, einen Taschenrechner und ausgedruckte Exceltabellen, die ich mit Tesafilm zu einem etwa 2 qm² großen Gesamteindruck zusammenklebe. In die Aufgabe wurde ich hineingetrickst. Von allen Beteiligten. Von dem Kollegen, der mich mit einer zuckersüßen Email angeworben hatte, von der direkten Vorgesetzten, die nicht wusste, um was genau es geht und von der indirekten Vorgesetzten, die beim Einstellungsgespräch von leicht zu verrichtenden Tätigkeiten in der Etatansetzung sprach. Nur mein Vorgänger war ehrlich und sagte bei seinem Abschied und nachdem ich unterschrieben hatte: Ich muss Sie warnen. Auch wenn Ihnen keine Fehler unterlaufen, wird das Programm Fehler melden. Wenn Sie dann nicht improvisieren, kann hier innerhalb von einer Woche niemand mehr handeln.
Was meinen Sie mit improvisieren, habe ich gefragt.
Tricksen, hat er gesagt.
Ich habe also in den letzten Tagen zuerst alles korrekt eingegeben und Dutzende Fehlermeldungen erhalten, darauf alles noch mal eingegeben, Geld erfunden, wo keines ist und Geld verschwinden lassen, wo es eigentlich existiert und mir handschriftlich vermerkt, was ich manipuliert habe. Das Programm ist darauf reingefallen. Es hat zwei Mal mit einem Fragezeichen reagiert und dann mit okay. Mittlerweile ist es Anfang April, der schlimme Teil des Jahres rum, die Kollegen schauen schuldbewusst und ehrerbietig zu mir auf, entrichten kleine Gefälligkeiten und versuchen mich weitere Jahre bei der Stange zu halten. Ich kann jetzt und die nächsten zwei Wochen stündlich mit Blattsalat angerichtete Sandwiches, für mich erledigte Post und auf kleinen Tabletts gereichten Kaffee einfordern, bevor mein Ruhm allmählich verblassen wird und ich für den Rest des Jahres zurücksinke in die Bedeutungslosigkeit, auf die ich mich ursprünglich beworben hatte.
Den anhaltenden Regen versuche ich mir mit dem dringend nötigen Steigen des Grundwasserpegels schönzureden, dem Lernen weiche ich aus, dafür sind jetzt zwei Bäume beschnitten, die Silikonfuge des Badewannenrands herausgekratzt, gesäubert und neu verfugt, der im Winter eingefrorene und abgebrochene Außenwasserhahn entfernt, Dichtungsband bestellt, ein Rucksack getestet und für untragbar befunden (und damit 11 Monate Rucksack-Recherche einen Schritt voran gebracht), die Kommode nach Feuchtigkeitsunfall abgeschliffen, geölt und aus Schafwolle Schlüsselanhänger für Zweit- und Drittschlüssel geflochten. Heute Morgen habe ich noch erwogen, aus Naturmaterialien Ostereierfarbe herzustellen, ehe ich einsah, dass ich irgendwann wieder lernen muss und mich nicht ewig in einem Fantasieheimwerkerleben verstecken kann, nur weil mich das nächste Kapitel inhaltlich nicht reizt.
Auf dem Weg zu Freunden, die an dem Abend Halloumiburger machen werden, höre ich Musik der frühen Nullerjahre und sitze zufrieden in Öffentlichen Verkehrsmitteln, in denen sich ausgehbereit angezogene Menschen mittels Lautstärke, Lachwilligkeit und über Sitze hinweggerufene Aufforderungen, mit ihrem Wochenendkörper vertraut machen.
Ich mag es, neue Freunde zu finden, zu begreifen, wie sie sind, was da los ist, in was sie sich reinschrauben, womit sie glänzen und auf welche Weise sie in sich hängen bleiben. Genauso bereichernd ist es, alte Freunde kennenzulernen. Noch mal von vorn zu ertasten, was das eigentlich für Wesen sind, wie sie reingespült wurden in diese Welt, worüber sie sich seit Jahrzehnten den Kopf zerbrechen und wie sie ihre Gefühle inkarnieren in Gegenstände, Handlungen, Wohnungen und Politik.
Auf Amazon ein Set Lebensmittelfarben bestellt. Sobald das Kapitel, das mich inhaltlich nicht reizt, absorbiert, verstanden und verwahrt ist, darf ich die Eier bemalen. Laut Wetterbericht wird es an Ostern 8 Grad und sonnig. Ich will das dieses Jahr so richtig prall durchziehen mit Nestern im Garten, Weidenkätzchen und den Schafen des Nachbarn, die hoffentlich im richtigen Moment vorübergehen.
Nach einer Woche Fieber stehe ich auf, wanke zur Musikanlage und tanze eine Stunde ins Abendlicht, in die Unerklärlichkeit, aus der alles kommt.
Die Forsythien blühen. Die Frau, die hier lebte, hat sehr unterschiedliche Sträucher und Büsche gepflanzt, von den Forsythien aber drei. Ich vermute, sie stand, wie ich jetzt im März am Fenster und sah zu, wie die Knospen stündlich springen, ein Zweig nach dem anderen.
Als Mitte der Woche das Thermometer über 39 Grad klettert und ich den vierten Tag am Stück keinen Hunger habe, kauft der Freund Vanillepudding und legt ihn mit einem kleinen Löffel neben meine Matratze. Es hilft. Der Vanillepudding führt mich zurück zu Toastbrot, das Toastbrot zu Reis, der Reis zu Spiegelei und dann bin ich über den Berg. Ich habe trotzdem drei Kilo abgenommen. Das hat mich ein bisschen erschreckt.
Unterdessen ist Sepp, ein alter Bekannter hier aus der Gegend, gestorben. Er hat als junger Mann in den 50‘er Jahren Baumstämme den Fluss runter geführt. Der Fluss war reissend, bei der Arbeit gab es häufig Verletzte und Tote. Das geschlagene Holz wurde aus dem Wald gezogen, an den Ufern zur Flößen zusammengebunden, die Flöße mit weiterem Holz beladen und dann Richtung Lenggries und München getrieben. Sepp hatte die seltene Gabe, einem lang in die Augen sehen zu können ohne Eile und scheinbar ohne Wertung. Ich weiß nicht, wie er sich diese Weichheit bewahren konnte, wo er doch in absolut unweichen Zeiten aufgewachsen ist. Er muss unfassbar Glück gehabt haben mit seinen wichtigsten Bezugspersonen. Oder eine unfassbare Reise durch sein Inneres und diese Welt gemacht haben. Er hat in den letzten Jahren oft in der Abendsonne am Haus gesessen.
Am Samstag liege ich mit Freunden im gelben Gras neben einem Wasserfall und trockne. Die Haare noch nass, der thrill des Reingleitens, Reinfallens, nicht kontrollieren zu können, wie schnell und haltlos man den glitschigen Steinrand hinunter ins Becken rutscht. Die Kälte ist schmerzhaft, zwingend, nach zehn Sekunden übernehmen die Reflexe und hieven einen wieder raus aus dem Wasser, es ist unerträglich und schön für diese kurze Spanne Zeit. Hypnotisiert am Rand sitzen und den anderen zusehen, wie sie zögern, den Halt verlieren, drinnen sind.
Es stürmt vier Tage und Nächte. Ich weiß nicht, wie das Leute machen, die an Küsten leben. Den ganzen Tag Wind? Wie soll man da zur Ruhe kommen. Ich habe mal jemand sagen hören, Erziehern, Landwirtinnen und Pflegerinnen von demenzkranken Menschen sei das Phänomen bekannt. Ab einer gewissen Windstärke drehen die Anvertrauten ab. Die allgemeine Schusseligkeit, Gereiztheit und Bereitschaft, lang aufgesparte Emotionen umgebremst in die Gruppe zu kanalisieren, springt wetterbedingt auf ein Monatshoch, pädagogische Interventionsversuche schlagen fehl, am Abend liegen alle heulend und zerstritten im Bett. Es ist so lächerlich und beschränkt, ein Mensch zu sein. Man ist einfach allem ausgeliefert.
Am Ende der Woche ist Streik. Es wird skandiert, gefordert und gebuht, wenn von dem Angebot unseres Arbeitgebers die Rede ist. Ich verhalte mich auf solchen Veranstaltungen eher still, trage keine Leuchtweste und pfeife nicht auf Pfeifen, aber halte mit den Kolleginnen eines der Banner bei der Kundgebung. Was soll man machen? Wir müssen da alle zwei bis drei Jahre wieder durch.
Jetzt wo der Winter aufhört stehe ich manchmal bei 13 Grad und temporärem Sonnenschein an eine Hauswand gedrückt oder in der Glaseinhausung einer Trambahnstation oder an einem Feldrand in der immer noch kahlen, schlammgrauen, ausharrenden Landschaft und verorte mich in diesem März, als Davongekommene. Als auf der anderen Seite des Winters Herausgekommene.
Am Samstag feiern wir den Geburtstag eines Freundes. Wir sitzen in einem dunklen Raum auf einer Decke am Boden und essen Suppe aus Müslischalen. Es gibt 9 Flaschen Bier, die sich 15 Leute teilen, verklebte Salzstreuer und eine recht spontan zusammen gekommene Gästerunde, darunter Menschen, die ich zum ersten Mal sehe. Die Feierlichkeiten in letzter Zeit kehren optisch und choreographisch zunehmend zurück in die WGs, aus denen sie ursprünglich entwichen sind. Es fehlen nur noch tropfende Kerzen auf unter Wachs kaum mehr zu erkennenden Weinflaschen und verwursteltes Bettzeug in der Ecke. Ich weiß nicht wann der Trend umgekehrt ist und sich auf den Heimweg gemacht hat. Vor Kurzem noch saßen wir allwöchentlich gepflegt an anspruchsvoll ausgeleuchteten Tafeln mit einheitlichem Geschirr, in unserem Schoß Leinenservietten, auf den Lippen teurer Alkohol, im Ofen libanesische Cuisine, für die jemand stundenlang in der Küche gestanden hatte.
Am Samstag jedenfalls ist das Essen zwar da, spielt aber keine tragende Rolle, der hereingebrachte Kuchen wird beklatscht, der Freund besungen und dann die Playlist angeschmissen. Der Rest ist Tanz und in dunklen Winkeln stehende Menschen, vertieft in irgendwas, manchmal ineinander. Es ist ein gutes Fest, um wieder Haut, Blut und Knochen zu werden, nachdem man eine Woche lang meinte, es ginge darum, Resultate zu erzielen. Ich freue mich wie ein Kind, als ich gegen Ende des Abends mit ein paar Tanzenden in synchrone Bewegungen verfalle, darunter Menschen, die ich eigentlich nicht kenne, aber in dem Moment doch erkenne.
Ich mag das abendliche Tschilpen der Vögel, ihre gesteigerte Gesprächigkeit bevor sie einschlafen. Es reihen sich ein paar Nächte aneinander, in denen die Sichel gut zu sehen ist, dann zwei Tage Nebel und eine darin erahnbare Sonne kurz bevor sie untergeht.
Nach dem Wintereinbruch letzte Woche taut und tropft es von den Dächern, ich wache auf vom Gurgeln des konstant sich verflüssigenden Schnees. Ein Freund hat Geburtstag. Er ist einer der zwei Männer in meinem Umfeld, die sich explizit über Blumen freuen und sich auch selbst Blumen kaufen, daher gehe ich zur Floristin an der Hauptstraße und wähle weißen Ginster für ihn und blasslila Rosen für mich. Bei allen bleichen, welk wirkenden Farben muss ich regelmäßig an Egon Friedell denken, der 1928 so unterhaltsam den Hang des Rokoko zu Blutarmut, Niedergang und Stadien des Verfalls beschrieb:
“Das Rokoko fühlt sich krank und anämisch, die Tönung der Gewänder ist delikat, diskret: man wählt die Farbe der Pistazie, der Reseda, der Aprikose, des Seewassers, des Flieders, des Reisstrohs und gelangt bisweilen zu ganz abenteuerlichen Nuancen: ein neues Gelbgrün heißt Gänsedreck, ein Braungelb dem neugeborenen Thronfolger zu Ehren caca Dauphin… Gesundheit gilt für uninteressant, Kraft für plebejisch. Das aristokratische Ideal wandelt sich zum Ideal der Feinheit, Hypersensibilität und vornehmen Schwäche, der betonten Lebensunfähigkeit und Morbidität.” [Kulturgeschichte der Neuzeit]
Zurück in der Institution fallen alle drei Zimmerkolleginnen krankheitsbedingt aus, zeitgleich treffen mehrere Jahreslieferungen Literatur ein. Die Kartons und Transportkisten stehen in drei Reihen zwei Meter hoch gestapelt. Ich würde die Kolleginnen unterstützen, aber sie haben sich bei der Systematisierung eine spezielle Kodierung ausgedacht, die niemand außer ihnen selbst versteht, daneben habe ich andere Aufgaben und vertrete bereits genügend Leute. Daher sitze ich einfach in dem weiter zuwachsenden Büro und winke die Lieferanten heran, die keine zwei Schritte mehr ins Zimmer machen können, erschrocken schauen und mit entschuldigendem Lächeln weitere Pakete auf die vorhandenen oben drauf schieben.
Am Freitag ist die Klimademo, aber ich bin verhindert und muss zu Hause bleiben. Ich lerne noch mal die Diagnosekriterien für affektive Störungen und träume in der Nacht danach, dass jemand bipolar Typ 2 ist und mir seine Symptome ins Ohr sagt. Worauf ich erwidere: Ja, das sind Kennzeichen einer Hypomanie. Sie sind vermutlich bipolar Typ 2.
Ohne Witz, so flach und harmlos sind meine Träume mittlerweile. Einfach die Wiederholung des Gelernten. Als würde ich meinem Gehirn dabei zusehen, wie es den Gang runter zum Langzeitgedächtnis läuft, den Tagesinput darin archiviert, umkehrt und “fertig” ruft.
Ich habe seit ich klein war immer fürchterlich geträumt. Krieg, Flutwellen, verwaiste unterernährte Babys, verwundete Freunde auf dem Bürgersteig, Ringkämpfe mit Menschen, die mir physisch überlegen sind, von Hochhäusern herunterstürzen, schwarze Löcher, die mich schlucken. Einmal musste ich Alexej Nawalny in einer Altbauwohnung im Münchner Westend verstecken, ein ander Mal Auto fahren in einem Auto ohne Bremsen. Bis vor etwa zwei Jahren war das fast jede Nacht so. Dann bin ich aufs Land gezogen und die Albträume haben aufgehört. Die ländliche Umgebung ist aber sicher nicht der einzige Grund für die Besserung. Wenn ich jetzt morgens aufwache gibt es nichts mehr zu entschlüsseln, zu deuten, keine Verkleidung, Verzerrung, Metaphern und Traumreste, die mir bis zum Abend nachgehen.
Eine von mir geschätzte Lehrerin hat gesagt: Wenn der nicht selbst gewählte, aber doch selbst aufrechterhaltene Stress, nachlässt oder gar aufhört, wird einem die darauf folgende Stille komisch vorkommen. Vielleicht auch langweilig. Nach mehreren Jahrzehnten Adrenalin fühlt sich langsamer werden oder Stille nicht gleich nach Frieden an.
Ich unterscheide an dieser Stelle zwischen stressenden gesellschaftlich-politischen Bedingungen, die niemand im Alleingang wegoptimieren kann und Bedingungen, die tatsächlich von mir steuerbar sind.
Im Traum und im Wachzustand nicht mehr gegen Übermächte zu kämpfen ist immer noch eine eher neue Erfahrung für mich. In meinem Schlafkörper scheint sich die Gewissheit auszubreiten, gut aufgehoben zu sein, obwohl diese Welt kein sicherer Ort ist. Ich finds nicht langweilig. Ich habe Lust auf mehr von diesem Frieden.
Die blasslila Rosen sind jetzt aufgegangen. Im Laden an der Hauptstraße beschlichen mich noch Zweifel. Geschlossene Rosen sehen immer so hart konservativ aus. Aber nach 48 Stunden in lauwarmen Wasser: exaltiert und aufgeklappt bis zum grünen Stengel.
Nach dem Homeoffice fülle ich Pfefferminztee in eine Flasche, packe den Rucksack und gehe auf einen der näheren Berge. Das erste Drittel ist mühsam, der Schnee ist teils getaut und wieder überfroren, ich hadere mit den Bedingungen und erwäge umzukehren, um die Zeit fürs Lernen zu nutzen. Ich bin bei den Kapiteln zu dissoziativen Störungen angekommen, aus gegebenem Anlass brauche ich das Wissen aktuell häufig in der praktischen Arbeit, recherchiere und lese erneut die Sekundärliteratur. Ich merke aber auch, dass meine Instinkte nach 8 Jahren Auseinandersetzung damit einigermaßen gereift sind, einspringen und die Lücken füllen, wo ich noch nicht alle Fakten zusammen habe. Es ist befriedigend, das zu erleben. Im Zweifelsfall reicht manchmal ein Blick zu einem anwesenden Kollegen oder einer Kollegin für die Zweitmeinung Es kommt im Moment einiges zusammen, was über einen gewissen Zeitraum parallel und ohne Verknüpfung koexistiert hat.
Weiter oben am Berg wird es milder und einfacher zu gehen, die Vögel in den Fichten befinden sich bereits in ihrem Abendgespräch. Auf der Kuppe lehne ich mich an eine Schuppenwand, wärme die Finger und schaue zu, wie die Farbe des Himmels von Eisblau nach Lavendel kippt. Nach dem Lila kommt ein blasses Rosa, das sich 20 Minuten mit dem kalten Gelb im Westen die Waage hält, bevor es an den Zacken der Karwendelkette anfängt rot zu glühen. Ich steige in der Dunkelheit ab. Wo der Lichtkegel meiner Stirnleuchte den Schnee trifft funkelt es. Der Halbmond ist nicht zu sehen, die Venus mit ihrem orangen Schein deutlich zu unterscheiden von den silbernen Sternen. In den dichten Waldstücken dringt kaum Himmelslicht nach unten, es ist so finster, wie ich manchmal will, dass es finster ist.
Ich glaube, die Füchse sind jetzt durch mit der Paarung. Man hört sie nicht mehr schreien, kläffen und kichern auf diese irritierende Weise, mit der sie im Janaur und Anfang Februar die Geräuschkulisse des Waldes vervollständigen. An zwei Tagen treffe ich Freunde und freu mich daran, was sie machen und erleben. Dass ich manchmal darin involviert sein darf und manchmal nur vorbeischramme, während ihre Erzählung stattfindet.
Später in der Woche werde ich krank, schreibe in der Minute, in der es mir auffällt, eine Mail an die Vertretung, lasse den Stift fallen und fahre nach Hause. Es war kein leichter Weg für mich zu verstehen, wohin verschleppte Grippen führen und ich bin nicht gewillt, den Weg noch mal zu gehen. Ich erinnere mich an das Gesicht der Ärztin in der Notaufnahme, die meine entzündeten, zugeschwollenen Augen untersuchte, den Kopf schüttelte und mich neun Tage an einen Antibiotikatropf im Krankenhaus hängte. Im Zimmer lag ich mit einer Graphikdesignerin, die sich in einer Werbeagentur mit 16-Stunden-Tagen in einen Burnout plus Hautreaktion gearbeitet hatte und einer blutjungen Erzieherin, die monatelang unterbesetzt und damit alleinverantwortlich Kinder aus prekären Verhältnissen betreute, ehe eine Autoimmunerkrankung und/oder Panikattacken etwas in ihrer Lunge regelmäßig zuschwellen ließ.
Die Erziehering bekam auf der Station jeden zweiten Tag Besuch von ihrer alkoholisierten Mutter. Wenn die Mutter weg war, stand das Mädchen auf, öffnete ein Fenster und legte sich wieder ins Bett, mit dem Gesicht zu Wand.
Mit diesen zwei Zimmergenossinnen habe ich zusammen sehr viel Joghurt gegessen, die Gänge nach ruhigen Plätzen zum Telefonieren abgesucht und auf einen Bildschirm gestarrt, als es in Fukushima nach dem Tsunami zur Kernschmelze in den Reaktorblöcken des Kraftwerks kam. Und weil die Realität oft dichter und schräger ist als Ausgedachtes befanden wir uns dabei die ganze Zeit auf der Kinderstation des Krankenhauses, da die Stationen für Erwachsene alle belegt und überbelegt waren. Das heißt, die Pfleger, die morgens und abends reinkamen, um Blutdruck zu messen und Infusionen zu legen, waren manchmal als Pumuckl verkleidet und sprachen dann auch so wie er. Die Türklinken der Zimmer hatte man höher gesetzt, um das Weglaufen kleiner Patienten zu verhindern. Die Klinken befanden sich etwa auf Höhe meines Halses. Ich bin aus dem Krankenhaus gegangen mit dem Entschluss, dies die letzte Erfahrung dieser Art sein zu lassen. Wenn ich beim nächsten Mal eingeliefert werde, will ich völlig schuldlos sein an was auch immer mir dann passiert sein wird.
Aus dem Auto tritt eine Flüssigkeit aus. Der junge Mann, der zwei Häuser weiter in seiner Garage eine Hebebühne mit Notfallservice betreibt, versichert, es sei keine Bremsflüssigkeit, sondern das Kontrastmittel der Klimaanlage, kein akuter Handlungsbedarf. Er macht das umsonst und lächelt, als ich auf dem Glatteis in seiner Einfahrt umherschlittere. Ich mag diese Nachbarschaft. Jede und jeder kann irgendwas oder hat irgendwas. Werkzeug, Anhänger, Leitern, einen Vogelschutzverein, eine Blaskapelle, einen kleinen Knall oder eine Meditationsgruppe, die das Meditieren aufgegeben hat und sich nur noch zum Backen trifft.
Schräg gegenüber lebt eine Französin ein unauffälliges Leben mit dem Kirchenmusiker und ihrer Katze. Nur einmal hat sie einen Stein in das Schuppenfenster des Nachbarn geschmissen, weil ihre Katze in ebendiesen Schuppen eingestiegen war, der Schuppenbesitzer (ein Grantler, wie man hier sagt) die Katze darin einschloss und sich weigerte, wieder aufzusperren. Die Katze wurde befreit, die Polizei kam, das zerschmissene Fenster musste von der Französin bezahlt werden. Das hat sie mir erzählt, während ich ihre Katze streichelte. Ich kann mich erinnern an den Abend, als das geschah. Ich sah die Französin rübergehen zum Schuppen und davor schreiend vor Wut in ihrer Wohnung toben. Die Katze hat das gut verkraftet. Sie ist weiterhin neugierig und voller Elan.
Normalerweise ist jetzt die Jahreszeit, in der ich webe. Nichts Aufwendiges, lediglich eine hellbraune Reihe nach der anderen aus Ziegenhaar und Schafwolle. Aber der Webrahmen steht im Keller und wird dort bleiben müssen, bis der Prüfungsstoff in meinem Kopf ist. Ich kriege es jetzt einigermaßen hin, zwischen Theorie und Praxis zu wechseln und meine Gedanken zu stoppen, wenn sie kurz vorm Einschlafen noch mal zu den bedrückenden Fakten mancher Inhalte zurückkehren. Ich habe dieses Stoppen intensiv trainiert, nachdem ich im Anschluss an die Auseinandersetzung mit menschlich sehr leidvollen Situationen manchmal in einen unangenehmen Zustand gerutscht bin.
Etwas nicht zu denken, was denkbar ist, aber mich inhaltlich noch überfordert, hat überraschenderweise viel damit zu tun, eine körperliche Grenze zu markieren. Ich mache also vor dem Einschlafen manchmal Bewegungen, die unter anderem in Selbstverteidigungskursen geübt werden. In Hinblick auf die somatischen Stufen der Entwicklungspsychologie ist das nicht verwunderlich. Wer sich traut, körperlich etwas abzuwehren oder zu stoppen, kann auch eigene Gedanken in die Schranken weisen. Die äußere Bewegung ist der inneren Bewegung verwandt. Mir ist dabei wichtig, nicht in einen offenen Kampf mit meinen Gedanken einzutreten. Ich bedanke mich für ihre Anregung und vertage sie auf später - zum Beispiel auf den Zeitpunkt, ab dem ich in der Lage sein werde, mich ihnen zu widmen ohne dabei Schaden zu nehmen.
Meine Tanzlehrerin musste während der Pandemie ihr Studio aufgeben. Jetzt treffen wir uns in dem schlecht beheizbaren Erdgeschoss einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik. Es fühlt sich nicht so industrial-romantisch an, wie das Wort Nähmaschinenfabrik suggeriert. Das Gebäude ist marode, die Toiletten stinken, die Wände wurden mit oranger Wischtechnik bemalt, ein Fenster lässt sich nicht vollständig schließen, der Vermieter hat den Schlitz mit Gaffer Tape “repariert”.
Die Kälte nervt. Nachdem ich den Tag über in den öffentlichen Verkehrsmitteln gefroren habe, dann im Büro und wieder in den öffentlichen Verkehrsmitteln, friere ich in der Nähmaschinenfabrik weiter. Die körperliche Betätigung kommt kaum dagegen an. Aber was sollen da erst Leute sagen, deren Infrastruktur weggebombt wird. Oder der Bekannte einer Freundin in der Unterkunft für Geflüchtete, der sich für jede Minute, in der er Privatsphäre braucht, in den Schneeregen vor die Unterkunft stellt. Wegen der Residenzpflicht - dem eingeschränkten Bewegungsradius von Asylbewerbern innerhalb der ersten drei Monate in Bayern - können wir den Bekannten nicht einmal für ein Wochenende zu uns einladen. Selbst wenn wir ein Zimmer hätten, müsste er in der Unterkunft wohnen. Das muss man sich mal vorstellen. Es gibt Momente, da möchte man einen Stein nehmen und Schuppenfenster einschmeissen.
Die Freundin fährt regelmäßig 150 km zu der Unterkunft, um den Bekannten organisatorisch und emotional zu unterstützen bei dem was hinter ihm liegt und was vor ihm liegt. Daneben gibt es Studierende der juristischen Fakultät, die den Bekannten unentgeltlich in Rechtsfragen beraten, was bitter nötig ist, will man verhindern, dass er zurück in seinem Herkunftsland direkt vom Geheimdienst einkassiert wird.
Unterdessen hat ein anderer Freund für die Ukrainer, die ein 3/4 Jahr bei ihm gewohnt haben, eine Wohnung gefunden. Weiterhin verbringt er wöchentlich einige Stunden damit, ihnen beim Abschluss von Verträgen, Jobangeboten und der Kommunikation mit Behörden zu helfen.
Ich schreibe das auf, um mich daran zu erinnern, dass dieses Leben nicht gerecht ist, es darin aber immer wieder Menschen gibt, die ihr Mögliches tun, um die Härten der Ungerechtigkeit abzufedern.
Die Bergkette erscheint heute schwindsüchtig und bleich. Ein allerhellstes Blau vor weißem Licht; in Bodennähe Nebel und weiter oben Farbauflösung. Selbst für ein Pastellaquarell wäre das zu wenig deckend. Gerade deshalb ist es natürlich fabelhaft. Eine Halluzination von Winter.
Es ist fabelhaft und anstrengend. Jeden Tag taut es für ein paar Stunden und jede Nacht friert alles wieder fest. Die Kälte schneidet, die Wege sind glatt, Erwachsene hangeln sich mit aufgerissenen Augen vom Laternenmast zum Gebüsch zum Treppengeländer zum S-Bahnsteig und es ist viel erreicht, wenn das ohne Sturz bewältigt wird. Er wäre eine gute Woche, um das Haus nicht zu verlassen, gerade jetzt aber liegen viele Termine an und ich bin mit den Bedingungen des Hin- und Zurückkommens mindestens so beschäftigt wie mit den Terminen an sich.
In einer Arbeitsgruppe mit Leuten, die sich zum Teil noch nicht kennen, bläst sich ein Mann bereits in der Vorstellungsrunde ganz schön auf. Als er zu einem bestimmten Zeitpunkt einer anderen Person ziemlich uninformierten Käse erzählt, hinterfrage ich seine Aussage. Er eskaliert umgehend in der hässlichsten Weise. Ich bin sehr wütend und kann mich lange nicht beruhigen. Freue mich aber, dass ich seine mangelnde Interaktionsfähigkeit entlarvt habe und die anderen das mitgekriegt haben. Besser, es ist gleich beim ersten Treffen klar, dass man es hier nicht mit einer harmlosen Person zu tun hat.
Frauen in meiner Altersspanne sollten 8-17 Liegestütze am Stück schaffen. Ich kann 0,5. Gelegentlich nehme ich einen Anlauf, trainiere und kann irgendwann 2. Dann werde ich faul und bin wieder bei 0,5. In meiner Tanzgruppe tanzen ein paar ältere Damen und ich nehme ihre Prognosen sehr ernst; die nachlassende Knochendichte, das Frakturrisiko, die verminderte Regenerationsfähigkeit. Eine schön geschminkte Achtzigjährige hat zu mir gesagt: Zum Schluss sind es nur Muskeln, die diesen Schrotthaufen zusammenhalten.
In der Institution wird nun jeden Monat ein Babyboomer verabschiedet. Kaum eine Woche ohne Ankündigung einer Feier anlässlich bevorstehender Pensionierung. Mit den meisten war eine verlässliche und angenehme Zusammenarbeit möglich. Wenn die Stellen weiterhin unbesetzt bleiben, hätte ich nichts dagegen, wenn KI ein paar davon übernimmt.
Vor einer Weile hatte ich eine ziemliche Obsession mit der japanischen, ländlichen Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ich hatte Bruno Taut “Das japanische Haus und sein Leben” gelesen und sah mir nachts die Filme von Ozu Yasujirō an, wegen der Innenräume, nicht wegen der Handlung.
Bruno Taut verließ Deutschland 1933, nachdem die Nationalsozialisten ihm die Professur an der Akademie der Künste entzogen hatten. Auf Einladung befreundeter Architekten lebte er drei Jahre in Japan, beobachtete seine Umgebung und notierte. Eindrücklich beschreibt er die erste Nacht in einem traditionellen Haus mit Außenwänden aus Papier (im Winter). Fazit: Innentemperatur = fast wie Außentemperatur. Die Idee bestand darin, den Körper zu wärmen, nicht den Raum. Daher die an der Feuerstelle aufgeheizten kleinen Metallstangen, die man sich in Ärmel und Falten der Kleidung legte.
Nachdem Bruno Taut alles mögliche beobachtet und festgehalten hatte (Toiletten und Lichtstimmung auf den Toiletten, Stauraum und Kochstelle, Religion und Nichtabschließbarkeit der Türen) widmete er sich dem Teehaus im Garten:
“Gebaut wurde eine literarische Idee. Hütte in der Natur, Vergänglichkeit des Menschenlebens, Genügsamkeit an bescheidenen Dingen, Liebe für alles dies und infolge davon: Stille des Herzens.”
Aktuell werden ein paar junge Menschen durch das Büro geschleust, deren berufliche Laufbahn ihnen nicht erspart, vier Wochen in meiner Abteilung hospitieren zu müssen. Zu jedem einzelnen von ihnen möchte ich sagen: aufrichtiges Beileid. Sie sind bemüht, die jungen Menschen. Sie versuchen die Augen offen zu halten, streichen ihre Haare aus der Stirn und geben gelegentlich einen Laut von sich, um wenigstens vokal anwesend zu bleiben. Es hilft nichts. Ihr Körper ist zu jung für das hier.
Die für die Vermittlung zuständigen Kollegen sind seit dem Sommer in einer task force organisiert, in der sich vierzehntägig der Kopf darüber zerbrochen wird, wie man Hospitierenden vorgaukeln kann, die Tätigkeiten in unserer Abteilung würden Spaß machen. Die Körper der jungen Menschen lassen sich aber nicht belügen. Ich sehe sie sitzen unter dem Gewicht ihrer Langeweile, sie können nicht fassen, der Schule, der Uni, dem letzten Praktikum entkommen zu sein, um jetzt schon wieder durch eine Masse aus Daten zu waten, die keinerlei Emotion in ihnen hervorruft.
Und doch ist es so. Die Institution ist auf Menschen angewiesen, zur Not auch auf gelangweilte. Wie überall gibt es aber keine Menschen mehr, jedenfalls keine, die sich bewerben. Manchmal treffe ich auf dem Gang die Leute vom Recruiting. Sie winken nur ab, wenn man nach den unbesetzten Stellen fragt. Ich will unter diesen Umständen nicht wissen, mit welcher Verzweilfung Krankenhäuser, Pflegeheime und Bildungseinrichtungen den Fachkräftemangel verwalten.
Jetzt zum Mond. Ich muss mich korrigieren. Ich hatte geschrieben, auf dem Mond gäbe es nur flache Erhebungen. Das ist falsch. Es gibt einen 5.500 Meter hohen Berg auf der Vorderseite und einen fast 10.800 Meter hohen Kraterrand auf der Rückseite. Auf der Rückseite ist auch der tiefste Punkt des Mondes. Ein rund acht Kilometer tiefes Einschlagloch.
Der blauweiß marmorierte Trabant im unteren Bild ist einer der 82 Monde des Saturn. Seine Oberfläche ist bedeckt mit Wassereis, weshalb er 99 % des bei ihm ankommenden Sonnenlichts reflektiert. Er hat das größte Rückstrahlvermögen im Sonnensystem, das heißt er reflektiert Licht stärker als frisch gefallener Schnee.
Unterdessen schneit es auf der Erde, da wo ich wohne. Es fängt am Morgen an, es schneit den ganzen Tag und dann bis in die Nacht. Die Felder verwandeln sich in eine japanische Kalligrafie. Ich verbringe etliche Stunden in einer Veranstaltung, aus der ich mich vorzeitig in gebückt - gesenkter Haltung hinausschleiche, eine U-Bahn nehme und der Beschreibung in den Park folge, um den Ort zu finden, an dem heute getanzt wird.
Eine kleine Turnhalle unter kahlen Bäumen, beim Betreten knarzen die schweren Holztüren. Es gibt in diesem Stadtviertel einige alte, allein stehende Turnhallen, gebaut um die Jahrhundertwende, kaum größer als zwei Klassenzimmer, oft mit Bühne an einem Ende des Raumes, manchmal in Jugendstiloptik. Als ich eintrete ist es dunkel und es wird dunkel bleiben, die Anwesenden nur gelegentlich rot erhellt von der zurückhaltenden Lichtanlage. Durch schmale Fenster sind die unbewegten Bäume des Parks zu sehen und überall in der großen schwarzen Luft weiße Flocken. Die starken farblichen Kontraste des Januars werden in dieser Nacht getoppt von den akustischen Polen, draußen still, drinnen laut. Ich tanze einigermaßen vorgekocht, da in den Stunden zuvor bereits einiges geboten war an grenzwertig intensiven Gefühlen, Forderung und menschlichen Aufgaben. Es wundert mich daher nicht, dass ich mich gegen Ende an den Rand der Menge stelle und eine Minute lautlos weine, weil eine junge Frau in meiner Nähe ein Lied singt, dessen Inhalt ich aus Kitschgründen eigentlich ablehnen müsste. Sie singt lauthals, mit offenen Augen und mehrmals hintereinander:
Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.
Die Sonne ist mein Bruder, meine Schwester ist der Mond.
Am nächsten Abend sitze ich mit Freunden in einem Lokal, in dessen durchgewetzten, hellgrünen Polstermöbeln wir seit zwei Jahrzehnten alles feiern, was Menschen widerfahren kann: sich verlieben, heiraten, älter werden, sich verlieren, die anderen verlieren, krank werden, ratlos werden, wieder auf die Beine kommen, von vorne beginnen, weitermachen. Es ist mir mittlerweile recht egal in welchen Ansichten, schlechten Gewohnheiten, politischen Vorlieben und charakterlichen Schwächen wir uns unterscheiden, solang ich gelegentlich Flanke an Flanke zwischen diesen Leuten in die Runde schauen kann, während mein Heimatplanet durch den Weltraum fliegt.
Nachtrag: Die Toiletten der Turnhalle im Park wurden vermutlich in den 70’ern saniert und befinden sich in einem Zustand, den ich noch aus meiner Schulzeit kenne. Auch die eigentlich großartige Vorrichtung, um nachhaltiges Händeabtrocknen zu ermöglichen, versagt auf die gleiche Weise wie damals.
Alle Mondfotos: Mondlandschaften, Thorsten Dambeck, 2022
Es ist warm. Der Winterhimmel an diesem Abend aprikosenfarben. Es wäre ein guter Tag gewesen, um nach der Arbeit auf einen der nahe gelegenen Berge zu steigen, den Sonnenuntergang abzuwarten, mit der Stirnleuchte runter zu gehen, während es dunkel wird.
Ein Freund hat sich ein Fernglas gekauft, wir schauen bei Tageslicht auf den Mond. Die Krater sind gut zu erkennen, die Mondhaut pockennarbig und kreidig. Ich habe, obwohl ich mich sehr für den Mond interessiere, bisher nie durch ein Fernglas oder Teleskop auf ihn gesehen und rufe einen Verblüffungslaut, als er ins Bild rückt. Er ist wirklich eine Kugel. Wie wir.
Planetenforscher vermuten, der Mond sei nach seiner Geburt in näheren Bahnen um die Erde gekreist. Nur ca. 200.000 Kilometer entfernt von uns. Das ist ungefähr die Hälfte seiner jetzigen Entfernung. Er wirkte größer und war deutlicher auszumachen. Leider bewegt er sich jedes Jahr 3,8 Zentimeter von uns weg. Ich finde das nicht gut.
Im Büro sitze ich einmal in der Woche neben einer etwas älteren Kollegin. Menschen wie sie gab es früher viele in der Institution. Sie sterben jetzt alle aus. Immer wenn die Kollegin für einen Moment den Raum verlässt, schaue ich auf ihren Schreibtisch und versuche mir alles einzuprägen; diese Art sich zu verwalten, diese Art sich am Arbeitsort wohnlich einzurichten - wird bald für immer verschwunden sein. Ich zähle 24 gespitzte Bleistifte in dem Keramikhalter neben ihrer Tastatur, zwei gerahmte Familienfotos, eine Weihnachtstassensammlung, eine Reisetassensammlung, eine Reihe kleiner Pflanzen in bunten Töpfen. Dahinter im Regal ein auf Servietten angerichteter Obstteller mit bereitgelegtem Obstschneidemesser. Daneben ein (vom Büromanagement verbotenes) privates Möbelstück, in dem 4 Handcremes, 5 Geschirrtücher, 6 Vasen, 3 Handtücher und eine Vorratspackung Gummihandschuhe aufbewahrt werden. An der Wand dahinter zwei Wandkalender mit erbaulichen Motiven und ein neunbändiges Lexikon, dessen Inhalt eigentlich auch digital vorliegt. Unsere Abteilung ist erst Ende November in dieses Gebäude eingezogen. Wann hat die Kollegin all das hier her gebracht?
Früher, als es noch kein Büromanagement und kein Verbot privater Möbelstücke am Arbeitsplatz gab, kam es regelmäßig zu Räumungen, wenn Mitarbeiter krank wurden und aus dem Dienst ausschieden oder aus anderem Grund nicht wiederkehrten. Es fanden sich dabei Kühlschränke, Toaster, Kassettenrekorder, Gartenstühle, Nachtkästen, fünfarmige Deckenstrahler, Wechselkleidung für alle Jahreszeiten und Hausschuhe. Viele der damaligen Mitarbeiter verbrachten ihr gesamtes Berufsleben, 40 Jahre, in der Institution. Ich glaube, sie rechneten einfach nicht mehr damit, dass das jemals vorbei sein könnte.
Es gibt immer wieder kleine Mondbeben. Meistens auf der Seite, die unserer Erde zugewandt ist. Was eventuell an der Gravitation der Erde liegt. Umgekehrt hebt und senkt sich die Erdoberfläche um ein bis zwei Meter, je nachdem wo der Mond gerade steht. Als der Mond der Erde noch näher war, bog und verformte sich unsere Oberfläche in erheblichem Maß.
In meiner anderen Aufgabe nage ich mich durch das Klassifikationssystem der psychischen Erkrankungen. Letzte Woche die Kapitel zum Formenkreis der Schizophrenien abgeschlossen. Es ist die erste Runde. In einem halben Jahr werde ich das alles noch einmal anders kennenlernen. Mein begleitendes Tier in diesen Wochen ist der Biber. Sein beharrliches Hineinraspeln in den Baum. Vielleicht habe ich schon einmal darüber geschrieben: Biber nagen den Stamm nie ganz durch. Sie hören rechtzeitig auf und lassen den Rest vom Wind erledigen. Ich mag diese Haltung. Selbstschutz. Und Vertrauen in die Elemente.
Nachtrag: Sie nagen die dicken Stämme nicht ganz durch, die dünnen schon.
Ich habe ChatGPT noch nicht ausprobiert, lasse mir aber gern von allen möglichen Leuten erzählen, was sie damit machen. Mehr als die Ergebnisse interessiert mich, welche Fragen die Fragenden stellen. Was die Person will, tut, erwartet, wie sie davon erzählt, worüber sie lacht, wie genau die Annäherung vor sich ging. Passenderweise lese ich gerade wieder Buber. “Mein Du wirkt an mir, wie ich an ihm wirke. Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf. Wie werden wir von Kindern, wie von Tieren erzogen. Unerforschlich einbegriffen leben wir in der strömenden All-Gegenseitigkeit.”
Am letzten Tag des Jahres fahre ich zum Fluss und lege meine Hand ins Wasser. Es ist nicht eiskalt, es hat ungefähr Oktoberkälte. Ich streife durch die Uferböschung, das Rot der kahlen Weidenzweige und das Beige des trockenen Schilfs. Im Kies drehe ich die Steine um. Ich habe hier noch nie einen grünen Stein gesehen, kann mir aber vorstellen, heute einen zu finden.
An Silvester mache ich nichts. Ich mache sogar den Fehler, um 22:30 Uhr mit einem Projekt anzufangen, das ich lange aufgeschoben hatte. Nach 20 Uhr zu arbeiten oder irgendwas erreichen zu wollen ist gegen meine Regeln. Ich habe sehr strikte Regeln, um mich davor zu bewahren ein unentspannter Mensch zu werden. Es läuft dann auch total frustrierend.
Am ersten Tag des neuen Jahres gehen wir auf einen Berg. An der Bergflanke traben Gämse durch kniehohes papiernes Gras. Die Tiere sind gut genährt oder haben ein dichtes Winterfell, auf die Entfernung ist das schwer zu sagen. Es ist so warm wie sonst im Oktober oder März, das letzte Stück legen wir im T-Shirt zurück und ich kriege Kopfweh, weil ich schnelle Temperaturwechsel nicht vertrage.
Mehrmals kommen Freunde zu Besuch, wir sitzen um den Tisch, liegen auf dem Teppich und stehen auf der Straße in milder Luft. Der Winter liegt schon weit zurück, die Ziegen des Nachbarn schlafen in der Sonne mit ihren lächelnden Gesichtern. Beim Lernen bin ich in den Kapiteln zu Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis angekommen. Es geht voran, dennoch muss ich ab Morgen das wöchentliche Pensum erhöhen. 2023 starten zwei Zusatzausbildungen, zwei Lerngruppen und voraussichtlich werde ich eine Weile in einer Einrichtung hospitieren. Ich kann es kaum erwarten, die Erkenntnisse und Fertigkeiten in meine Arbeit zu implementieren.
Den grünen Stein finde ich noch am letzten Tag des Jahres. Er liegt in der Bucht im flachen Flussbett, wo ich im Sommer häufig saß und dem Wasser zusah, wie es um mich herum vorbeifloss. Das Wasser hat mir geholfen. Viele Stunden darin zu sitzen. Eine leibliche Erfahrung zu machen, bevor ich verstehe, warum ich genau diese Erfahrung will. Unverhältnismäßig viel Zeit damit zu verbringen. Das Wasser so lang zu fühlen bis diese eine verkrustete Stelle in mir flüssig wird, nachgibt, die Kontrolle verliert. Das ist das Gegenteil von mir. Es ist das, was ich wollte, ohne es wollen zu können.
Im Kurs sind fast alle krank oder verhindert, wir tanzen zu dritt; meine Lehrerin, eine andere Frau und ich. Wir sind vertraut miteinander, vertraut mit den Rhythmen des traditionellen ägyptischen Tanzes und dem arabischen Gesang. Daher sprechen wir kaum und die Lehrerin gibt keine Hinweise. Wir vollziehen unsere Bewegungen, lose zusammengehalten von Schrittfolgen, die Menschen vor rund zweihundert Jahren entwickelt haben, um sich fortzubewegen, zu feiern, einen Anfang zu machen, ein Ende.
Die dunklen Flecken des Mondes werden Mondmeere genannt, weil man sie ursprünglich für Wasseransammlungen hielt. Was für damalige Astronomen wie Ozeane aussah, sind Tiefebenen, Becken und Senken, oft rund, in denen erstarrte Lavadecken liegen. Entstanden sind sie vermutlich durch Einschläge, als der Mond noch jung war und sein Mantel flüssig.
Ich kann nicht genug betonen, wie aufregend ich die Fähigkeit eines Planeten, Steins, Tiers, Menschen finde, zu einer bestimmten Zeit seiner Existenz flüssig und später fest und vielleicht noch später wieder flüssig oder etwas anderes zu sein. Die Möglichkeit irdischer und außerirdischer Körper vom Moment der Zeugung oder Entstehung an, viele gewisse und ungewisse Stadien zu durchlaufen. Die nicht abgeschlossene Umgestaltung, selbst wenn dazwischen für 1 Milliarde Jahre mal Ruhe ist.
Den Mondmeeren wurden Namen gegeben. Sie heißen Meer der Kälte, Meer der Gefahren, Schlangenmeer, Meer der Begabung, Meer der Fruchtbarkeit oder Meer der Heiterkeit. Die meisten Namen stammen von dem Astronom Giovanni Battista Riccioli, der 1651 eine Karte der dunklen Mondflecken anlegte.
Auf dem Mond gibt es auch Erhebungen, flach aufgewölbte Rücken, die Berge genannt werden und maxmimal 100 Meter hoch sind. Die Berge tragen ebenfalls Namen, meist den eines Gebirges oder einer Person der Erde. Sie heißen zum Beispiel Karpaten, Mont Blanc, Berge des ewigen Lichts oder auch einfach mal Dieter.
Ich glaube für Mondbewohner ist Dieter der Gipfel, den man gut bei gleichgültiger Laune und mäßiger Kondition an einem Montag im Februar machen kann. Wenn sonst nichts ist.
Am Tag vor Weihnachten gehe ich in den Wald. Die Waldarbeiter, die hier im Winter Nadelbäume fällen, lassen immer einen großen Haufen Zweige liegen. Direkt an der ersten Weggabelung. Ich weiß nicht, ob das eine Art Serviceleistung für das Dorf sein soll. Jedenfalls gehe ich mit einem Arm voll Zweige nach Hause und binde sie zusammen. Der Zweighaufen an der Weggabelung im Wald ist so groß - er könnte zwei Dutzend Kranzbinde-Workshops in einer beliebigen Stadt Deutschlands mit Material versorgen.
Ich habe eine sehr konkrete Erinnerung daran, wie meine Mutter und etliche Tanten Ende der Achtziger in einem Wohnzimmer voller Trockenblumen sitzen. Am Tag darauf hing in jedem Haushalt der weitläufigen Verwandtschaft ein Flechtwerk aus Disteln, Ähren und Lavendel an Eingangstüren oder Flurwänden. Diese Gestecke hingen dort zum Teil bis weit in die Neunziger.
Ich bin eine harte Linie gefahren im Dezember und habe 2/3 aller möglichen Veranstaltungen, Institutsfeiern, Konzerte, Umtrünke, zusätzlichen Termine im Rahmen der Fortbildung und zusätzlichen Termine im Rahmen der Tanzgruppe abgesagt. Und siehe da, ich kam zur Besinnung. Jetzt gegen Ende ist mir fast ein bisschen langweilig geworden. Ich fühle mich ausgeruht, friedlich und bereit für Kontakt.
Es schneit in dicken Flocken. Beim morgendlichen Vorhangzurückziehen stellen sich tschechische Märchenfilmimpulse ein. Kurz lockt der Gedanke mit offenen Haaren und nichts als einer Schafwollweste überm Leinenkleid in den Schnee zu rennen, ehe beim Öffnen des Fensters dieser Gedanke im Keim erfriert. Diese Wochen sind nur mit Outdoorkleidung zu bewältigen. Outdoorkleidung der Sorte, die mehr mit Astronautenanzügen als mit Impulsen gemein hat.
Wenn ich in Sozialen Netzwerken Fotos sehe von Menschen, die vor winterlich anmutender Landschaft in knöchelfreien Jeans und lose um sich geschlungenen Schals Winter-coziness ablichten, weiß ich, dass bei denen nicht wirklich Winter ist. Dass diese Leute gerade einen etwas kälteren Tag in Texas erleben oder eine sachte Schneewehe im Süden Frankreichs.
Wenn hier Winter ist geht nicht mehr viel. Tagsüber ist das anstrengend, weil man ja doch manchmal einkaufen oder zu einer S-Bahnstation fahren muss und dabei alles mitnimmt: Schneegestöber, Glatteis, kaum Sicht, eingefrorene Schlösser, am Holzboden festgefrorene Stiefel.
Dafür sind die Nächte selten schön. Still und zugedeckt von der weißen Masse. Die Kapelle auf dem Feld unter einer orthodoxen Schneelast, noch entrückter als sonst.
Bei einem Onlinemeeting zu den Vorschriften im neuen Gebäude weist die Abteilungsleitung darauf hin, keine Nacktkalender mehr in den Büros zu dulden. Man muss sich das vorstellen. Meine Kolleginnen und Kollegen, die mitunter 7-8 Jahre brauchen, ehe sie einem das Du anbieten, die präferiert hochgeschlossene Kleidung in gedeckten Farben tragen, die auch nicht unter äußerster Bemühung ihres Willens dazu in der Lage sind, in der Anwesenheit einer anderen Person ein vulgäres Wort über ihre Lippen zu bringen. Von diesen Menschen soll jemand einen Nacktkalender in seinem Büro hängen gehabt haben, sichtbar? Natürlich verleitet mich die Erwähnung der neuen Vorschrift zu zeitintensiven Überlegungen. Wo könnte besagter Kalender gehangen haben; bei externen Mitarbeitern im Magazin, Praktikanten in den Ausweichbüros oder in einem der Lager, wo ausrangierte Mikrowellen und Tastaturen gestapelt werden? Ich unterstelle den übrigen Teilnehmern des Meetings ähnliche Erwägungen. Ein paar sehe ich verhalten lachen - stumm geschaltet.
Unterdessen habe ich es nicht geschafft vor dem Kälteeinbruch den kranken Baum im Garten zu beschneiden. Eigentlich spricht alles dafür, ihn zu fällen. Ich sag das nicht gern, aber es ist so: Dieser Baum bringt nichts. Und es braucht mindestens ein Peter Wohlleben’sches Verständnis vom Wert eines Baumes, um ihm einen etwaigen unterirdischen Nutzen bei der Versorgung anderer Bäume zuzugestehen. Oberirdisch ist der Baum eine Katastrophe. Aber ich will nicht vorschnell handeln und lasse mich gern von Gandalf erziehen: Man weiß nie wofür ein anderes Wesen noch da ist. Es war ja auch zum Schluss Gollum, der den Ring endgültig entsorgt hat. Und nicht Frodo. Wir erinnern uns.
Wenn ich das Geld zusammen habe, wird sich vielleicht ein professioneller Baumschneider das mal ansehen. Und dann schauen wir weiter. Es schneit immer noch. Es schneit den ganzen Tag.
In etwa vier Wochen beginnt die Paarungszeit der Füchse, ich habe bereits einen von ihnen auf den Schnee bedeckten Feldern herumturnen sehen. Die Anbahnung einer Fuchspartnerschaft ist kein leichtes Unterfangen. Bevor es zur Paarung kommt prüfen sich die beiden, indem sie miteinander kämpfen, sich zärtlich umschlingen und voreinander weglaufen. Dabei geben sie Laute von sich, die menschlichem Schreien nicht unähnlich sind. Ich war im letzten Januar einmal eine halbe Stunde Beobachterin, als zwei Füchse sich um den Weiher jagten, ineinander verknoteten und nacheinander schnappten. Man kann ihnen nur wünschen, dass der ganze Stress sich lohnt.
Gestern Abend bin ich am Ende des Herrn der Ringe angekommen und bewege mich auf die letzten Seiten zu. Die Handlung wurde für mich erst interessant, als die Beschaulichkeit des Shire, das ständige Essen, Singen und Verwandtschaft Antreffen vorbei war, ich habe mehrere Kapitel davon übersprungen und stieg wieder ein, als Frodo dem Auenlandplüsch den Rücken kehrt, die Tür hinter sich zumacht und geht.
Ich war zwanzig, als ich mit Fieber im Bett lag und die Trilogie zum ersten Mal las. Obwohl mir das Buch damals gefiel glaube ich im Nachhinein, nicht viel davon verstanden zu haben. Vermutlich die oben aufliegenden Worte und eine Ahnung vom Textkörper darunter. Vielleicht musste ich vierzig werden, ehe ich die Grenzen der einzelnen Figuren erfassen, ihre quälende Sehnsucht nach irgendwas und irgendwem teilen konnte.
Es hat mich diesmal sehr mitgenommen; die für die Gefährten von Anfang bis zum Schluss anhaltende Unsicherheit darüber, was zu tun ist und wie. Die permanent zu treffenden Entscheidungen, während es vorne und hinten an Informationen und Erfahrung mangelt. Die zunächst noch empfundene Stärke durch die Anwesenheit der Gruppe und das auf sich selbst zurück geworfen Sein, als diese Gruppe zerschellt. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist jeder und jede einmal vollkommen allein und muss absteigen in das Bergwerk des eigenen Ichs.
Es hat mich schier gekrümmt, wenn Eowyn davon berichtet, nichts zu kennen als Stagnation und Verfall. Ein Zustand, der sie im weiteren Verlauf wohl tatsächlich ereilt hätte, wäre sie nicht für eine Weile in die Kleidung, Rüstung und den Namen einer anderen Gestalt gestiegen. Dass diese Verfremdung nötig war und es für sie keinen anderen Weg gab. Die Filme stellen natürlich verkürzt dar, in den Büchern werden diese Passagen ausführlich erzählt.
Wie überhaupt alle Beteiligten konstant in ihren Gedanken Hin- und Herstolpern im Versuch, privates Glück zu konservieren bei fortschreitender Erkenntnis der Unmöglichkeit eines privaten Glücks im globalen Unglück. Daneben aber dennoch die Stunden von Freundschaft und Schönheit aufgenommen werden, nicht verschleudert. Dass es, auch wenn die Bücher von einem Jahr des Krieges berichten, um Erhaltung geht und Verbindung. Letztlich um eben das Singen, Essen und Kooperieren in einem Gefüge, dessen Ausmaß niemand überschauen kann.
An einer Stelle überreicht Galadriel Sam ein kleines Behältnis mit Erde. Sie sagt sinngemäß: Falls du diesen Krieg überlebst und falls es dann auf der Welt noch Orte gibt, in denen man Gärten anlegen kann, beginne mit diesem Behältnis, in dem etwas heil geblieben ist und nicht verbrannt.
Am Samstagabend sitze ich mit einigen Bekannten und Freunden in einem funktionalen Raum auf dem Boden und esse Pizza aus Kartons. Wir haben die Neonröhren ausgeschaltet, Lichterketten an das Flipchart und die Wanduhr gehängt, leise Musik angemacht und damit den Raum hinreichend weihnachtlich umgepolt. Es ist das Ende eines langen Tages und der Abend vor einem weiteren langen Tag und die meisten in der Runde sehen so erschöpft aus, wie man nur aussieht, wenn grundsätzliche Dinge einmal komplett auf links und im Anschluss wieder zurückgedreht wurden.
Ich bin auch müde und unterhalte mich mit meinem Nebensitzer auf dem Boden und frage ihn dabei nach dem für ihn wichtigsten Satz in einem bestimmten Film und er überlegt eine Weile, beugt sich vor, sagt den für ihn wichtigsten Satz und dann kommen ihm die Tränen. Ich schaue in sein Gesicht und denke, dass das meine neue Realität ist: umgeben zu sein von Leuten, die ungefähr in der Mitte ihres Lebens angekommen sind, einigermaßen versehrt dastehen, zulassen, dass dieses Leben sie weiterhin trifft und beschlossen haben, nicht dicht zu machen.
Dann springt die Playlist zu Bowie, ich stehe auf, drehe lauter und tanze, während ich damit hadere, immer der Depp zu sein, der anfängt mit dem Tanzen; diese Entäußerung, mein Körper, der Hunger nach allem. Ich versuche mich abzufinden mit meiner unfreiwilligen und nur halb gewählten Tendenz, Anschauungsmaterial abzugeben. Es kommt dann aber anders und Bowie hat noch nicht zu Ende gesungen, als ein recht großer Teil der Anwesenden neben und mit mir tanzt und erst kann ich es nicht begreifen und als ich es begreife macht etwas in mir: oh.
Am Dienstag darauf sind die Pfützen auf den Straßen eingefroren und spiegelglatt, ich fahre ins Büro, arbeite ein paar Stunden und friere in dem ausgekühlten Gebäude. Es ist eines dieser Gebäude, die prinzipiell irgendwann warm werden, in dem Finger und Füße aber durchgehend kalt bleiben. Die gefürchteten zitronengelben Institutsregale, die zwei Jahrzehnte in einem Magazin standen und nun mein Büro bestücken sollen, wurden angeliefert und stellen sich als ockerbraun heraus. Ich bin erleichtert. Zitronengelb ist eine so hässliche Farbe und sie hätte mich aufrichtig gestört. Gegen Mittag bemerke ich, den ganzen Tag noch keine anderen Mitarbeitenden angetroffen zu haben, die Türen sind zu, auf dem Gang nichts zu hören. Ich gehe in die Teeküche, um mir einen Tee zu machen und sehe das:
So sind sie, meine Kollegen. Langsam zum Zorn, ausdauernd und regeltreu, gehemmt beim Smalltalk, fair und loyal, vergnügt wenn keiner hinsieht. Ich bin sicher, der oder diejenige, die das getan hat, kam heute extra um 5:30 Uhr rein, kauerte mit verdrehten Knien und Pinzette in der Hand eine Stunde vor diesem Altar der Detailverliebtheit und glomm vor kleinteilig organisierter Lust. Solche Menschen stürzen kein Regime. Ist ein Regime aber erst mal gestürzt, leisten sie hervorragende Aufbauarbeit, archivieren die Vergangenheit und verschicken an alle den Link mit den Zugangsdaten.
Am Mittwoch das Handy zu Hause vergessen, den Tag als Detox verbucht. Es liegt Raureif auf den Feldern, jeder Grashalm grenzt sich kristallin vom nächsten ab, das Licht zersplittert an den Zweigen. Ich habe den Übergang geschafft und bin in der Kälte angekommen, schlafe länger und ziehe drei Pullover übereinander, wenn ich vor die Tür gehe. Mit dem Lernen geht es voran, auf Dunkelheit und Reizarmut ist einfach Verlass.
Eine Nachbarin hat uns eingeladen. Sie ist 70 und lebt so, wie ich mit 70 leben will. Manchmal, wenn ich an den bodentiefen Fenstern ihres Hauses vorübergehe, sehe ich sie zusammengerollt in einem Sonnenquadrat auf dem Teppich liegen. Wie eine Katze. Vor zwei Jahren ist sie beim Klettern am Berg abgestürzt und musste gerettet werden. Sie ist schon immer geklettert, hat dabei einige Freunde verloren und war recht verblüfft, dass ihr jetzt tatsächlich selbst so ein Absturz passiert. Während sie die Felskante runterschlitterte und sich überschlug gingen ihr drei in sich abgeschlossene Gedankengänge durch den Kopf. Alle drei hatten mit Liebe zu tun.
Im Keller die Fotokiste gefunden, raufgenommen und im Wohnzimmer auf dem Boden ausgeleert. Alles nach Jahrzehnten systematisiert, eingetütet und zurück in die Kiste gelegt. Gemischte Gefühle gehabt.
refuse no longer cautious animal
no harm, no harm
will the river bring
to the raw element you are
Ich war mir der Verwöhnung bewusst, jahrelang in einem der schönsten Viertel Münchens gearbeitet zu haben. Es bestand auch im Kolleginnenkreis kein Zweifel über die Verschlechterung, die ein Interimsquartier, wo auch immer es liegen mochte, zwangsläufig sein musste. Und es hat in Gesprächen zum bevorstehenden Umzug niemand gejammert ohne den Hinweis auf das hohe Niveau der Jammerei, die zeitgleich anderswo stattfindenden Kriege, die schonungslose Zerstörung von Ökosystemen und Verarmung von Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Zu Letzeren habe ich bis vor gar nicht langer Zeit selbst gehört. Das ist der Kontext.
Innerhalb dieses Kontexts fuhr heute Morgen eine U-Bahn in den Stadtteil ein, in dem hundertfünfzig Mitarbeiter und ich nun eine Weile lang (5-10 Jahre) in einer Büroscheibe verräumt sein werden. Ja, so heißt das wirklich: Büroscheibe. Und wenn man drin wohnt, heißt es Wohnscheibe. So steht es geschrieben. Genauso wie: Gebäudespangen, Streckenast und Einkaufsriegel. Ich mag die Architektursprache und finde sie gleichzeitig so abartig, enthoben und kapitalismusversaut, dass ich sie nur benutzen kann, wenn ich sie nicht ernst meine. Ich sitze also heute Morgen in der U-Bahn, die auf diesem Streckenast oberirdisch fährt und sehe aus dem Fenster. Anstatt zu beschreiben, was in mir vorging, trage ich hier mal zusammen, wie es zu diesem Stadtbild kommen konnte.
Der Wohnungsnot in den 60’er Jahren antwortete der Münchner Stadtrat mit dem Bau von Entlastungsstädten. Satelliten im abgelegenen Norden, Westen und Süden der City. Die Planungsgruppe unter Egon Hartmann (Karl-Marx-Allee, Berlin) erarbeitete für das Areal im Süden einen vielschichtigen Entwurf sich wild kreuzender Bedürfnisse. Das heißt leben, trinken, arbeiten, auf Leute treffen, mit denen man gar nicht verabredet war, fürs Abendessen einkaufen, noch raus zum Fußball spielen, im Atelier versacken oder doch zum Konzert - war alles so verdichtet, dass es einer gewachsenen Stadt sehr nahe kam. Die Natur war in diesem Entwurf nicht in die kleinteilige Begrünung von Wohnanlagen verbannt, sondern rankte in großen Ringen und Flächen um die Stadt herum und über die Parks in sie hinein.
Dieser Entwurf wurde auf Wunsch der Stadt im Sinne einer wirtschaftlicheren Bauausführung erst zurückgeschnitten und dann zugunsten einer klaren Trennung von Wohn- Einkaufs - und Bürozonen komplett aufgegeben. Bürgerhaus, Volkshochschule, Bibliothek, Sportplätze, Kino, Musikkonservatorium, Künstlerhof, Eislaufen, Hallenbad entfielen ersatzlos.
Eugen Hartmann sagte die Degeneration dieses künftigen Stadtteils voraus, beteiligte Architekten distanzierten sich, noch während der ursprüngliche Entwurf abgeändert wurde, um den Prämissen einer autogerechten Verkehrsführung, gleichförmiger Gebäudeausrichtung und Ausdehnung der Wohnriegel zu entsprechen. Es half nichts. Es fand sich einer, der das umsetzte.
Der erste Künstler, der dann 1969 in dieser Entlastungsstadt etwas tun durfte, buddelte einen vier Meter tiefen Trichter in die Erde und nannte ihn: Munich Depression.
Stieg man in den Trichter hinab, verschwanden die Gebäude aus dem Blickfeld und nur ein Stück freier Himmel blieb übrig. Der Künstler hatte sofort verstanden, wie man hier nur zurechtkommen konnte. Den Trichter gibt es nicht mehr. Er wurde überbaut.
Zurück zu mir und meinen hundertfünfzig Kolleginnen und Kollegen. Die Stimmung ist gut. Sie ist geknickt, aber gut. Wir haben die Büros bezogen, wir haben den halbleeren Edeka gefunden, wir haben gefühlt, dass wir uns in einer nicht für Menschen gemachten Architektur befinden und das akzeptiert. In die neue Küche setzt niemand freiwillig einen Fuß rein, aber jeder bleibt an dem Teetisch in meinem kleinen Raum ein paar Minuten stehen und wärmt sich auf. Einmal sind es 9 Menschen gleichzeitig, was eine große Summe ist, eine dichte Zahl, eine synaptisch interessante Atmosphäre, die wir erschaffen, während sie draußen nicht existiert.
Seit etwa zehn Jahren gehe ich in die Berge, im Sommer sehr oft, im Winter manchmal. Jedes Mal, wenn ich dort bin, kommt der Moment, an dem ich aus einem Bach trinke und mich frage, warum Wasser in dem Bach ist. Woher der Bach oder die Quelle das Wasser nimmt. Mittels einer einminütigen Googlerecherche lässt sich diese Frage beantworten. Warum ich das nie direkt auf dem Berg, gleich nach dem Trinken erledigt habe, weiß ich nicht. Sobald ich zu Hause war, waren alle Gedanken an Bäche vergessen und ich bin zehn Jahre unwissend herumgelaufen.
Meine Mitwanderer sagen in der Regel: Schmelzwasser. Oder Regenwasser. Wenn im August aber alles staubtrocken ist und es vier Wochen nicht geregnet hat, macht das keinen Sinn. Die nächste Antwort lautet: Unterirdisch. Das Wasser wird irgendwie unterirdisch durch den Fels geleitet und kommt an einem Punkt raus. Dann müsste es aber riesige unterirdische Wasserreservoirs geben, die weit oben am Berg, nur wenig unterhalb des Gipfels liegen, denn auch so weit oben, sprudelt es heraus. Nonstop. Die Wasserspeicher können auch nicht im Tal oder auf halber Höhe des Bergs liegen, weil Wasser nicht ohne Druck aufwärts fließt und der Kapillareffekt in der Größenordnung vermutlich nicht greift. Ja, es hat mich wahnsinnig gemacht. Aber immer nur ein paar Sekunden und dann sind wir weitergegangen und es war vergessen. Letzte Woche endlich habe ich auf einer Wissen für Kinder - Seite nachgeschaut. Und damit das jetzt ein für alle Mal für mich klar ist, fasse ich es hier zusammen:
Das Wasser in den Quellen ist ursprünglich Schmelzwasser und Regenwasser, das in den Berg einsickert. Also in die Gesteinsschichten, in Hohlräume und buchstäblich in die einzelnen Steine selbst einsickert. Denn: Steine nehmen Wasser auf und geben es sehr langsam, durch winzige Poren wieder ab. Es gibt Steine, die noch Wochen nach einem Regenschauer Wasser aus sich herausfließen lassen. Unfassbar.
Steine sind wasserdurchlässig. Bei festen Gesteinsarten dauert das sehr lang, bei Sandstein geht es schnell. Das aus den einzelnen Steinen, Spalten und Hohlräumen herauströpfelnde Wasser, trifft manchmal im Berginneren auf eine undurchlässige Schicht - zum Beispiel eine Tonschicht. Auf der Tonschicht staut sich das ganze Wasser und sprudelt am nächstbesten Loch, der Quelle, gesammelt hervor.
Ich schreibe erst jetzt darüber, weil ich doch fast die ganze Woche gebraucht habe, das mit den Steinen zu verkraften. Ich habe immer ein paar Steine zu Hause neben meinem Bett liegen und verbinde mit ihnen alle möglichen Zustände, zum Teil mir selbst unklare und unaussprechbare. Und jetzt zu erfahren, dass sie winzige Poren haben und bei aller Festigkeit auch Schwamm sein können, Speichermedium für etwas Flüssiges, also das genaue Gegenteil ihrer vordergründigen Qualität aufnehmen, in sich halten und wieder abgeben können. Mich macht das sehr glücklich. Es macht mich rasend vor Glück.
Zwei Jahre habe ich die provisorische Homeofficesituation ausgesessen bis mir nun langsam klar wird, wie ich die zur Vermehrung neigende Technik feierabendkompatibel verräumen und am andern Tag mit wenig Aufwand aufbauen kann. Es haben sich Geräte und gadgets angesammelt, aber kein Arbeitszimmer, in dem sie unauffällig auf mich warten könnten.
Im Ofen brennt jetzt jeden Tag ein Feuer. In die Glut schauen und synchron zur Freude darüber an andere Städte und Menschen denken. Diese zufällige Sicherheit. Wäre man nur 2-3 Länder weiter oder 3-4 Jahrzehnte früher geboren, die eigene Belastung, mit der man sich aktuell trägt, schiene erstrebenswert und leicht im Vergleich.
Ich höre, wie solche und ähnliche Sätze auch gesprochen werden, um persönliche komplizierte Gefühle mit einer Hand vom Tisch zu wischen. Der Verweis auf das akutere Leid anderswo. Ich betrachte diesen Verweis neben seiner einordnenden Funktion privater Umstände auch als Flucht ins Unendliche. Als eine Überholspur, um an der konkreten eigenen Situation vorbeizuziehen. Ich kenne von mir diese Überforderung und den daraus resultierenden Aktionismus/Verweis auf dringendere Angelegenheiten und weiß, dass ich diese Tendenz zähmen muss, um hilfreich zu sein. Dass es meine Konzentration und Auseinandersetzung mit dem Konkreten braucht, um das Machbare zu tun, für mich und für andere.
Ich habe jetzt eine Wintersporthose, die warm genug ist, mir Lust auf fallende Temperaturen zu machen. Es war ein weiter Weg, der nicht aufgrund mangelnder Bereitschaft meinerseits lang wurde. Auch die jetzt erstandene Hose ist optisch nicht ganz aus dem Skizirkus raus, hält sich aber zumindest zurück, nur am Bein reflektiert eine Naht und ein unnötiger Schriftzug auf Höhe des Oberschenkels könnte mich ärgern. Ich tue so, als sei er nicht da.
Der letzte Tag im alten Arbeitsgebäude. Das brutalistische Treppenhaus, dessen Betonstille mich oft beruhigt hat, während ich in den vierten Stock rauf stieg, wird eingerissen und niemanden mehr durch sanftes Grau geleiten. Das Moos des Dachgartens in seiner Neonleuchtkraft glüht noch nach in meinen Gedanken.
In der Arbeit verläuft ein Meeting, das potentiell eskalieren könnte, komplett konstruktiv. Sowas passiert an unterschiedlichsten Orten in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder. Es gibt viele Menschen, die besonnen handeln, obwohl ihnen einiges abverlangt wird.
Als ich am Freitag die Leiter an den Apfelbaum lehne, bleibt ein Nachbar am Zaun zur Straße hin stehen. Wir plaudern eine Weile über Apfelsorten, ehe er seine im Juni verstorbene Frau erwähnt, die lange Krankheit und den Abendspaziergang jetzt zum Friedhof. Der Nachbar hat wasserblaue Augen und ein offenes Gesicht, in seinem Garten wachsen hundertjährige Bäume, seine Frau und er haben die Schneiderei im Ort betrieben, als es die Schneiderei noch gab. Ich habe den Mann vorher noch nie gesehen. Vermutlich war er in der letzten Zeit bis zu ihrem Tod häufig drinnen.
Zwei Tage bin ich sehr unruhig und verfalle einer dummen Gewohnheit, die sich immer einstellt, wenn ich unruhig bin. Dann bitte ich jemanden mich dabei zu unterstützten, der Unruhe auf den Grund zu gehen. Im Anschluss ist es besser. Ich sitze auf dem Sofa und tue buchstäblich nichts. Bade in dem Gefühl, nicht von mir selbst gejagt zu werden. Die Ruhe bleibt auch die folgenden Tage. Es fällt mir immer erst ganz zum Schluss ein, jemanden um Hilfe zu bitten. Es ist wirklich das letzte, was ich tue. Ich habe jetzt ca. 300 Mal die Erfahrung gemacht, wie mir fast alle, die ich darum bitte, gern und sofort helfen. Ich bin nicht mehr weit davon entfernt, zu glauben, nicht allein durch diese Welt gehen zu müssen.
In den Bergen sehen wir Fliegenpilze und erinnern uns an die Kalte Platte unserer Kindergeburtstage. Ei, Tomate, Mayonnaise. Wer kommt auf sowas. Wie gelangweilt muss man sein. Es führt kein Weg dran vorbei - der Fliegenpilz kommt dieses Jahr aufs Silvesterbuffet.
Am Wochenende treffe ich viele Leute und werde regelrecht aufgeschwemmt von Begegnungen. Ich mag diese Ausdehnung. Das Umfeld ist sicher genug, dass ich entspanne und verspielt werde, während gelgentlich Situationen um die Ecke kommen, die mich sehr fordern und überfordern. Am Morgen danach sitze ich am Fluss. Eine Stunde fließt er vorüber und hört nicht auf zu fließen.
Eine Freundin und ich unterhalten uns darüber, ob es einfacher wäre, eine einzige stark ausgeprägte Begabung zu haben und dahinter nur schwach oder kaum ausgeprägte Talente, die eindeutig zurückfallen und nicht vertiefenswert erscheinen. Die Idee, beispielsweise Cello spielen zu können und das richtig gut. Daneben aber ein miserabler Gastgeber, eine untermittelmäßige Gärtnerin, ein unmotivierter Freizeitsportler und eine lausige Programmiererin zu sein. Es bliebe einem nichts anderes übrig, als Tag und Nacht Cello zu spielen.
Der Gedanke, in irgendetwas sehr gut zu sein, birgt das Versprechen, sich dann auch sehr gut zu fühlen. Während der Ausblick, vieles mittelgut zu können und parallel zu bedienen, mittelmäßige Gefühle hervorruft.
Um mich in meinen vielen halbausgebauten und weit gestreuten Talenten zu genießen, muss ich daher gelegentlich den Wunsch nach Spitzenleistung verabschieden. Ungefähr alle 14 Tage.
Ich bin bereits einigermaßen routiniert darin, meine Mittelmäßigkeit zu feiern und könnte mir vorstellen, darin richtig gut zu werden. Dann wäre das mein Cello und ich hätte es doch noch zu etwas Außerordentlichem gebracht.
Nachts stehen jetzt wieder häufig Tiere in dem kurvigen Wald auf der Straße und funkeln mit ihren Augen in mein Scheinwerferlicht. Füchse, Rehe und wieselartige Nager. Ich schleiche im 2. Gang an ihnen vorbei und sage: Ihr seid so schön! Ihr seid die eigentlichen Bewohner dieser Welt. Und wir sind nur Müll.
Ein bisschen Menschenhass. Muss auch mal sein. Man kann nicht immer liebevolle Gefühle hegen.
In der Institution läuft es unauffällig. Im zweiten Job läuft es auch. Am besten läuft es am Wochenende in den Bergen. Einmal gehen wir in Kälte und Nebel rauf, einmal in dünnem Sonnenlicht, es werden Pläne für Zimtschnecken gemacht und Dinge besprochen, für die man weit weg sein muss von Zuhause.
Nur diejenigen, die mehrmals gestorben sind, leben. Es führt kein Weg an meiner Dunkelheit vorbei. Mir bleibt lediglich überlassen, mit welcher Haltung ich mich auf sie zubewege. Ob mich das Leben dahin schleppen muss oder ich freiwillig reingehe.
Wenn ich nach vorne schaue, sehe ich, dass ich alles verlieren werde:
- alle meine Freunde
- alle meine Fähigkeiten
- jede Unabhängigkeit
- meinen Verstand
- meinen Körper, den ich mittlerweile so liebe
Jedes Etwas wird zu irgendeinem Zeitpunkt gehen, wegsein, sich auflösen. Am Ende auch meine Spiritualität. Das leite ich daraus ab, dass Jesus, der vermutlich ziemlich spirituell war, in der Stunde vor seinem Tod sagt: Mein Gott, warum hast du mich verlassen.
Auch er hat also, zum Schluss, alles, wirklich alles verloren. Es ist nichts von ihm übrig geblieben. Nachdem er so weit gekommen war, Menschen heilen zu können, indem er sie nur ansieht, berührt, mit ihnen spricht oder mit ihnen Wein trinkt, bricht alles wieder weg. Zuletzt die einzige Person (Gott), die er bis dahin immer in sich wahrnehmen konnte. Man könnte von einem totalen Kollaps seiner Wahrnehmungsfähigkeit sprechen. Was nach stundenlanger Folter nicht verwunderlich wäre.
Ich denke, dass diese Art von Verlust manchmal sein muss. Ich hasse diesen Gedanken, aber ich halte ihn für wahr. Er deckt sich mit dem, was mir auch in anderen Denkschulen, Religionen und Naturphänomenen wahr vorkommt.
In der christlichen Mythologie kommt Jesus nach 3 Tagen und Nächten von den Toten zurück. Er hat einen umgestalteten Körper und ist irgendwie anders. Er ist so anders, dass seine Freunde, als sie ihn treffen, nicht gleich kapieren, dass er es ist. So anders ist er. Um sich auszuweisen, zeigt er ihnen seine Wunden. Die sind noch da. Einer der Freunde legt den Finger direkt in die Wunde. Ich finde das recht intim. Von beiden Seiten. Sich nah zu sein, wo es weh tut.
Ich glaube, darum geht es. Dass ich häufig sterbe und häufig anders werde. Reingehe in meine Dunkelheit, dort nach mir taste. Ob es 3 Tage und Nächte dauert oder 3 Jahre spielt keine Rolle. Die Zahl ist eine Metapher für eine magische Zeit, in der ich Dinge erlebe, von denen nur ich weiß. Und über die ich später nicht berichten kann.
Es gibt ein spezifisches Herr der Ringe Wetter und eine spezifische Herr der Ringe Jahreszeit.
Während dieser Jahreszeit muss ich häufig über die einzelnen Figuren der Tolkienwelt nachdenken, nachlesen, was sie genau gesagt haben und wie ihre Entwicklung verlief.
Wenn ich während dieser Zeit mit Freunden wandern gehe, verstricke ich alle in ein mehrstündiges Abwägen darüber, wer von uns Aragorn, Gandalf, Frodo, Eowyn, Gimli usw. ähnelt, was das für unser weiteres Leben bedeuten könnte, welche Leiden vor uns liegen, welche Wendungen und Aufgaben.
In dieser Zeit kann ich dann auch meist 3-4 Sätze Elbisch sprechen und eines der Waldelbenlieder singen, ich kenne die Zweit- Dritt- und Viertnamen der wichtigsten Beteiligten und weiß was ihre Vorfahren im Second Age getan haben.
Der Herr der Ringe hat viel zu bieten, aber eindeutig zu wenig unterschiedliche Frauen, zu wenig nichtweiße Figuren und keinen einzigen Ork, der nach reiflicher Reflexion die Seiten wechselt. Und natürlich das Hauptproblem: die eindeutigen Seiten. Insgesamt ist der Herr der Ringe so wenig gesellschaftskritisch, so furchtbar hierarchisch, pathetisch und fixiert auf Geburtsrechte, dass es einem immer wieder den Magen umdreht.
Es reicht dann als Märchen, Seelenreise und Geschichte menschlicher Pfade aber doch weit genug, um mich seit zwanzig Jahren zu trösten, wenn Freundschaften eine schwierige Kurve nehmen oder ich mich mit mir selber im Unbekannten wiederfinde. Ich habe sie immer vor Augen - die Neun. Und die anderen darum herum. Ihre Waffen, Schwächen, Talente und Verluste. Und die Verbindungen, die sie eingehen, ohne zu wissen, was daraus wird.
Samstagabend tanzen gegangen, vier Stunden, ohne Alkohol, ohne Drogen, ohne Reden, in einem Raum mit 170 Menschen, die wegen dem Tanzen kommen und Lust auf diese Einschränkung haben. Ich interessiere mich für meine Nüchternheit. Ich kann nüchternen Gefühlen etwas abgewinnen; meine Unsicherheit am Anfang, meine Angst vor Ablehnung, meine Angst vor Zuwendung, meine Aufgeregtheit vor jeder körperlichen Begegnung, selbst wenn sie berührungslos verläuft. Wenn ich an meiner Seite bleibe, mich nicht betäube, nicht ablenke, verwandeln sich die schwierigen Gefühle. Ich habe diese Erfahrung oft gemacht, ich weiß, dass sie sie eintritt. Ich weiß, der Rausch kommt. Ich bin der Rausch, der Rausch bin ich.
Nach dem Tanzen esse ich ein Snickers, trinke Wasser und steige in die S-Bahn. Es ist Mitternacht und ab jetzt alles gleichzeitig: Wiesn, Messe, Security, von Regen und Zuckerwatte heruntergewirtschaftete Kinder mit abwesenden Augen zwischen sturzbetrunkenen Erwachsenen in teuren Trachten und Jugendlichen in Brathendlkostümen. Eine Weile höre ich minderjährigen Engländerinnen dabei zu, wie sie rekapitulieren, wer wen wann auf welcher Bierbank angefasst hat, dann schweift mein Blick zu einem Mädchen, das einen Bund Radieschen aus ihrer Rocktasche zieht und mitfahrenden Männern zur Verköstigung anbietet. Die Männer essen die Radieschen und lachen. Ungefähr da merke ich, dass etwas nicht stimmt.
Ich bin schon oft in Ohnmacht gefallen. Es fängt mit Hitze an. Ungewöhnliche Hitze. Ab da habe ich noch circa 2 Minuten, um die richtige Entscheidung zu treffen. Die richtige Entscheidung ist immer, mich an Ort und Stelle hinzulegen, die Füße gegen die Wand zu lehnen und jemanden zu bitten, kurz mal auf mich aufzupassen. Leider aber lässt die Fähigkeit, rational zu handeln, sofort nach Auftreten der Hitze, rapide nach. Ich habe mich daher nicht auf den Boden sinken lassen und nicht die Beine hochgelegt, sondern eine Gruppe schwer lallendender junger Erwachsener angesteuert, um mich einen Moment auf dem freien Sitz neben denen auszuruhen.
3 Stationen später haben mich diese jungen Menschen aus der S-Bahn gezogen, ihre Strickjacken unter meinen Rücken geschoben und den Notartz gerufen, was nicht nötig gewesen wäre, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht mehr erklären. Was ich trotz partieller Abwesenheit registrierte war, dass ein sehr liebevolles, besoffenes Mädchen namens Anna auf dem Asphalt saß, meinen Kopf hielt und dabei ihren schweren kühlen Busen auf meiner Stirn ablegte, dass jemand wiederholt versuchte, mich in die stabile Seitenlage zu drehen, während ein Mann namens Tobi sagte, er sei Ersthelfer in seinem Büro und die stabile Seitenlage sei falsch, dass darauf Anna mein Handy aus meinem Rucksack kramte und mehrmals: PIN, was ist deine PIN, rief, um dann die Bezugsperson anzurufen, die ich ihr nannte, um dann mit dieser auf sehr süße betrunkene Weise Denglisch zu sprechen, obwohl meine Bezugsperson einwandfrei Deutsch antwortete, wie sie das immer tut und immer getan hat.
Der Notarzt kam und meine Bezugsperson kam und die Nachbarfreundin kam und alle Werte waren okay und nichts Schlimmes passiert und Anna und Tobi und noch ein Anderer winkten und torkelten weiter und alles wurde gut und nächste Woche kaufe ich einen Tragerl Bier und bring das meinen Rettern vorbei, weil die Nachbarfreundin die kennt und weiß wo die wohnen.
Und so ist das. Manchmal gibt man viel Liebe und manchmal empfängt man viel Liebe. Und während 170 Leute nüchtern nach Hause gehen, wanken Hunderttausende ohne Impulskontrolle durch die Stadt. Und alle begegnen sich und keiner weiß, was an diesem Abend noch passiert.
Zwischendurch beansprucht eine Schreibaufgabe meine Aufmerksamkeit. Jetzt passt das schlechte Wetter wieder, denn ich muss mehrere Stunden Nachdenken und Notieren im Wechsel, was bei Sonnenschein eine Qual ist und nervt und nicht geht.
Am Montag auf einen sehr beliebten Berg gegangen, Apfelschorle getrunken und wieder runter getrabt. Kurz vorm Gipfel das für mich neue Phänomen; der Fels von hunderttausenden Händen, die sich daran raufgezogen haben, abgerundet und speckig. Wie Heiligenstatuen an Pilgerstätten.
Zurück im Garten pflanze ich Weiden und antizipiere das Geräusch, das ihre Blätter im Wind machen werden in 3-4 Jahren.
Im Bauernhaus nebenan ist ein Mann ausgezogen, den ich für so was wie den Hoferben und eine Instanz im Dorf hielt und der mir noch vor meinem Einzug über den Zaun seinen Namen zurief und sagte: Wenn du mal eine Motorsäge brauchst, sag Bescheid.
Es stellt sich heraus, dass er weder Hoferbe noch Instanz war, was eine Art kleine Erschütterung in dem eng gehäkelten Gefüge meines Bildes von dieser Nachbarschaft ist, die nicht so eng gehäkelt ist, wie ich das manchmal fantasiere.
Was aber genauso idealisiert ablief wie erwartet, war die Versorgung und Aufpäppelung der älteren Dame mit Oberschenkelhalsbruch, wohnhaft in dem gleichen Bauernhaus nebenan. Wochenlang rückten Verwandte, Bekannte und scheinbar von der Kirche abgestellte Helfer mit Fresskörben, Getränkekisten und Medikamenten ein, kochten, putzten, plauderten und rauchten anschließend eine Zigarette auf dem Balkon der Dame. Sie kann jetzt wieder gehen.
Derweil gibt es für mich bei weiter prognostiziertem Starkregen und Dauerregen keine Ausrede mehr, nicht mit dem Lernen anzufangen. Der Sommer kommt nicht zurück, auch wenn ich bockig die Tasche mit den Büchern ignoriere. Ich weiß, es wird mir wieder Spaß machen, sobald ich die erste Seite im Kopf habe, doch der von Mai bis August angemästete Schlendrian deutet auf die Wetterapp und sagt: Morgen, 12 Grad, trocken bis heiter, da könnte man doch noch mal baden gehen.
Mit dem zur Seite kippenden Wetter komme ich schlechter zurecht, als erhofft. Ich bin noch nicht bereit für den Rückzug in Räume, zweifel aber auch an meiner Robustheit, d.h. der Fähigkeit bei weiter fallenden Temperaturen länger als 1-2 Stunden täglich draußen zu sein. Es gibt hier noch echte Winter, echte Kälte, Schnee schippen, Schneeverwehungen, wochenlang vereiste Straßen. Ich darf mich nicht reinsteigern.
In der Institution sind zwei Paletten fremdsprachiger Bücher eingetroffen. Am Dienstag sind die Bulgarischen über meinen Schreibtisch gewandert, Französisch und Türkisch folgten. Seit dem Frühjahr sitzt gelegentlich eine französische Kollegin im Büro. Ich mag ihr Seufzen und Lächeln, wenn sie die Stapel auf meinem Tisch entdeckt und in ihre eigene Sprache hineinblättert.
Mit Freunden an dem einen schrecklich aufgemotzten und uferverbauten See vorbei gefahren, um in das dahinter liegende abseitige Tal zu gelangen, wo eine kleine Bergkette mit teilverwilderten Aufstiegen zu einer unauffälligen Anhöhe führt. Dort im Gras gesessen. Geredet. Später Wasserschlacht.
Wertstoffhof. Ähnlich irrealer Moment wie beim ersten Einkauf in den Supermarktfilialen hier. Vor allem die Leere, Weite, die Neutralgelauntheit und Kontaktfreudigkeit des Personals. Es ist eine Umkehrung meiner Erfahrung mit öffentlichem Raum der letzten 10 Jahre in München. Niemand schreit, dreht durch oder beschallt einen mit politischer Gesinnung und schlechter Musik.
Daneben die Frage: Wo sind die psychisch Kranken hier? Wo sind die Instabilen, Gefährdeten, zu Grunde Gerichteten? Gibt es insgesamt weniger Gebrochenheit in dieser Gegend? Ist sie anders gedeckelt oder besser aufgefangen? Ist alles mehr heil? Drehen die Menschen in Großstädten nur ständig durch, weil sie zusätzlich zur individuellen Belastung auch konstant reizüberflutet werden?
Zumindest ich werde normaler in diesem Umfeld. Es ist noch nicht lange her, dass ich 1-2 Nächte pro Woche gar nicht oder kaum schlief. Wach lag bis 4 oder 5 Uhr, total übersteuert. Aufgescheuert bis an den Rand der Aufnahmefähigkeit, trotz Atemübung, Yoga und dem ganzen anderen Kram. Ich war überzeugt, ich kann besser werden, ich kann mich optimieren, die Nachbarn ausblenden, den Verkehr ausblenden, die Hubschrauber, Straßenfeste, die Geschwindigkeit und Baustellen. Ich wollte so gern stadtfähig bleiben.
Was hätte ich gemacht ohne meine relative finanzielle Stabilität, meine Hautfarbe und kulturelle Angepasstheit, die es mir erlauben, einen Gebrauchtwagen und Gartenmöbel anzuschaffen und mit offenen Armen von konservativen Vermietern zur Besichtigung ihrer kleinen renovierten Landhauswohnug eingeladen zu werden? Ich hätte die Nerven verloren. Wie die Kinder meiner Nachbarn in der damaligen Stadtwohnung, die jeden Tag stundenlang brüllten. Jeden Tag. Jeden Tag. 5 Jahre am Stück.
Je länger ich hier bin, desto lebendiger werde ich. Ich habe sogar wieder Lust auf Lautstärke. Ich tanze bei sich bietender Gelegenheit, ich drehe die Musik lauter, wen sie ohnehin schon laut ist, ich gehe vermeidbare Konflikte ein, provoziere Wasserschlachten, halse mir komplexe Aufgaben auf und will rangeln. Manchmal sage ich es mir, vor dem Einschlafen im Bett, immer noch etwas ungläubig: I’m back to my old self.
Alle paar Jahre sagt Brad Pitt etwas, das mich nachhaltig prägt. Oder aufklärt über einen Sachverhalt, den ich bis dahin nicht dingfest machen konnte.
Vor Kurzem hat er zum Beispiel auf die Frage, warum er jetzt immer Leinenanzüge in ungewöhnlichen Farben trage, geantwortet, dass wir ohnehin alle sterben und es daher egal ist, was wir anziehen oder ob wir überhaupt etwas anziehen. Was ja eigentlich eine eher plumpe Betrachtung kollektiver Vergänglichkeit und unserem Verhältnis zur Mode ist. Ich weiß auch nicht, ob mir die Antwort gefallen würde, hätte sie jemand anderes geäußert.
Seit diesem Sommer gehe ich häufig in einem langen wehenden Rock spazieren. Es ist ein auffälliger Rock. Man kann ihn nicht nicht bemerken. Er fühlt sich gut an. Ich mag die Bewegung im Stoff und wie er fällt. Ich hätte ihn bis vor wenigen Wochen nicht tragen können, ohne mich zu winden unter dem Gefühl, eine lächerliche Schablone in einem lächerlichen Landlustkostüm in einem absurd idyllischen Abschnitt meines Lebens zu sein.
Aber jetzt denke ich: gönn dir.
Das hat Brad Pitt in mir bewirkt.
Ich wohne in einer Gegend, in der Kinder alleine draußen spielen. Auf dem Feld und im Wald, auch wenn sie erst sechs oder sieben Jahre alt sind. In den Bollerwagen, die sie hinter sich herziehen, sitzen ihre Kaninchen, Katzen und Lämmer und werden mit Gras und Salzstangen gefüttert. Diese Kinder nun haben mich und meinen Rock bemerkt. Sie sind fasziniert davon, sie schauen mich an und schauen mir nach. Ihre Irritation ist offensichtlich, sie wissen nicht, was ich bin und was sie mit mir anfangen sollen, suchen aber Gründe, mit mir ins Gespräch zu kommen. Manche trauen sich nicht her, können aber auch nicht anders, als von ihren Bollerwagen herüberzurufen: So ein schöner Rock!
Ein anderes Mal wurde Brad Pitt zu seiner Vergangenheit in einer amerikanischen Kirche befragt. Was er von den Phänomenen halte, die dort den Gottesdienstbesuchern widerfuhren; das Lachen, Zittern, Weinen, die Spontanheilungen und Enthemmung. Ob er diese Erfahrungen im Rückblick für Gruppentherapie halte, für körpereigene Drogenräusche, schamanische Reisen oder als das tatsächliche Handeln einer übergeordneten Gottheit. Brad Pitt sagte, er könne auch heute nicht beurteilen, was die Menschen da erlebt hatten, …I mean the people, I know they believe it. I know they’re releasing something. God, we’re complicated. We’re complicated creatures.
Heute war ich allein im Büro. Alle anderen im Homeoffice. Der Umzugstermin steht: 14. November. Ich werde diese Wände so vermissen! Der Raufaserteppich, das Waschbecken neben dem Schreibtisch, die braunen Türen, diese ganze 70‘er Jahre Gebäudedunkelheit. Ich fürchte, wenn wir zurückkommen, nach der Sanierung, wird hier alles clean und lichtdurchflutet sein.
Mittagsonne, Abendsonne, grell, gelb, mild. Der träge Wind. Das kühle Wasser. Wie es seine Kälte behält und gespeist wird von kalten Orten; weit, aber nicht sehr weit von hier. Ich liege an diesem Wasser, immer wieder. Betrachte die Weiden am Ufer, die Steine im Kiesbett, zehntausend, hunderttausend Steine. Während ich nichts tue, nichts lese, nichts lerne, nichts spreche findet eine Verwandlungen statt. Ich kann ihr noch keinen Namen geben. Ich bin nicht im Kopf und kann mich sprachlich nur schwer verständigen.
Ich bleibe wach, während dieser Umbau stattfindet. Er war überfällig. Ich habe ihn zu lange aufgehalten. Ich weiß nicht, was ist, wenn er vorbei ist. Wie ich dann bin. Als was ich rauskomme.
Parallel dazu bricht einiges auf und durch. Manchmal blättere ich in ein Buch rein, finde aber keinen Zugang, alle meine Zugänge sind belegt von mir selber. Ich bin das einzige Buch, für das aktuell Platz ist.
Erstaunlich verlässlich zeigt sich daneben die Arbeit. Am Tag meiner Rückkehr in die Institution gibt es ein kleines Welcome back Onlinemeeting für mich, bei dem wir uns freundlich, introvertiert und etwas betreten (so wie wir durch die Bank alle sind) anlächeln, um dann möglichst bald zurückzukehren in unsere Dateien.
Ich bin so gottfroh über meine unaufdringlichen, schüchternen Kollegen.
Wir gehen bei Regen in die Berge. Es tropft vom Blätterdach und von unseren Haaren, es läuft in die Schuhe und den Rücken runter. Am Wasserfall sind wir kurz unschlüssig, bevor einleuchtet, dass es jetzt um Hingabe geht. Wir ziehen uns aus und springen rein, der Endorphinausstoß folgt auf den Fuß, wie gut das alles eingerichtet ist. Es braucht diese verregneten Wanderungen, man muss sie manchmal machen, im Juli oder im August; sich einmal mittendrin befinden, aufweichen, aufquellen, keine Kontrolle haben, kein gutes Wetter.
Und dann wird es doch sonnig. Es wird heiß und dampft, der Wald kippt ins Tropische, schwarze Salamander und Blindschleichen kommen raus, alles perlt und trocknet in dieser abartigen Wärme, die nichts verlangt und nur gibt.
Wir sitzen und liegen lange auf den Steinen um die Gumpen herum, es werden Tankstellensemmeln gegessen und ein aus Schwäbisch Hall importierter Dialekt verhandlungssicher einstudiert. Jemand glaubt einen Aal zu sehen, aber dann ist es doch nur eine Forelle, es werden wieder Zecken aus den Beinen gezogen, Baumstämme am Wasser entlang geschleppt und Steine den Hang hinunter geschmissen, was man in den Bergen nicht machen soll und darf.
Ein Kind, das immer mit den Männern vorneweg läuft, verkündet: Vorne die Coolen, hinten die Schwulen. Worauf einer der Männer an seiner Seite erwidert, dass nichts dabei ist, schwul zu sein. Worauf das Kind eine halbe Stunde überlegt und dann sagt: Wir sind die Coolen und die Schwulen.
Es ist ein guter Tag. Es fließt an diesem Tag.
Man kann den Fluss nicht anschieben. Man kann ihn aber auch nicht aufhalten. [Zitat Gottlieb und viele andere Meister]
Ich liebe dieses Kind und schaue ihm zu, wie es zwischen den Erwachsenen hin und her pendelt. Das ist meine Gabe an diese Erde. Dass ich lieben kann, was mir nicht gehört. Und dass ich mitkriege, was passiert.
Der Mond heute ist eine weißgraue Marmorscheibe. Ich stehe unter ihm und will seine Herkunft in mich hineinschlürfen.
Im letzten Winter habe ich die fiktionale Nasa-Serie “For all mankind” gesehen. Die zweite Staffel ist draußen, aber ich spare sie auf für die kalte Jahreszeit. Ich kann nicht drinnen sein und den Mond auf meinem Laptop anschauen, während er in echt draußen hängt und es Sommer ist und alles schreit und krümmt sich: Ja
Die blauviolette Bergkette unter der Marmorscheibe. Das gemähte Heu, liegen gelassen zum Trocknen.
Am Montag bekomme ich Bescheid, dass bereits Ende der Woche mein ‘Ukraineeinsatz’ in der Behörde beendet ist. Es geht alles sehr schnell. Danke, Blumen, eine Runde, um mich zu verabschieden von diesem Haus der eAkten und Geflohenen. Ich gehe zurück in meine Institution.
Der kranke Freund ist jetzt in Lebensgefahr. Ich laufe über die Felder und winde mich unter der Machtlosigkeit, nichts tun zu können. In meinen Knochen steckt ein robuster Größenwahn, der anspringt, wenn sich Gelegenheit bietet. Ich bin überzeugt, wenn ich mich anstrenge, finde ich einen Weg, ich finde ein Wort, eine Tat, einen Satz und der Freund wird bleiben und nicht so früh gehen.
Er nüchtert aus, dieser mein Größenwahn, seit ein paar Jahren nüchtert er aus. Er ist nur noch ein halbstarker Wahn – aber er ist noch da und kämpft.
Ich glaube, dass wir Menschen uns gegenseitig retten können. Aber nicht jeder jeden. Und nicht oft. Und nicht umfassend. Vielleicht können wir punktuell einen anderen retten. An einer Stelle auf seinem Zeitstrang.
Eine Freundin war im Kloster und hat dieses Bild gemacht. Ich sehe sie sitzen in dieser Kammer vor einer Kammer. Und möglicherweise ist hinter ihr noch eine Kammer und sie musste viele durchschreiten, um fast bis ins Innerste vorzudringen. Dann denke ich an Jesus, wie er seinen bevorstehenden Tod ahnt und sagt, er wird drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein.
Immer will ich sie vermeiden, meine Ohnmacht. Trotzdem wird sie es sein, die mich in meine innerste Kammer führt.
Und daneben Sommer. Ein Kofferraum voll Melonen. Grashüpfer in der hohlen Hand fangen. Nichts lesen oder lernen, weil zu jeder Tageszeit die Sinne in die Natur hinein aufgespannt sind und auch nachts beim kurz Wachwerden und Umdrehen in den Laken die Vogellaute und der Wind mich wecken, wecken, wecken, rufen.
Man kann betrunken werden von diesen Nächten. Von der Frequenz, auf der die Grillen zirpen, der Üppigkeit, mit der alles wächst, sich ineinander verschlingt und verrankt. Daneben bin ich auch betrunken von der georgischen Musik, von den cineastischen Bildern Levan Akins und der Art, wie meine Großmutter den Namen der Hauptstadt aussprach, manchmal Tiflis und manchmal Tbilissi sagte: Ja, in Tbilissi haben wir gewohnt, eine Weile.
Warum sie da gewohnt haben, wie lang, freiwillig, unfreiwillig - das ist nicht mehr einfach zu klären. Es war ein solches Durcheinander.
2019 waren auf einmal alle möglichen Freunde und Bekannte in Georgien. Alle sagten: Fahr hin. Es ist großartig.
Ich bin nicht gefahren, ich war beschäftigt. Es war kompliziert zu der Zeit und ich wollte keine weiteren Kompliziertheiten: Patriachat, Berge, Klöster, Homophobie, hineinzugeraten in Landschaften, an denen emotional zu viel dran hängt.
2011 hatte ich eine georgische Kollegin, die über Kafka schrieb. Sie lernte, noch in Georgien, Deutsch, um ihn im Original lesen zu können. Irgendwann reichte das nicht mehr und sie wanderte aus, um in seiner Sprache über ihn schreiben zu können. Ich konnte das nachvollziehen; sich in eine Kunstform so zu verlieben, dass man am Ende das Land wechseln muss.
2004 wurde ich von einem kanadischen Lehrer unterrichtet, der hatte sich in das japanische Theater verliebt. Er musste alles verkaufen, seine Karriere aufgeben, hinfliegen und in den Bergen eine Kampftechnik lernen, die Grundlage der Theaterform war und ohne deren Beherrschung man gar nicht erst aufkreuzen brauchte. Zwei Jahre lang wurde er von dem Meister der Kampftechnik keines Blickes gewürdigt und erst kurz vor Schluss mit einem stillen Nicken als äußerstes Zeichen des Lobes weitergeschickt. Mein Lehrer hat dann tatsächlich an japanischen Bühnen gespielt. Er hat auch eine Japanerin geheiratet und mit ihr und seinen japanischen Schwiegereltern in einem traditionellen Haus gelebt. Es hat nicht glücklich geendet.
Ein ungutes Gefühl verdichtet sich. Gleich am Morgen habe ich den Eindruck, es an der Peripherie wahrzunehmen. Eine Stunde Aufräumen schafft Ablenkung. Doch das Gefühl scheint mich in enger werdenden Zirkeln einzukreisen. Ich weiß, dass es um eine diffuse Angst geht, kann sie aber wegen mangelnder Bereitschaft, mich ihr gegenüberzustellen, nicht genau erkennen. Der Versuch einigermaßen sinnvolle Handlungen an diesem Vormittag auszuüben scheitert. Ich ziehe die Schuhe an und laufe ziemlich zackig über die Felder. Erst als die gröbste Spannung rausmarschiert ist, kann ich stehen bleiben und mich umdrehen. Ich sage: Okay, komm.
Die Angst ist sofort da und redebereit. Wir unterhalten uns eine Weile. Dann schauen wir uns an, ohne Worte. Den Rest des Weges fühle ich sie an meiner Seite, ihr Gesicht gleicht meinem. Ich kann im Nachhinein nicht verstehen, warum ich sie ignorieren wollte.
Es ist so viel einfacher, sich vernünftig zu ernähren, wenn man Urlaub hat. Abends Kraft und Zeit übrig haben, einen Salat zu waschen oder Gemüse zu kochen. Das Wasser auffangen und damit die Blumen gießen. Was für ein Krampf es im Gegenzug ist, während einer normalen Arbeitswoche wenigstens nur jeden zweiten Tag convenience food herzunehmen. Aber man muss Prioritäten setzen und ich kann nicht auf alles gleich viel Wert legen.
Laut des Kamelführers, der uns vor einigen Jahren über seinen Hof führte, vertragen die Tiere den Winter sehr gut. Sie sind aktiver, spielfreudig und rennen absichtlich in Schneehaufen rein. Ich habe jetzt schon eine Weile keine Kamele mehr gesehen. Vielleicht wird es wieder Zeit für eine Wanderung an der Mangfall.
Noch ein Urlaubs-Special. Vormittags ins Gartencenter gehen. Den Wagen mal so richtig langsam den Gang entlang schieben. Bei jeder Malve ungebührlich lang überlegen, Handy rausholen, recherchieren, ob die wirklich winterfest ist usw. Danach keinen Termin mehr an dem Tag.
Die Fortbildung endet. Wir feiern den Abschluss, essen Paella, forsten durch die letzten Theorie- und Praxisblöcke. Ein Teilnehmer, der mir vor 2 Jahren vor versammelter Mannschaft einen schweren Vorwurf gemacht hat, nimmt alles zurück. Dass er dazu in der Lage, ist schon toll. Noch besser, dass er dafür 2 Jahre brauchte. Ich hatte reichlich Gelegenheit zu ergründen, was an den Vorwürfen dran ist, während er zögerlich Vertrauen zu mir fasste. Ich habe aufgrund der Kollision mit ihm etwas überdacht und geändert, was ich vorher für absolut richtig hielt. Daneben habe ich etwas beibehalten, was weiterhin Sinn macht und einschließt, manche Menschen punktuell gegen mich aufzubringen. In den letzten Modulen saßen wir abends ganz einträchtig bei einem Glas Wein zusammen. Weder ich noch er konnten diese Entwicklung beschleunigen. Es hat 2 Jahre gebraucht.
Langsamer, sagst du, wie immer.
Sei langsam.
[H. Domin]
Dann habe ich Urlaub, schiebe alles Anstehende auf die lange Bank und fahre zu den Kiesufern. Dort bin ich allein, lege mich ins Wasser und halte mich mit den Händen an Steinen im Flussbett fest. Die Strömung hebt meinen Körper. Ich verharre eine Weile in der Spannung zwischen Halten und Gezogen werden. Bevor ich mich wegtragen lasse.
Ich darf zwei Kolleginnen jeweils 30 Minuten beim Arbeiten zusehen. Beide stehen während diesen 30 Minuten. Beide sind aufgeregt. Beide müssen eine konfliktreiche Situation aufnehmen, verarbeiten, lenken und zu einem tragbaren Ergebnis führen. Die erste Kollegin steht konstant leicht nach vorn gebeugt, also mit dem Gewicht auf den Zehen. Sie wirkt unter Zugzwang. Hilfsbereit auf nicht immer hilfreiche Weise, obwohl sie insgesamt eine kompetente Person ist, die viel drauf hat.
Die zweite Kollegin steht auf dem ganzen Fuß; zentriert. Sie trifft eindeutig bessere Entscheidungen. Sie lässt sich Zeit, zu fühlen was passiert. Sie kommt zu präzisen Beobachtungen. In ihrem Beisein scheint sich der Raum auszudehen und mehr Optionen zu beinhalten, als vorher.
Mein Körper ist eine Ausgangssituation. Er determiniert und begrenzt mich. Er ist auch die Manifestation meiner inneren Haltung und Zustände. Und die Möglichkeit, meine innere Haltung von außen zu kitzeln. Sie neugierig zu machen auf eine neue Erfahrung.
Im Garten läuft es so mittelmäßig. Der dreißig Jahre alte Apfelbaum ist morsch und produziert schlecht schmeckende Äpfel. Die Äpfel fallen unreif auf die Erde oder verfaulen noch am Zweig. Die Schnecken kommen zu Hunderten und ernähren sich und ihre Nachkommen, besaufen sich am Vergorenen und zeugen noch mehr Nachkommen. Der Baum muss weg. Ich will aber kein Mensch sein, der Bäume fällt, nur weil sie mir nicht passen. Ich fürchte auch ein wenig, welches Licht das in der Nachbarschaft auf mich wirft. Im Sinne von: kommt hier her, übernimmt den Garten der verstorbenen Frau und haut sofort die schönen Bäume um.
Ich will einen anderen Baum. Einen Tulpenbaum oder eine Weide oder den Baum mit diesen Blättern, dessen Namen ich vergessen habe.
Wir sitzen auf einem Berg und schauen zu. Ein paar Meter entfernt stehen die Kühe und schauen zu. Dahinter die Gämse, Ameisenhaufen und Alpensalamander - alle schauen ihm zu. Er kann Kung Fu.
Es ist der Tag, an dem ein Freund uns an seinem 7 Jahre währenden Kung Fu Training in Form einer kleinen Kampfeinlage vor Bergpanorama teilhaben lässt.
Es ist der Tag, an dem 2/5 der Gruppe nackt in die Gumpe springen, Gedichtfragmente aufgesagt werden und 40 Zecken an einem einzigen Mann hängen. Der Tag des Kreislaufs, der flüssigen Schokoladenkekse und nachgeholten Erzählungen. Es ist vor allem der Tag des Zurückschauens auf den elendlangen Weg hin zu dieser heute okayen Körperlichkeit. Sich einigermaßen eingerichtet, vielleicht sogar mal kurz Zuneigung gefühlt zu haben für diese Gefährtin, die überall dabei war und alles bezeugt.
Ich muss, eigentlich immer, wenn ich eine demenzkranke Person treffe, daran denken, wie das Gehirn dieser Person jetzt nicht mehr weiß, was war. Ihr Körper aber schon. Und wie auch ich, als kognitiv noch intakte Person, nicht mehr weiß, was vor meinem 3. Lebensjahr war. Mein Körper aber schon.
Wie mein Körper alles fühlte und nicht abhauen und sich nicht rausfantasieren konnte. Wie er alle Emotionen ausgetragen hat und dies weiterhin tut und abbildet.
Wir sind erst spät zu Hause an dem Abend. Es reicht nur noch für Rucksack leeren und Licht ausmachen. Die Kühe, die Ameisen und Alpensalamander - sie werden noch bis tief in die Nacht von ihm reden. Martial Arts, werden sie sagen, once in a lifetime.
Einmal im Jahr wird hier für die Pferde gebetet. Dazu werden ihnen Frisuren geflochten, Bänder und Rosen in die Mähne gesteckt, die Schweife gekämmt, das Geschirr mit Schellen behängt. Manche der Pferde ziehen Holzwagen, die einzig zu diesem Zweck seit Jahrzehnten gewartet, gestrichen, lackiert und am Morgen der Segnung mit Blumenbouquets gekrönt werden. Der Maximalismus, mit dem in dieser Gegend die Mensch-Tier-Beziehung (oder Mensch-ehemaliges-Arbeitsgerät-Beziehung) gefeiert wird: ich bin sehr angetan.
Ich war nie ein Pferdemädchen, kann mir aber vorstellen, wie erhebend es für 15-Jährige ist, auf einem großen schwarzen Wallach zur Kapelle zu reiten und dabei von allen gesehen zu werden. Die Mädchen an diesem Tag. Sie sind noch stärker als die Pferde.
Auf den Bänken vorm Haus sitzen die Alten, daneben Eltern mit Kindern, fast alle in Tracht. Jugendliche springen auf die Trittbretter der Wagen, führen Ponys an der Leine oder lenken Kutschen. Die Sonne kracht vom blauen Himmel herunter, es liegen Frechheit, Stolz und Kulturgläubigkeit in der Luft, wie ich sie, so entschlossen zelebriert, nur aus Bayern kenne.
Als der Umzug vorüber ist fahren wir zum Fluss. Er sieht harmlos aus an dieser Stelle. Das täuscht. Die Strömung in der Mitte ist reissend, ich kann nicht gegen die Fließrichtung anschwimmen. Zwei Bachstelzen hüpfen am Ufer herum. Können Steine in der Sonne bleichen? Sie wirken wie Wäsche, die ihre Farbe verloren hat.
Im Kiesbett liegend denke ich an das Wenglein-Gemälde Kalksteinsammlerinnen im Isarbett…
In unserem Rücken bewegen sich Weiden, ein weißer Schmetterling von der Größe meiner Hand landet auf der Schafgarbe. Ich weiß nicht wie ich das sagen soll: Es ist, als hätte ich mir dieses Leben vor langer Zeit ausgedacht. Und als sei ich dann da hineingegangen.
Und daneben die Gewissheit: Ich habe mir den Zustand, in dem ich jetzt bin, diese Gefühlslage, diese Beziehungen, diesen Ort weder nur erarbeitet, noch nur Glück gehabt. Wenn ich es beziffern wollte und das will ich manchmal, würde ich meinen Beitrag daran auf etwa 10 Prozent festlegen. Den ganzen Rest haben andere geleistet, erarbeitet, mir geschenkt, mir überlassen, auch ohne mich zu meinen. Es ist eine solche Legierung, in der man lebt. Eine Legierung aus wirklich allem.
Auch merke ich hier: Ich bin so viel Gutes nicht gewohnt. Dass meine Sinne fast konstant offen bleiben können und ich mich nicht mehr oft verschließen muss. Dass es genug Raum und Schönheit gibt. Erreichbar für mich.
Wir gehen zu einem See, der nicht mehr lange ein See sein wird, denn sein Boden wächst der Wasseroberfläche entgegen. Tief und klar genug zum Baden ist der See aber noch, das scheinen die alten Frauen des angrenzenden Dorfes genau zu wissen. Mit hundertjährigem Katholizismus und Gicht in den Gelenken und nichts als ihrem Badeanzug am Leib wackeln sie die Dorfstraße entlang zum Wasser.
Wir liegen an einem Steg und hören zu. Was die erwähnte Generation ja sehr gern macht ist schwimmen und gleichzeitig reden. So auch hier die badenden Damen. Sie redem vom Hans, der einen Schlaganfall hatte und jetzt halb tot ist. Von der letzten Beerdigung, die irgendjemand nicht angemessen ausgerichtet hat, was eine Schande ist. Von dem anderen Hans, der eine Affäre im Nachbardorf hatte, aus der ein Kind hervorgegangen ist und das Kind ist jetzt eine erwachsene Frau und macht irgendwas.
Dann sind die beiden genug geschwommen und steigen aus dem Wasser. Tropfnass wackeln sie zu ihren Häusern zurück. Ohne Handtuch. So heiß ist es heute.
Am See ist es jetzt still, wir liegen auf den morschen Stegbrettern, das Schilf rauscht im sachten Wind. Nach einer Weile packen wir zusammen und fahren zum Fluss. Am Fluss weht mehr Wind, das Wasser ist kälter und genau richtig, eine kleine schwarze Schlange schwimmt vorbei, die Kiefern am sandigen Ufer riechen nach Kiefer. Sonst fällt nichts vor. Die Schlange und eine kurze Aufregung darum ist alles, was der Tag an Adrenalin zu bieten hat.
Am Abend komme ich im Kapitel ‘Organische psychische Störungen/Demenzen/Alzheimer’ an. Die Reisberg-Skala, der graduelle Abbau kognitiver Fähigkeiten, die Wesensveränderungen, und warum frühe Symptome einer Demenz häufig mit Depression und Affektstörung verwechselt werden. Mir wird klarer, warum neulich die Ärzte zu einer Freundin sagten, sie wissen noch nicht, ob die Mutter der Freundin Demenz oder Depressionen oder einen Schlaganfall oder einen Hirntumor hat. Im Moment sei alles möglich.
Die Tendenz der letzten Jahre, sich mit Bienen und Imkerei zu befassen, Maja Lunde zu lesen und Insektenhotels zurecht zu sägen ist an mir vorbeigegangen. Daher erkenne ich erst jetzt, im Angesicht des Lavendels, dass es einige Dutzend (?) verschiedene Bienenarten in dieser Gegend geben muss. Es landen pelzige und wenig behaarte, schlanke und beleibte Tiere, manche fliegen taumelnd, andere orientiert, es gibt gute Kletterer neben Verwandten, die ständig von lila Skabiosablüten herunter stürzen.
Nachts sind die Fenster weit geöffnet. Es riecht nach Heu. Der Mond geht auf, ich will wach bleiben und ihn lange anschauen, aber die Müdigkeit ist größer und der nächste Tag beginnt um 6, damit ein Stapel ukrainischer Kindergeldanträge nicht noch länger liegen bleibt. Das Arbeitspensum ist in diesen Tagen sonderbar unstet. Entweder es flutet unkontrolliert herein oder zerrinnt zu einem buchstäblichen Nichts. Ich kenne in meiner temporären Aushilfstätigkeit die Prozesse nicht gut genug um zu verstehen, an welcher Stelle es hängt, wo es sich aufhält oder aufgehalten wird, das Pensum.
Ein Freund war ziemlich mitgenommen, jetzt geht es ihm besser, ich freue mich. Ein anderer Freund ist sehr krank, ich habe Angst, ihn zu verlieren. In letzter Zeit ist häufig plötzlich etwas für immer vorbei gewesen. Das bringt eine gewisse Dringlichkeit in alle meine Begegnungen und Gespräche. Ich weiß nicht, ob es meinem jeweiligen Gegenüber auffällt. Ob das gut ist. Ob es nervt. Ich dachte, ich hätte einen Umgang mit der prinzipiellen Vergänglichkeit aller Erscheinungen gefunden. Aber das war wohl nur first level.
In der Pause finden ein Kollege und ich Zugang zur Dachterrasse. Wir essen ungetoastete Toastsandwiches mit Essiggurken und Keksen, weil das Kantinenessen schlechter ist als das. Der Kollege erzählt von etwas, das ihn seit Langem verfolgt. Ich erzähle von den letzten Tagen meiner Mutter. Wir haben nicht bewusst darauf zugesteuert. Das Dach scheint isoliert und entrückt genug, um altes Segment in einem sicheren Rahmen hochschwemmen zu lassen. Dann wechseln wir zu Science Fiction.
Ich habe jetzt doch Obi Wan angeschaut. Es kann nicht immer Premium sein. Man muss sich auch mal mit Zweitklassigem zufrieden geben.
Jede Stadt hat ihre Schnecke. Bis ich die Schnecke in meiner Heimatstadt gefunden habe, hat es eine Weile gedauert.
An diesem Juliwochenende gibt es häufig Gelegenheit, auf aufgeheizten Steinen zu sitzen, butterweich zu werden, zu verschwimmen. Die Pappeln werfen weiße Wolle in den Bordstein, an den Tischen wird leise in die Dunkelheit geredet.
Es ist eine Erlösung vom Gehirn in den Körper zu rutschen. Der Sommer hilft. Wenn doch immer Sommer wär.
Es ist nicht für jeden Menschen eine Erlösung, in den Körper zu rutschen. Für manche ist es das Gegenteil. Abhängig davon, was dieser Körper erlebt hat, welche Gefühle in ihm gespeichert, d.h. verkörpert sind.
In dieser Stadt wurde häufig roter Sandstein verbaut. Wären nicht 98% weggebombt worden, es wäre heute eine sehr rote Stadt. Geblieben ist Restrot. Manchmal in einem Turm, manchmal am Boden.
Es ist mir, zumindest im Juli, hier, unter Freunden und auf den aufgeheizten Steinen, viel klarer, dass jedes nachhaltige Wachstum langsam geschieht. Und ich nur punktuell beteiligt bin.
Ganz langsam krieche,
Schnecke,
am Fuß des Fuji
den Hügel
hinan.
Heute Morgen in der S-Bahn einer Frau 25 Minuten lang dabei zugeschaut, wie sie sich schminkt. Wenn man aus der Pubertät raus ist, hat man gar nicht mehr oft Gelegenheit, jemandem in echt dabei zuzusehen; also nicht auf Youtube oder als Teil einer Performance.
Die Frau stieg am gleichen Bahnhof wie ich ein, warf sich in den Sitz und begann mit der Einrichtung ihres Gesichts: Grundierung, Abdeckung, Kontur, Puder, Rouge, Lidschatten, Lidstrich, Wimperntusche, Lippenstift und zum Schluss etwas, das ich als Augenbrauenliner bezeichnen würde. Sie war mittleren Alters, trug weiße Jeans und eine Businessbluse. Ich glaube es war Moritz von Uslar der das den Düsseldorflook genannt hat. Ich habe mich in den 25 Minuten gut unterhalten gefühlt. Schade war, dass sie mit dem Make-up nicht mehr so nahbar wirkte. Sie sah vorher sehr charmant aus, mit ihrem leicht verpennten Blick.
Wie mir eigentlich immer bei den Vorher/Nachher - Fotos die Leute vorher besser gefallen. Den Rest des Tages gehadert, ob ich aus der Beobachtung am Morgen schlussfolgern soll, selbst kein Make-up mehr zu nutzen. Gemerkt: nein. Geht noch nicht. Fühle mich doch recht gezeichnet von den vergangenen und bestehenden Krankheiten und will dem nicht konstant in die Augen schauen. Eine dünne Schicht Puder scheint genau den benötigten Schutz zwischen mich und die Umwelt zu schieben, damit ich mir nicht völlig roh vorkomme. Lieber wäre es mir anders. Lieber wäre ich in diesem Areal okay. Abwarten. Weitermachen.
Dann flaut in der Arbeit plötzlich alles ab. Nach der Raserei der letzten Wochen habe ich zum ersten Mal Zeit, mit einem Kollegen länger Pause zu machen, überflüssige Daten zu vernichten, Eiskaffee zu trinken.
Die spießige Blume habe ich auf Dauer doch nicht toleriert und wollte sie schon kompostieren. Der Nachbar, der gleichzeitig ein Freund ist, hat sie angeschaut und bestätigt: Ja, sie ist hässlich. Aber sie könne ein Loch im Sichtschutz auf seiner Seite füllen. Er hat die Blume ausgegraben und versetzt.
Die Schafe sind wieder ausgebüxt. Jetzt stehen sie vor unserer Tür. Man darf ihnen nahe kommen - aber nicht streicheln!
Am Wochenende Fortbildung. Die Fortbildungen finden in einer Gärtnerei statt, die 80% der europäischen Print und Online Gartenzeitschriften mit Bildern versorgt. Daher stehen überall auf dem Gelände Kulissen. Hausfassaden ohne Haus dahinter, Zaunelemente, die nichts einzäunen, gut aussehende Hühner vor einem Tiny House, in dem niemand wohnt.
In, auf und über den Kulissen bersten Rosensträucher, wachsen Pfirsichbäumchen im Kübel, leuchten Walderdbeeren vor ins Gras gelegten Weidenkörben.
Ich bin nicht hier, um Fotografieren zu lernen. Ein Teil des Gewächshauses wird für Tagungen und Seminare vermietet. Die Inhalte der Fortbildung weichen drastisch ab von dem hier geschaffenen hortus concluses. Die Theorie ist dicht, die Praxisübungen noch dichter, es wird präzise beobachtet, umgesetzt und von Ausbilderinnen geprüft. In mehreren Runden wird jeder Schritt auf seine Wirkung hin analysiert, weitere Optionen angeschnitten, kleinteilig von den Teilnehmern rückgekoppelt.
Um so froher bin ich, in den Pausen und an den Abenden zwischen Fenchelbeeten zu streunen, an allem zu riechen, unter rauschenden Linden zu liegen. Der Chefgärtner läuft heiter und original mit Hut, Shorts und grüner Gießkanne durchs Bild und fordert uns auf, bitte viele Erdbeeren zu essen. Er ist kein Statist.
Ich denke hier oft an Tschechow, Sokolow, Anna Achmatowa. In Tschechows Gesellschaften werden mit Vorliebe an heißen Sommertagen Theaterkulissen in den Garten des Landguts gezimmert, ein Pappmond in den Baum gehängt, den Zusammenkommenden ein Text ausgehändigt. Und da stehen sie dann.
Irina: “Als ich heute erwachte, aufstand und mich wusch, schien es mir plötzlich, als sei mir alles klar auf der Welt, und ich wusste, wie man zu leben hat.”
Platonow: “Aber trotzdem begann der Kummer der allgemeinen Lage Woschtschew wieder zu quälen, er spürte manchmal das gesamte äußere Leben als das eigene Innere.”
Achmatowa: “Wir werden nicht aus einem Glase trinken, kein Wasser und auch keinen süßen Wein, des Morgens nicht in einem Kuss versinken, noch aus dem Fenster sehen im Abendschein.”
Sokolow: “Da kommt ein Soldat mit einer Feldmütze, nimmt ein Stück Kreide und geht auf den Waggon zu, er schreibt: Noch zwei Monate beim Barras. Da kommt ein Bergmann, seine weiße Hand schreibt lakonisch: Säue. Ein Sitzenbleiber der fünften Klasse schreibt: Marija Stepanna - Hure. Eine Bahnhofsarbeiterin in einer organgefarbenen Weste zeichnet auf den Waggon eine Wellenlinie. Ein Bettler mit Ziehharmonika nur zwei Worte: vielen Dank. Schließlich verlässt der Zug das Abstellgleis und rattert durch die Weiten Russlands.
Immer wenn ich denke, die Pfingstrose habe ihre maximale Öffnung erreicht, geht sie eine Stufe weiter. Ich weiß nicht, wie sie das aushält. Diese Ausdehnung, Auffaltung, das totale Exponiertsein.
Gestern war der Mond ein Ei. Ich folge ihm und seinen Formen; den verbeulten, halbfertigen, zurück gehenden. In meinem Gedächtnisspeicher habe ich ein Mond-Depot angelegt.
Darin archiviert sind käsegelbe Vollmonde über Fichtenwäldern und bleich rosa Dreiviertelmonde über klirrend kalten Schneefeldern. Einige der Monde hängen über Hochhäusern, mehrere sinnliche Sicheln vor pflaumenblauen Abendhimmeln. Und es gibt auch, besonders gut verwahrt, einen an Bergzacken entlang schrammenden rötlichen Giganten.
Allerdings, der vielleicht wichtigste Archivmond befand sich vor einem Jahr in der französischen Provinz. Es hatte unter den Freunden den ganzen Tag über unterschiedliche Aussagen und Einschätzungen dazu gegeben, wann genau der Mond über diesem Dorf aufgehen würde. Eine Stunde harrten wir zu Neunt an der warmen Hauswand, um in der Sekunde des Aufgangs da zu sein. Wir waren da. Und schrien vor Glück, als er hochging.
Ich habe ein bisschen Angst vor dem Tod. Es ist das gleiche Gefühl, das ich jedes mal vor einem Übergang spüre. Der Schritt in und durch das eigene Dunkel. Der Abschnitt, den ich allein gehen muss. In dem es keine Ausflüchte mehr gibt.
Ich ahne/erkunde diese Unausweichlichkeit in dem gleichen Maß, wie ich meine Geburt noch irgendwo in mir ertasten kann. Der Anfang von mir. Wie ich mich hineingedreht habe in dieses Leben. Ausgeliefert und voller Bereitschaft.
Wir waren an einem Wasserfall am Sonntag. Das Wasser läuft an den Hängen runter, in die Felsspalten, bringt die steinigen Sammelbecken zum Überlaufen und verzweigt sich zum Schluss in den Flussarmen. In einer der grünen eisigen Gumpen baden wir. Es presst einem die Luft aus der Lunge. Man muss japsen, kreischen, johlen, schnappatmen und alles tun, was spontan zur Verfügung steht. Es existiert in solchen Gumpen kein Gedanke. Sensorisch eine einzige Überforderung.
Später dann der friedliche Weg nach Hause.
Am Abend zieht Sturm auf. Die Pfingstrose ist kurz vorm Platzen. Ich glaube, sie braucht noch genau einen sonnigen Tag. Entlang des Fensters habe ich eine Girlande aus Duftwicken gepflanzt. Ich lag im Mai einige Male betört unterm Fliederstrauch und ich werde im Juni einige Male betört meine Augen im Kelch der Wicken schließen.
Ich bin hier angekommen, wie ein Loch, nach zwanzig Jahren City. Zu keinem menschlichen Kontakt gewillt. Außerhalb meines Freundeskreises wollte ich niemanden sehen, mit niemanden sprechen, vor allem niemanden hören.
Weiter hinten ist versehentlich eine spießige Blume herangewachsen. Auf dem Foto im Bestelldatensatz sah sie nicht so aufdringlich und plump aus. Um sie auszugraben ist es zu spät, sie gedeiht gut in der feuchten Ecke, wo sonst nur Schnecken und Steinasseln zurechtkommen.
Gestern sind beim Hof an der Kurve die Lämmer ausgebüxt und auf die um diese Uhrzeit stärker befahrene Hauptstraße gelaufen. Es sind eigentlich keine Lämmer mehr, sondern Teenager - in ihren Bewegungen liegt Bockigkeit und Lust auf Rangeln, es kotzt sie jetzt alles ein bisschen an; die langweiligen Elterntiere und der dumme Hof. Als ich in ihre Richtung gehe, öffnet sich zeitgleich die Tür der kleinen Wohnanlage gegenüber und heraus treten zwei alte Bewohner, die für die Fütterung wilder Katzen in der Gegend zuständig sind und auch generell das allgemeine Tierwohl im Blick behalten. Zusammen lotsen wir die Schafe zurück zur eingezäunten Wiese.
Die zwei Alten sind scheu und misstrauisch. Ich habe sie schon einmal angesprochen, worauf sie verhuscht und etwas verkniffen geantwortet haben. Ich traue mir dennoch zu, ihr Vertrauen zu gewinnen. Wer nachts mit 40 km/h durch den Wald fährt, um bremsbereit für wegquerende Füchse zu sein, ist auch im Stande das Herz einer greisen Catlady umzustimmen.
Soviel habe ich jedenfalls gestern in Erfahrung gebracht: 2 der wilden Katzen sind im Frühjahr bei der Catlady eingezogen, die restlichen 3 präferieren ihr Outdoorleben zwischen Schafstall und Trafohäuschen.
Nach den Tagen in der Behörde liege ich unaufgeräumt in der Wohnung und bin zu nichts in der Lage. Draußen feucht warm. Es wächst Farn. Ich unterlasse es, zu lernen, mit meiner freien Zeit etwas anzufangen. Am Samstag hebe ich mich auf und fahre in die Stadt. Vor der Ludwigskirche hängen transparente Fahnen. Eine blaue Kugel vor durchsichtigem Grund. Neben den vielen hässlichen Flaggen auf dieser Welt existieren also auch noch ein paar ganz schöne.
Die Nacht wird lang. Im Hirschgarten sitze ich mit Freunden um ein Grillfeuer und esse Frühlingsrollen. Je dichter die Dunkelheit, desto näher fühle ich mich den Menschen. Ich brauche dazu keinen Alkohol. Das war nicht immer so. Beides haben zu können - Verbindung zu mir und Verbindung zu anderen - das ist der große Rausch, nachdem ich so lange gesucht habe. Er ist nicht verfügbar, dieser Rausch, er gehört mir nicht, ich kann ihn nicht herstellen. Mich lediglich bereithalten und konstant hinwenden zu mir.
Unweit unseres Platzes auf der Wiese fasst sich eine Familie oder ein Familienverband an den Händen und tanzt einen folkloristischen Reigen. Ich glaube, es wäre okay, rüber zu gehen und mitzumachen. Der Mond ist eine Sichel. Das Gras kaum kühler als die aufgeheizte Luft. Die Dunkelheit hat in dieser Nacht etwas von einem samtenen Tuch. Ich kann mich wickeln in das Tuch, ich spüre es auf jedem Zentimeter Haut.
Weiterhin beschäftige ich mich mit Ohnmacht. Hat sich ein Wort erst einmal Zutritt verschafft, geht es in der Regel auch die nächsten Monate nicht mehr weg. Es muss von allen Seiten benagt werden. Angefangen hat es im Februar mit der Ukraine. Dann im März der Tod von N. Dass ich ihn nicht am Leben erhalten konnte. Der Größenwahn, zu meinen, jemanden am Leben erhalten zu können.
Die verschwommene Erinnerung in der Stunde nach der Nachricht, im Kreis gelaufen zu sein. Auseinanderfallen.
Jemand, der sich mit Ohnmacht auskennt, schreibt:
Auf Ohnmacht antworten wir gern mit Macht. Mit Aktivismus.
Eine Tat zu tun ist leichter als das Unaushaltbare zu halten.
Sind deshalb unsere Taten vergeblich? Nein. Aber sie ändern nichts an unserem Ausgeliefertsein.
Du könntest den Bergen die Adern aufschneiden,
als Zeichen eines großen Gerichts.
Aber dir liegt nichts daran.
Sanften Gesichts siehst du
den Tragenden zu.
[Rilke]
Dann kommen Freunde. Wir gehen auf einen Berg. Wir gehen zum See. Der Wind bewegt das Gras, hoch und ungemäht an der Stelle mit den lila Blumen. Einem Kind wird ein Kranz ins Haar geflochten, die anderen sichten Greifvögel, eine schwarze Schlange kriecht vorbei, die dicke Zunge des sehr jungen Kalbs leckt über meinen Handrücken.
Die Abstufungen des Ausgeliefertseins beschäftigen mich. Die kleinen Kontrollverluste jeden Tag. Und die große Ohnmacht. Ohne Macht in diesem Leben zu stehen.
An die kleinen Kontrollverluste versuche ich mich zu gewöhnen. Mitzuschwimmen, wenn möglich. Die Ohnmacht hingegen.
Fiktionsbescheinigungen. Die Behörde, in der ich aushelfe, presst weiterhin im Eilverfahren Wissen in mich hinein. Die Ukrainer, die mir später am Tag gegenüber sitzen, sind auf dieses Wissen angewiesen und pressen es wieder aus mir heraus. Alles, was ich sagen kann ist unvollständig und eigentlich nicht genug und nur mit akutem Mitarbeitermangel in einer Krisensituation zu rechtfertigen.
Die Mütter schaukeln Kinder im Arm, während wir nach 45 Minuten immer noch weitere Nachweise von ihnen wollen; für das Mittagessen in der Schule, für noch nicht erhaltene Versichertennummern und Nebenkostenaufstellungen im Untermietvertrag der temporären Unterkunft. Dennoch: die Ukrainer kommen vorbildlich vorbereitet zu den Terminen, legen ihre gut sortierten Dokumentenmappen auf den Tisch, werfen sich auf den Arbeitsmarkt, auf den Wohnungsmarkt, in die Sprachkurse, in das Dickicht der Verfahren.
Die neue Aufgabe. Sie ist aufreibend, komplex und verlangt mehr als ich ursprünglich geben wollte. Ich verabschiede mich von meinem Team, meiner Institution, wechsel in ein anderes Unternehmen, ob für 3 Monate, 6 Monate oder länger bleibt unklar. Am neuen Schreibtisch bekomme ich einen Ordner mit Gesetzestexten, einen mit Verfahrensregeln, einen zur Aktenkunde und 5 Kollegen, die im Schnelldurchlauf Fachwissen in mich frachten. Es trifft mich und viele andere Mitarbeiterinnen. Es ist eine Ausnahmesituation und wir sind abrufbar. Was ich im letzten Jahr erworben habe, hat keine Bedeutung mehr: Transliterationen des griechischen Alphabets, Besonderheiten türkischer Verlage, Abgründe der Etatansetzung und die Meisterung derselben. Es fehlt mir - das Polster meiner Kompetenz. Ich bin unglücklich und die häufigen Umbrüche leid. Am Abend des ersten Tages mit der neuen Aufgabe liege ich zermatscht im Bett und gräme mich. Jammern ist gesund. Ich glaube, mich damit anteilig von meiner Neurodermitis geheilt zu haben. Ich pflege meine Bequemlichkeit und füge mich nicht ohne Aufstand in einen neuen Umstand. Eine Weile liege ich so. Dann höre ich Beppo Straßenkehrer oder Gott oder mich - wie wir sagen:
Nicht den ganzen Weg anschauen. Nur den nächsten Schritt. Atem, Schritt, Besenstrich.
Es ist simpel und tröstet. Wir drei im Chor. Zermatscht und street wise. Mein Gram legt den Kopf an meine Schulter. Ich schlafe ein und träume von Papier.
Es hilft, die Unbequemlichkeit zumindest im Dienst eines guten Zwecks zu tun. Diejenigen, für die ich ab heute Akten wälze haben mehr verloren als ihre kleine private Kompetenz. Ich weiß nicht, wer in ihrem Kopf mit welchen Worten spricht. Ob überhaupt noch jemand spricht.
Am anderen Tag sind wir im Gebirge, die Murmeltiere pfeifen die Hänge runter, eine Gams sieht uns lange an, bevor sie durch den Schnee ins Tal trabt. Eine einzige Üppigkeit an Freundschaft und Blumen breitet sich aus. In einer besonders heißen Serpentine aufwärts bleiben wir stehen unter ätherisch duftenden Latschenkiefern. Wir sind zu sehr außer Atem, um etwas zu sagen. Stehen da in stummer Vereintheit. Große Landschaften sind ja wie gemacht dafür, alles wieder ins rechte Licht zu rücken.
Vor diesem Hintergrund scheint es kleinlich, wegen einer neuen Aufgabe unglücklich zu sein. Aber ich will nicht herabsehen auf mich. Und jedes Gefühl in mir unterbringen.
Nach einem durchgetakteten Tag hinter diesen Mädchen zum Stehen gekommen. Ihre liebevolle Verabschiedung in der großen Kleidung, als die eine zusteigen und die andere zurück bleiben muss. Die Selbstverständlichkeit mit der sie sich angleichen wollen (können) müssen. Die Erinnerung, das als Teeanager mit der Freundin genauso auch gemacht zu haben. Eine schwer zu beschreibende Art von Stärke dabei empfunden. Vielleicht: Die Verdoppelung der eigenen Abwehrkraft. Oder schlicht: Rudel gefunden.
Die Version der Erwachsenen. Eine Winternacht vor Corona. Wir treten aus der Bar, frieren, ziehen die Mützen auf und sehen dann so aus:
Viel Regen und daher Gelegenheit, drinnen zu sein. Lernen. Die Lust, es nicht gehetzt tun zu müssen. Sekundärliteratur lesen, zwanzig Minuten aus dem Fenster starren, die neuen Informationen mit den alten abgleichen.
Ich hätte mir das früher nicht erlaubt; Stoff, den andere innerhalb eines Jahres in sich hineinpressen, auf zwei Jahre auszudehnen. Hand in Hand mit meiner Herangehensweise Leichtigkeit dabei zu empfinden.
Im Wald den Barfußpfad gegangen. Ich in Barfußschuhen (he he), das Kind des Bruders in echt barfuß. Das Kind nimmt die gesamte Runde mit Genuss und Neugier, nur am Übertritt zu den kleinen spitzen Zweigen scheut es zurück. Später allerdings, als wir längst auf etwas anderes fokussiert sind, bemerke ich, wie es allein und ohne Hilfe über die Zweige wankt. Nur aus dem Augenwinkel habe ich das gesehen. Fast verpasst.
Der ganze Sektor der eigenen Ohnmacht, Unsicherheit, Wackeligkeit. Die Passage der Angst, die ich durchlaufe. Jedes Mal wieder diese Passage, um in die nächste Weite zu kommen.
Ich, die ich wirklich rein gar nichts von Mode verstehe, schaue zur Unterhaltung und vor dem Einschlafen die US -amerikanischen Designer-Castingshows. Frauen und Männer, die antreten “the next global brand” zu werden.
Erfreulicherweise finden sich unter den Belgiern, Kolumbianerinnen, Italienern und Amerikanerinnen manchmal auch Personen im fortgeschrittenen Alter, die drei Jahrzehnte Arbeitsleben auf dem Buckel haben. Wie die immer schwarz gekleidete und sanft lächelnde Esther Perbandt, die in stressigen Situationen über ihre Entwürfe gebeugt murmelt: Everything I want is on the other side of fear.
Neben der Handwerkskunst sind es diese gezeichneten und sicher mehrfach gescheiterten Gesichter, die mich so hervorragend unterhalten und scheinbar auch sedieren - ich schlafe ruhig und eingebettet im Gemurmel der wankend vorwärtsschreitenden Mitmenschen.
Ich habe lange nicht wahrhaben wollen, wie kompliziert ich geworden bin. Rund zehn Jahre brachte ich damit zu, zu hoffen, es gehe vorüber. Wenn Freunde davon berichteten, zum Zwecke ihrer Yogaausbildung oder im Rahmen eines Engagements in der Entwicklungshilfe monatelang mit zwanzig Personen und null Privatsphäre in einem Raum auf dem Boden geschlafen zu haben, glomm in mir gegen alle Vernunft der leise Wunsch, dazu auch einmal in der Lage zu sein.
Unter den verschiedenen Kompliziertheiten war und ist die Geräuschempfindlichkeit die für mich am schwierigsten zu handhabende und vielleicht auch die Tatsache, die ich mit der größten Ausdauer in mir niederzuringen suchte. Könnte ich zehn Jahre zurück reisen würde ich der Frau, die ich damals war, gern einmal fest in die Augen schauen und gutmütig sagen, lass es.
Lass es, du kleine dumme Nuss.
Oder auch mit den Worten eines Freundes: Das lässt sich doch mit Technik lösen.
Nachdem besagter Freund mehrmals kopfschüttelnd Zeuge meiner Einbrüche wurde, lag vor zwei Jahren dieser noise cancelling Kopfhörer auf dem Tisch. Warum ich letztlich, ich kann selber nicht fassen was ich jetzt hier schreibe, mich weigerte den Kopfhörer zu benutzen und ihn mit Einverständnis des Freundes sogar weiterreichte… das lässt sich vermutlich nur mit Hilfe eines dafür ausgebildeten und bezahlten Menschen klären.
Es hat dann aber, und dafür bin ich der Unerbittlichkeit der Umstände sehr dankbar, doch nur noch 2-3 weitere Einbrüche gebraucht, um mich weichzukochen für die Einsicht, dass mir mit meinen Mitteln nicht mehr zu helfen ist.
Dass ich Hilfe brauche, die diametral entgegengesetzt ist zu meinem bisherigen Vorgehen. Der Kopfhörer wurde erneut bestellt, in den Rucksack gepackt und hält sich bereit. Die belastenden Situationen treten weiterhin ein, ich sehe sie kommen, ich greife in den Rucksack und dimme alles herunter. Ich stehe in keiner U-Bahn, in keinem Supermarkt, auf keiner Demo mehr ohne die Kopfhörer herum. Ich ziehe sie ab für Gespräche, unterhalte mich und ziehe sie wieder auf. Und es hat niemanden außer mich selbst überrascht: Ich fühle mich gut.
Außerdem gelernt: Hotelzimmer mit Sandelholz ausräuchern, eigenen Kopfkissenbezug mitbringen, Hotelbilder abhängen, Hoteldeko wegräumen, Bierzelt nach dem zweiten Bier verlassen, pastellfarbene Kleidung tragen, den TGV buchen, im gleichen Rhythmus wie die Raucher vor die Tür gehen, ein Tier oder eine Pflanze ansehen und wenn irgendwo Event draufsteht - den Ort weiträumig meiden.
Bierzelt ist ab und zu okay.
Mitte der Neunziger sahen Models, die durch Zeitschriften und Musikvideos schlichen, häufig aus, als kämen sie gerade vom Magenauspumpen. Erscheinungen von Mangelernährung und Selbstverletzungsnarben waren dann auch der erste Eintrag, den ich als Fünfzehnjährige in meinem internen Orientierungskatalog unter Schönheitsideal ablegte. Die am Rand der Suizidalität entlang kuratierte Ästhetik wich, wenn ich mich recht erinnere, erst in den Nullerjahren einem etwas stabiler wirkenden Frauenbild. Ich hielt mich spätestens mit Anfang Dreißig für eindeutig genesen von dieser frühen Sehstörung.
Es dauerte dann aber doch noch eine ganze Weile bis die alten Informationen vollständig überschrieben waren. Ab 2015 gab es für einen relativ kurzen Zeitraum ein Label aus New York, das sehr viele verschiedene Frauen in sehr teurer Unterwäsche in ungewöhnlich bequemen Bewegungen ablichtete. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal auf eines dieser Fotos stieß und irritiert war. Wie ich am nächsten Tag zu dem Onlineshop zurückkehrte, um noch einmal alle Frauen anzusehen und das dann jeden Tag gemacht habe, monatelang. Einen ganzen Herbst und einen ganzen Winter. Bis irgendwann im Frühjahr das Bedürfnis, die Bilder zu sehen, nicht mehr ganz so dringlich schien und ich nur gelegentlich auf der Seite verweilte; eine Art Erhaltungsdosis.
Und dann die Mittagspause im Sommer darauf, als eine Kollegin etwas Abwertendes über ihren eigenen Körper sagte und ich zusammenfuhr vor Schreck und Verblüffung. Ich habe ihre Aussage nicht mit einer gut gemeinten Entgegnung korrigiert. Ein Kompliment kann nicht ersetzen, was sechs Monate Sehschule bewirken. Und einmal Erworbenes kann wieder verloren gehen.
Wenn ich an einer Herde vorüber gehe, die Hermeline übers Feld flitzen sehe, die Elstern auf der Dachrinne, denke ich, dass weder diese Tiere noch ich mir ausgesucht haben, worin wir gelandet sind. Und es nahe liegt, sich zu verbünden. Ein jedes Wesen mit seiner Form.
Kurz darauf werde ich 42 und entschließe mich, den Tag allein zu verbringen. Es ist ungewöhnlich warm, ich ziehe Sandalen an und gehe übers Feld ins nächste Dorf und von dort an den Kuhweiden vorbei den Hang hinunter. Eine kleine Weile laufe ich unter Fichten und Buchen, dann öffnen sich die Baumgruppen und das Schilf beginnt.
Das Schilf ist eigentlich ein Moor oder ein unterirdisches Delta oder ein Moos. Jeder, der in der Nähe wohnt, bezeichnet es anders. Am Rand des Schilfs leben Tagpfauenaugen und Zitronenfalter zusammen mit einigen Tausend Bienen entlang einer sehr feuchten Wiese. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese verläuft ein Bach. Dieser Bach wird von einem Biber bewirtschaftet. Der Biber staut und verlegt seit mehreren Jahrzehnten das Wasser, was neben den Bodenbedingungen vielleicht das unterirdische Delta, Moos, Moor oder Schilf erst hat entstehen lassen.
Stellenweise ist das Schilf verlandet, hier wachsen Schlüsselblumen, niedrige Birken und Weiden und hier führt ein Weg in eine Gegend, in der meine Definitionen ermüden und versickern. Vielleicht liegt es an dem unklaren Untergrund, dem Nachgeben des Bodens, dem ungewöhnlich warmen Tag. Ich lege mich an das Bachbett und verhalte mich ruhig im vagen Wunsch, der Biber möge an mir vorbei schwimmen und ich ihm dabei zusehen können, wie er einen Baum fällt.
Während ich mich ruhig verhalte schlafe ich ein. Als ich aufwache habe ich einen leichten Sonnenbrand und fühle mich mir selber nah. Ich fühle mich eindeutig innerhalb meines Körpers und eindeutig innerhalb meines ichs. Ich betaste meine Wangen und meine Arme. Ich bin ganz klar umrissen und aufgehoben auf sehr leibliche Art. Aufbewahrt.
Nach vier Wochen, in denen ich jeden Tag mit Schmerzen an den verstorbenen Jungen gedacht habe, bemerke ich, dass ich selbst noch hier bin. Auf der Erde. In mir.
Auf dem Rückweg bin ich durstig und hungrig. Ich bin viel länger im Schilf geblieben als geplant und kann mich auch jetzt nur schwer losreißen. Im Wald biege ich aus einer Kurve kommend an den Fichten ab und zum Feldweg ein.
Im Gras, rund dreißig Meter von mir entfernt, steht ein Fuchs und sieht mich an. Ich bleibe stehen und schaue zurück. Er ist unfassbar schön. Sehr rot. Und auf elastische Weise entspannt.
Einen kurzen Moment stehen wir beide so. Dann entscheidet etwas in ihm, das Weite zu suchen, er dreht sich um und verschwindet im Unterholz.
Mein Cousin stirbt an Corona. Einen Tag darauf beginnt Putin einen Krieg in der Ukraine. Wir fahren zu der Beerdigung des Cousins. Wir sprechen über ihn, über die Ukraine und fahren zurück. In München helfe ich bei der Unterkunftsvermittlung für Geflüchtete. Tagsüber treffe ich Familien aus Charkiw, nachts versuche ich mich davon abzuhalten, Kriegsvideos anzuschauen.
Am Sonntagabend ruft eine Freundin aus P. an. Sie sagt, sie steht in der WG ihres Sohnes. Der Junge liegt tot in seinem Bett.
Ich gebe meinen Kollegen Bescheid, organisiere Vertretung, packe eine Tasche und fahre zu ihr. Als ich ankomme und sie auf mein Läuten nicht sofort öffnet, ziehen meine Ängste auf die Überholspur und für die Dauer einer Minute glaube ich, den Verstand zu verlieren. Dann öffnet sie und der Hund springt an mir hoch. Wir sitzen in ihrer Küche, in ihrem Wohnzimmer, auf dem Teppich.
In den nächsten 48 Stunden sprechen wir mit Polizisten, Sozialarbeitern, Sachberbeitern und Bestattern. Ich recherchiere Antragsverfahren und Zuständigkeiten, organisere Transporte, Fahrer, Helfer und Kartons. Als es dunkel wird laufe ich auf eine Anhöhe über der Stadt und rolle mich auf der Wiese zusammen.
Am Tag darauf kommt ein Anruf, die offizielle Freigabe: wir dürfen noch einmal in seine WG, in das Zimmer. Der Junge war 19 Jahre alt.
Ich bin seine Patentante. In meinem Kalender steht für den Sommer: Mit N. in die Berge gehen.
Ich fahre zurück. Wegen Zugausfällen bin ich acht Stunden unterwegs. In der Arbeit startet am Tag meiner Rückkehr die gefürchtete Neuansetzung des Etats. Ich habe drei Tage Zeit, sehr viel Geld auf hunderte neu entstandene Posten zu verteilen, Unregelmäßigkeiten zu überprüfen und alle nötigen Emails zu schreiben. Zwischendurch ruft immer wieder der Bestatter an. Er will Garantien. Er will Änderungen. Meine Kollegen werden krank. Ich mache Überstunden. Dann packe ich wieder eine Tasche und fahre zu der Beerdigung. Ich treffe auf Menschen, die ich zwanzig Jahre lang nicht gesehen habe. Hinten in der Halle stehen Jungs und Mädchen, die mit ihm gefeiert haben in der Nacht vor seinem Tod. Die Trauerrednerin verneigt sich vor dem Sarg. Es ist 1 Grad und sehr kalt.
Das alles ist nur erträglich, weil ich fühlen kann, was passiert, während all das passiert. Weil ich nicht mehr hart bin und nicht allein. Ich weine in der U-Bahn und im Zug. Im Wald, im Auto, im Flur. Bei der Etatverteilung und beim Abschließen des Büros, während ich seine letzten Nachrichten an mich lese, während die Sargträger vor uns herlaufen und als jemand in der ersten furchtbaren Stunde eine Hand auf meinen Rücken legt. Es ist erträglich, weil Fremde und Freunde sofort bereit sind, etwas zu tun, etwas zur Verfügung zu stellen, auf irgendeine Weise dabei zu sein. Ich kann nicht beurteilen, ob es für die Mutter erträglich ist. Ich vermute, nicht.
Während andere es sich nicht mehr leisten können, waffenunkundig zu sein, bin ich hier. Ich warte auf die Brandung. Die Brandung kommt. Ich trage in Eimern weg, was ich kann. Suche, jedem in die Augen zu schauen. Kein Wort zu sagen, über niemanden. Zu handeln, als sei kein Mensch von mir getrennt, unsere getrennten Körper nur ein Missverständnis. Solange es Tag ist, glaube ich das. Erst nachts sehe ich mir die Bilder an. Denke und fühle in Feindbildern. Es braucht nur ein wenig Müdigkeit, um allen Glauben aufzuheben. Ich kann nur hoffen, immer wieder wach zu werden.
Wir werden mehrmals gewarnt, das Update nicht während der Arbeitszeit zu installieren. Es könne zu mehrstündigen Zeiteinbußen kommen. Eine kleinteilige Handlungsanweisung will uns davor bewahren, gängige Fehler zu machen, Daten zu verlieren, untätig herumzusitzen. Dann meldet die IT Verzögerungen, das Update wird einige Wochen lang nicht bereitgestellt und gerät in Vergessenheit.
Heute sitze ich versonnen an einer Analyse und klicke ein paar Systemmeldungen weg, wenige Sekunden bevor sich der PC bei mir für das Okay zum Update bedankt und mich verabschiedet.
Es ist ein sonniger Tag. Ich gehe auf den Dachgarten.
Der Dachgarten des Instituts ist übersät mit bodendeckenden Sukkulenten, Moos und dem Flor der jeweiligen Jahreszeit. Außer mir ist niemand hier. Ich weiß nicht warum. Der Brandschutzbeauftragte hat den Aufenthalt ausdrücklich genehmigt.
An die aufgewärmte Gebäudewand gelehnt schließe ich die Augen, spüre keinen Hunger oder den Impuls, etwas zu bedenken. Ich rutsche in die totale Absichtslosigkeit. Das gelingt mir nicht oft. Ich betrachte es nicht als Verdienst, wenn es eintritt. Aus dem Lüftungsschacht ist ein stetes sanftes Rauschen zu vernehmen. Weiter unten der Verkehr.
Dieses Gebäude wird bald weg sein. Die Wand an der ich lehne und alles dahinter, darunter und darin. Es ist ein Jammer, denn es ist ein gutes Haus.
Gebaut in den 70’ern, voller Fehler, voller Ineffizienz. Teppiche in den Fluren und Teppiche in den Büros. Verschwenderisch in der Bemessung und protzend, wo es niemand sieht. Als sollte jede Schreibkraft sich als Herrin ihres Korridors fühlen. Beinfreiheit und lederne Freischwinger, Sitzgruppen und Einzelzimmer, dunkles Holz und dunkler Stein vor schwer ins Schloss fallenden Türen, dahinter Archive und verschwiegene Lichthöfe.
Der Abriss kommt. Er ist beschlossen, bezahlt und durch alle Instanzen gegangen. Er verzögert sich zwar und gibt mir Gelegenheit hier noch eine Weile rumzustehen, doch kommen wird er, wie das Update, auch wenn die Stunde, in der es passiert, eine Überraschung ist. Ein bisschen Verblüffung. Der Abend, an dem wir tatsächlich die Mäntel vom Haken nehmen und gehen.
Über der gesamten Länge der Hackerbrücke sitzen Jugendliche auf den genieteten Querstreben der Eisenträger, lassen ihre Beine in Richtung der Gleise hängen, Alkohol aus Plastikbechern, am Boden liegt zerbrochenes Glas, aber niemand hat es böse gemeint. Die Stimmung ist insgesamt gut, das geglückte Erklettern der Eisenstreben, der Akt des sich hinauf Schwingens und von helfenden Händen hochgezogen Werdens, hat bereits einiges an Berührung mit sich gebracht.
Vor einigen Wochen bin ich umgezogen. Mitten im Lockdown. Mitten im Schneetreiben. Ich bin in eine Gegend gezogen, in der nicht viele Menschen leben. Im Winter ist es hier ab 17 Uhr finster. Wenn es schneit, ist kein Weg und keine Straße zu erkennen. Nachts trete ich vor das Haus und pflüge zu den weißen Hügeln. Nichts bewegt sich. Nichts mit menschlichem Auge Auszumachendes. Es ist zu windig, um länger auszuharren.
Dann ist es Februar. Die Wiese dampft.
Wo im Vorjahr Heu geerntet wurde, liegen nass und gebogen die gelben Halme. Dazwischen steht, direkt auf dem Feld, ohne Versteck und leuchtend weiß; ein Hermelin. Ich habe lange darauf gewartet, an einem Ort zu leben, wo so etwas existiert.
Geträumt, dass ich Alexej Nawalny in einer Altbauwohnung verstecke, die ich extra zu diesem Zweck angemietet habe. Aufwendige Sicherheitsvorkehrungen (Schlüssel, Code, Klopfzeichen) werden von mir getroffen.
Dummerweise verschaffen sich ein Dutzend Feiernde aus dem Erdgeschoss Zugang zu der Wohnung. Sie finden die Idee, jemanden zu verstecken, witzig, wollen auch behilflich sein, verkennen aber den Ernst der Lage.
Als Alexej Nawalny eintrifft, überreisst er mit einem Blick die Situation und sagt: Hier kann ich nicht bleiben.
ich weiß nicht, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Ich nehme dich als beides wahr. Von meinem Platz in der Bibliothek sehe ich zu dir hinüber ins Geschichtsregal. Du machst deine Pause hier, nehme ich an. Der orangefarbene Rucksack zu deinen Füßen ist zusammengesackt, während du, versunken wie ich es selbst nicht sein kann, deinen Blick nicht hebst vom Buch in deinem Schoß. Du schläfst nicht. Das Seitenblättern ist hörbar, selbst als jemand einen Gang weiter verbotenerweise telefoniert. Ich kann den Titel deines Buchs nicht erkennen, weiß aber, dass es sich um den 1. Weltkrieg handelt, in den du dich vertiefst. Die Umschläge der Bücher sind mir vertraut, ich kenne alle himmelblauen, zumindest vom Sehen. Lass dich nicht stören. Auch nicht von mir. Sie sei dein Ruhekissen, diese Bibliothek, Zuflucht vor den Straßen der Stadt, und Beschreibung der Kriege, die hinter uns liegen.
Ich mache eine Verwandlung zur Baustellenbeobachterin und an Baustellen Herumsteherin durch. Kann mir vorstellen, mich demnächst zu einer Gruppe Männer zu gesellen und ihnen die Baustelle zu erklären.
Die Kiefernwälder hinterm Strand sind ausgeräumt von Bewegung, vor zugenagelten Campinghütten liegen tausend Zapfen auf dem Sand. Ich steige die Anhöhe hinauf, gehe auf die Lichtung zu; trockener Grasbewuchs, noch mehr Sand. Zwischen den Zapfen auf dem Rücken liegend mache ich kein Foto, weil es nicht wiedergeben wird, was hier vor sich geht. Licht in den Kronen, Wärme am Boden gestaut. Es ist leise.
Das Meer - laut und lächerlich groß.
Ich bin in der Nähe eines Waldes aufgewachsen.
Der Versuch das Meer in mir unterzubringen misslingt, ich schaue immer wieder hin, verstehe es aber nicht. Ich habe kein eindeutiges Gefühl zu dieser Menge Wasser. Automatisch entferne ich mich davon und gehe zu den Kiefern.
Eine wohlgenährte Hummel lässt sich auf mir nieder, rund und pelzig.
Kiefern sind im Gegensatz zu Tannen von solcher Erhebung. Der leichte Bewuchs beginnt erst sehr hoch, im oberen Viertel des Baumes. Bis dorthin steht der rote Stamm ohne Astwerk. Lichtbahnen fallen ungestört bis runter auf mich, die ich an der Wurzel liege.
Kiefern. Es ist doch klar, dass bei solchen Bäumen andere Menschen herauskommen, als in den Tannengrüften Süddeutschlands.
Der Waldboden sinkt unter meinen Schritten ab und stellt sich hinter mir wieder auf. Hier deckt kein nasses, verschleimtes Laub die Erde unter Farnen.
Das ist ein Wald auf einem Strand.
Bei Einbruch der Dunkelheit die Diskothek Hyperdome. Keiner feiert. Ob überhaupt noch Strom fließt? Schatten vor den geschlossenen Türen. Ein leerer Parkplatz. Der Himmel kippt, Wolken schieben sich rein, Horizontfiktion.
Die Freundin und ich laufen hier herum. Es ist alles gerade so durcheinander in ihr. In mir gerade nicht. Das kann beim nächsten Mal anders sein, wenn wir uns sehen.
Sandbänke, die Freundin, ich.
Wir sind rosa. Dann gelb. Pastellgekörntes Land. Winter, der sich zum Frühjahr wendet. Ich kann es jedes Mal kaum glauben, dass nach Kälte und Monaten der Nässe doch alles wieder gut wird, etwas kommt, dass all die große Luft um uns mit unaussprechlicher Wärme füllt. Das ist Verlässlichkeit, die kein Mensch einem anderen sein kann.
Ein Gestirn werden. 4,6 Milliarden Jahre lang jeden Tag brennen.
Am frühen Morgen rauche ich, allein, wie man hier immer ist, am Bahnhof eine dünne Zigarette. Huste. Nichts mehr gewöhnt.
Als der Hustenanfall vorbei ist und ich mich aufrichte stehe ich geblendet von Licht, das den Hang herunter auf mich zufließt - ein vom Hang auf mich herunter fließendes Licht, gelb aufgeladen in der Feuchtigkeit des Nebels, Phänomen, wie es eine Seele immer erleben will, aber fast nie erleben darf, hier passiert es einfach, es passiert wirklich, ich denke mir das nicht aus, es passiert außerhalb meiner Gedanken.
Der Zug kommt.
Nach Tagen, während derer ich in Kilometern gedacht und geschaut habe zurück in die Zudringlichkeit.
Noch nicht. Noch bin ich in der Ebene, sehe aus dem Zugfenster Füchsen und ausgewachsenen Vögeln beim morgendlichen Ablaufen ihres Reviers zu. Ein, zwei Stunden wird das so gehen, durch blasse Landschaften werde ich fahren, frühstücken, lesen, Kahnemann, und mich langsam, langsam mit jedem nächsten Halt, den schon nicht mehr in großer Distanz liegenden Orten annähern, den zusteigenden Jacken, Mündern und Geräten, den Menschen, die reinpendeln, die davon reden, vom Pendeln, und deren Aussagen ich so gern noch drei Monate missen möchte.
Mir fällt ein, wie zutreffend die Freundin gestern auf dem Rückweg von der verlassenen Diskothek von Cliffhängerfrauen gesprochen hat, Frauen Ende Dreißig, die sich noch mit einer Hand am Fels der potentiell möglichen Mutterschaft halten, und wie kurz darauf sehr schnell alle Entwürfe auf die finale Option der Lebensfortführung zusammen schnellen. Und das bleibt dann so.